Cities of translators Montréal Die Literatur der Innu in Québec

Die Literatur der Innu in Québec

Überleben in den Worten

Zwangsassimilierung in Internaten
Literatur gegen die historische Diskriminierung
Literatur öffnet das Bewusstsein
„Wir sind anders als die Weißen!“
Einblick in die Seelenwelt einer jungen Innu
„Ich kann nur die sein, die ich bin!“

Joséphine Bacon, Copyright: Benoît Rochon

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„Wenn wir in unserer Sprache schreiben, dann geht es um die eigene Identität und Kultur. Denn Sprache formt dein Denken und deine Träume, oder?“ Joséphine Bacon

Joséphine Bacon ist die Grande Dame der autochthonen Literatur Québecs. Die preisgekrönte Dichterin und Erzählerin war eine der ersten, die in der Sprache der Innu vom Schicksal ihres Volkes erzählte. Joséphine Bacon wurde 1947 als Nomadin geboren, wuchs ab dem fünften Lebensjahr unter der Obhut der Kirche auf und zog Ende der Sechzigerjahre in die Millionenmetropole Montréal. Als Übersetzerin eines Teams von Anthropologen besuchte sie später die Reservate im Hinterland Québecs und schrieb erstmals auf, was ihr die traditionell lebenden Innu erzählten.

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„Das standarisierte, geschriebene Innu-Aimun gibt es höchstens seit 20 Jahren. Unsere Kultur baut auf mündlichen Traditionen auf. Meine ersten Gedichte habe ich auf Innu-Aimun geschrieben, weil sie von meinen Vorfahren inspiriert waren. Ich habe sie für sie geschrieben, ihre Sprache ist meine Poesie. Was sie mir sagten, war Poesie.“ Joséphine Bacon

Wir treffen Joséphine in ihrem Stammcafé in Montréal. Am Vortag hat die Dreiundsiebzigjährige für ihren jüngst erschienenen, zweisprachigen Gedichtband „Uiesh / Quelque part – Irgendwo“ den Preis der Buchhändler Québecs erhalten.

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„Grand-mère outarde
Tu me regardes
Je te regarde
Tu es perdue
Pareille à moi
Quand je suis dans la ville
Je n’entends plus la rivière“

Lesung Joséphine Bacon aus „Uiesh“ (Innu-Aimun/ Französisch)

 

Zwangsassimilierung in Internaten

Joséphine Bacon erinnert sich, wie sie im Alter von fünf Jahren von ihren Eltern getrennt und zur Zwangsassimilation in eines der staatlichen Internate verbracht wurde. Über 150 000 autochthone Kinder wurden in Kanada ihren Eltern entrissen. Sie wurden äußerst schlecht versorgt. Bis zur Schließung des letzten Internats 1996 kam es zu schweren seelischen, körperlichen und auch sexuellen Misshandlungen durch Lehrer, die zum Großteil aus dem Klerus rekrutiert wurden. 4000 Kinder starben in den Zwangsschulen, nicht wenige von ihnen begingen Selbstmord.

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„Man hat uns Kinder gezwungen, in die Internate zu gehen. Einerseits, um lesen und schreiben zu lernen. Aber vor allem hatte die Regierung die Absicht, die Kinder aus den traditionellen Gebieten umzusiedeln und diese Stück für Stück zu entvölkern. So erhielten die Weißen leichteren Zugang zu den natürlichen Ressourcen, sie konnten Kupferminen und Wasserkraftwerke bauen und die Wälder roden. Die sind damit reich geworden. Es ging keineswegs nur um Bildung!“ Joséphine Bacon

Die Erfahrung der Entfremdung und Erniedrigung, die aktive Unterdrückung der autochthonen Kulturen sind Ursprung der bis heute virulenten prekären Lebensbedingungen vieler Ureinwohner. Ein sozio-kultureller Graben trennt bis heute die Abkömmlinge der europäischen Siedler von der indigenen Bevölkerung. Können das Literatur und Sprache ändern? Bis heute kehrt Joséphine Bacon regelmäßig in ihre Stammes-Heimat 1000 Kilometer nördlich von Montreal zurück, um die Innu-Sprache Innu-Aimun an die junge Generation zu vermittelt und damit die Verbindung zu den kulturellen Wurzeln ihrer Vorfahren zu stärken.

