Cities of translators Montréal „Montréal – Ville Traductrice”

„Montréal – Ville Traductrice”

There is a crack in everything, that’s how the light gets in.
– Leonard Cohen, Anthem

Montréal, Geburtsort von Leonard Cohen und größte Stadt der kanadischen Provinz Québec, ist eine Metropole voller Gegensätze und unterschiedlicher Lebensrealitäten. Auch wenn diese Aussage wie ein Gemeinplatz klingt, weil sie im Prinzip auf alle größeren Städte zutrifft, gilt sie für Montréal in besonderem Maße: eine frankophone Metropole im englischsprachigen Nordamerika, eine europäisch geprägte Stadt auf indigenem Territorium, ein Magnet für Einwander·innen aus aller Welt.

Nach einer ersten Station in Kolkata, Indien, setzte TOLEDO sein Programm „Cities of Translators – Expeditionen in die Übersetzerszenen der Welt“ im Mai 2019 mit einer Reise nach Montréal fort – auch mit Blick auf den kanadischen Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2020. Ich war „Expeditionsleiterin“ und habe das fünftägige Programm unter dem Titel „Montréal – Ville traductrice“ kuratiert, war verantwortlich für das Budget und die Organisation im Vorfeld (Räume anmieten, Auftretende einladen, Catering besorgen, Werbung in den Sozialen Medien machen, Verträge schließen, Einladungen verschicken) sowie für die Konzeption von drei öffentlichen Veranstaltungen.1 Vor Ort begleitete ich die Gruppe fünf Tage lang durch die Stadt.

Wie kam es dazu? Seit 2010 lebe ich halb in Berlin, halb in Kanada, zunächst eine Weile in Montréal, mittlerweile in Gatineau, 200 Kilometer weiter westlich, direkt bei