In ihrer jüngsten Kurzgeschichte „Nashtash geht in die Stadt“ erzählt Bacon vom Schicksal einer jungen Innu-Frau. Nashtash verlässt ihr Reservat, wo das Leben von Perspektivlosigkeit, von Alkohol und Armut geprägt ist, und versucht sich in der modernen Großstadt. In einer Gruppe von Herumtreibern verdient die junge Innu zunächst ihr Geld, indem sie an Ampelkreuzungen Autoscheiben putzt, und schließlich verdingt sich Nashtash als Tänzerin in einem Nachtclub. Das Schicksal von Joséphine Bacons Protagonistin spiegelt die Lebensrealität vieler Innu.

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„Bis heute stecken die jungen Leute in einem Dilemma zwischen der Identität ihrer Eltern- und Großeltern und dem modernen Leben in der Stadt. Auch in den Reservaten fühlen sie sich nicht wirklich zuhause. Nashtash ist auf der Suche nach ihrem Glück, nach einem anderen Leben und letztlich nach ihrer Identität. [...] Sie musste diese Erfahrung in der Stadt machen, um in ihrer Persönlichkeit zu wachsen. Sie erkennt, dass ihre Wurzeln im Reservat liegen und dass das Leben in der Stadt nur eine Illusion, ein Trugbild ist. Das Leben im Reservat ist sicherlich nicht perfekt für sie, aber das in der Stadt ist es noch weniger.“ Joséphine Bacon

 

Literatur gegen die historische Diskriminierung

Joséphine Bacons Geschichte von Nastash ist eine von zahlreichen Erzählungen, die sich gegenwärtig mit der Lage der autochthonen Bewohner Québecs auseinandersetzen. Naomi Fontaine, Melissa Mollen Dupuis, Natasha Kanapé Fontaine, Jean Michel – gerade die Autorinnen und Autoren der Innu sind in den vergangenen Jahren mit Gedichten, Romanen und Erzählungen über die lang verdrängte Vergangenheit hervorgetreten. Sie handeln von den sozialen Verheerungen in den Reservaten, von den Identitätskonflikten der Innu zwischen ihrem kulturellen Erbe als Nomadenvolk und dem modernen Großstadtleben. Zugleich formulieren sie den wachsenden Widerstand gegen eine historisch geprägte Diskriminierung.

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„Unsere Beziehungen zu den Ureinwohnern sind bis heute kolonialistisch geprägt. Wir fügen ihnen genau das zu, was wir selbst erdulden mussten. Wir haben lange um unsere Eigenständigkeit gekämpft. Und jetzt wundern wir uns, dass die Autochthonen genau dasselbe fordern. Das ist die große Québecer Schizophrenie!“ Jérémy Laniel

Meint etwa der Literaturwissenschaftler, Journalist und Buchhändler Jérémy Laniel.

Die Abgrenzungsbemühungen der mehrheitlich frankophonen Provinz Québec im mehrheitlich anglophonen Kanada überlagert die Wahrnehmung anderer Minderheitenkulturen, die der indigenen Völker. Laniel beobachtet die Entwicklungen in seiner Heimat sehr genau. Während seines Seminars über Gegenwartsliteratur in Québec redet er Klartext.

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„Interesse an autochthoner Literatur in Québec? Gibt es seit höchstens zehn Jahren. Dass Leute massenweise in die Buchläden strömen, um etwa Naomi Fontaines Roman ‚Manikanetish‘ zu kaufen, wäre früher undenkbar gewesen. Auch Joséphine Bacon war früher eher als Dokumentaristin bekannt denn als autochthone Dichterin. Davor gab es höchstens mal das eine oder andere Buch, das auf ein, zwei Seiten die Lebensbedingungen der Ureinwohner abhandelte.“ Jérémy Laniel

Buchhändler und Literaturwissenschaftler berichten, dass das Interesse an den Geschichten der Autochthonen seit einigen Jahren rasant wächst. Mittlerweile ist die Literatur der Québecer Ureinwohner fester Bestandteil des schulischen und akademischen Literaturkanons in Kanada. Kürzlich fand im Wendake-Reservat in Québec-Stadt bereits die achte Ausgabe einer spezialisierten Buchmesse für autochthone Literatur statt.

 

Literatur öffnet das Bewusstsein

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„Die Literatur ist eines der wenigen Ausdrucksmittel, die uns noch bleibt. So sind wir öffentlich sichtbar, wir existieren. Ich denke, wir Autochthonen müssen sichtbar bleiben, und ich trage auf meine Weise dazu bei. Ich schreibe Bücher“ Michel Jean

Meint der Journalist und Autor Michel Jean, der sich selbst zu den assimilierten Innu zählt, aber dennoch seine Wurzeln nicht vergessen will. Bereits 2013 veröffentlichte Jean den ersten Roman über die Zwangspensionate für die kulturelle Assimilierung autochthoner Kinder, die erst 1996 abgeschafft wurden und auch danach ein Tabu blieben.

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„Meine Verlegerin fragte mich damals, ob das wohl eine gute Idee sei. Das war ja noch bevor die Wahrheitskommission 2016 die Untersuchung des Unrechts gegen die Autochthonen aufnahm. Die Zeit war noch nicht reif für das Thema. Die Zeiten haben sich seitdem rasant geändert. Aber wie weit das gehen wird, ist  nicht sicher. Wenn es etwa um Verhandlungen über die Jagdgenehmigungen in den Regionen im Norden geht, scheint plötzlich wieder der alte Rassismus auf. Sobald es um konkrete Rechte der Autochthonen geht, meint man, die Zeit sei stehengeblieben. Zumindest freue ich mich darüber, dass die Literatur bereits eine Öffnung des Bewusstseins bewirkt hat. Das ist die Magie der Literatur.“ Michel Jean

Unlängst hat Michel Jean den viel beachteten Erzählband „Amun“, „Versammlung“, herausgegeben, der im Herbst 2020 auch auf Deutsch vorliegen wird. Die Aktivistin und Autorin Melissa Mollen Dupuis erzählt darin vom „Memekueshu“, einer Fantasie-Figur der autochthonen Spiritualität. Das traditionelle kulturelle Erebe und die moderne Gegenwart der Innu schließen sich für sie keineswegs aus.

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„Ich erzähle von uns Autochthonen, von unseren Geistern und Fantasiefiguren. Diese Märchenfiguren sind bisher noch nicht von der großen Literatur geadelt worden, aber sie sind Teil unserer Geschichte. Wir müssen sie aufschreiben, bevor sie verschwinden. Ich bin eine autochthone Frau des 21. Jahrhunderts, und die Legenden meiner Vorfahren sind noch immer Teil meines Bewusstseins.“

„Wir sind anders als die Weißen!“

Neben Melissa Mollen Dupuis ist im Sammelband „Amun“ auch die bekannteste der jungen Innu-Autorinnen vertreten ist, Naomi Fontaine. Ihr mittlerweile verfilmter Debütroman „Kuessipan“ über ihre Kindheit im Reservat machte sie mit 23 Jahren zum Shooting Star der Québecer Literaturszene. Mit sieben Jahren zog Fontaine mit ihrer Mutter aus dem Reservat Uashat nach Québec-Stadt und kehrte schließlich als Lehrerin in ihr Heimat-Reservat zurück, 1000 Kilometer nördlich von Montreal, dort wo der Sankt-Lorenz Strom in den Atlantik mündet. Über ihre Arbeit mit den Jugendlichen im Reservat schrieb Naomi Fontaine ihren zweiten, auch ins Deutsche übersetze Roman „Manikanetish“.

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„Ich wünsche mir, dass auch die Innu meine Bücher lesen und dabei merken, dass wir anders sind als die Weißen, und das ist auch gut so. Wir müssen nicht sein wie sie, wir haben eine andere Geschichte und eine andere Kultur. Wir sehen die Welt anders, wir gehen anders mit der Zeit um.“ Naomi Fontaine

 

Einblick in die Seelenwelt einer jungen Innu

Die Rückkehr in ihre Geburtsstadt wirkte auf Naomi Fontaine, so sagt sie, wie eine kulturelle Erweckung. In „Kleine Schule der großen Hoffnung“ beschreibt sie, wie sie die teilweise verstörende soziale Realität im Reservat als Lehrerin Stück für Stück kennenlernt. Der Suizid einer ehemaligen Schülerin oder die ungewollte Schwangerschaft einer Minderjährigen gehören dazu. Aber eben auch die Entdeckung des literarischen Talents einer unscheinbaren Schülerin, das Engagement schwieriger Schüler im Theaterworkshop. Naomi Fontaines in prägnanter Sprache gehaltenes Buch ist ein Entwicklungsroman. Er gibt Einblick in die Seelenwelt einer jungen Innu auf der Suche nach ihrem Platz zwischen zwei Kulturen – der des weißen Québecs und der ihrer Vorfahren. Der soziale Zusammenhalt, das Gemeinschaftsleben und auch das Teilen von Hab und Gut sind nur einige der Werte, deren Bedeutung Naomi Fontaine in Uashat entdeckt hat. Sie sei in ihr Reservat zurückgekehrt mit der Absicht, ihren Schülern bei der Suche nach sich selbst zu helfen, sagt Fontaine. Und dabei habe sie sich selbst gefunden.

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„Ich selbst hatte das Vorurteil, dass wir uns für unsere Kultur schämen. Das galt eher für mich selbst, weil ich in Québec-Stadt als Teil einer Minderheit aufgewachsen bin. Meine Kultur wurde dort nicht geschätzt. Die Jugendlichen heute im Reservat leben unsere Traditionen mit mehr Stolz als meine Generation.“ Naomi Fontaine

Wie die Romane von Naomi Fontaine erscheinen auch die Gedichte von Joséphine Bacon beim Pionier und geheimen Chefkoordinator der autochthonen Literatur in Québec, Rodney Saint-Eloi. 2003 gründete der gebürtige Haitianer den  Verlag „Mémoire d’encrier – Das Gedächtnis im Tintenfass“, der zunächst auf die Literatur der zahlreichen Exil-Haitianer spezialisiert war. Inzwischen hat Saint-Eloi seinen Fokus auf andere Opfergruppen der Kolonisierung geweitet. Die gegenwärtige Präsenz der Innu-Literatur auf dem Buchmarkt sieht der eigenwillige Verleger wohlwollend und kritisch zugleich.

 

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„Ich weiß nicht, ob es ein echtes Interesse am Schicksal der Innu gibt. Ich weiß, dass es eine Schuld gibt und eine Geschichte, die nie erzählt wurde. Reservate waren Orte der absoluten Rechtlosigkeit. Menschen, die man in Reservate steckt, haben nicht das Recht, ihre Geschichte zu erzählen, denn das würde ja beweisen, dass sie Teil der Menschheit sind. Bis in die sechziger Jahre war für die Ureinwohner Kanadas die Einwanderungsbehörde zuständig! Man hat diese Menschen als „Wilde“ bezeichnet.“ Rodney Saint-Eloi

Vor wenigen Wochen hat Rodney Saint-Eloi das lange vergriffene Grundlagenwerk der autochthonen Literatur neu ediert. 1976 veröffentlichte die Aktivistin An Antane Kapesh das erste und für viele Jahrzehnte letzte gedruckte Buch einer Ureinwohnerin.

 

„Ich kann nur die sein, die ich bin!“

Es ist eine bittere Anklage unter dem Titel „Ich bin eine verdammte Wilde“. Das Vorwort zur Neuauflage dieser postkolonialen Streitschrift hat Naomi Fontaine geschrieben. Fontaine versteht die sechzig Jahre vor ihr geborene An Antane Kapesh als Impulsgeberin des neuen kulturellen Selbstbewusstseins der Innu.

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„Wir Innu haben es nicht eilig, wir sehen das Leben nicht als Abfolge von Aufgaben und Pflichten. Für uns verläuft das Leben nicht in Bahnen, sondern in Kreisen. Wir haben eine andere Vorstellungswelt, und wir haben eine andere Sprache. Das möchte ich in meinen Büchern zeigen, den anderen Innu und auch mir selbst! Ich bin keine weiße Québecerin, und das ist auch gut so. Ich kann nur die sein, die ich bin!“ Naomi Fontaine

Auch Naomi Fontaines autobiographischer Bericht „Die kleine Schule der großen Hoffnung“ zeigt, wie die autochthonen Literaten Québecs ihren Ort suchen zwischen den eigenen Traditionen und denen der kanadischen Mehrheitsgesellschaft. Der Ausdruck dieser hybriden Mentalität zwischen spirituellem Animismus und Rationalität, zwischen archaischer Tradition und postkolonialer Gegenwart ist ein markantes Merkmal vieler Innu-Texte. Dass sich seit einigen Jahren immer mehr autochthone Autoren zu Wort melden, hat auch eine historische Dimension: das geschriebene Wort galt vielen Innu bisher als trügerisch, denn der historische Landraub durch die Kolonisatoren basierte auf irreführenden schriftlichen Verträgen. Dieser historische Kontext verleiht der Literatur der Innu eine zusätzliche kulturgeschichtliche Bedeutung.

 

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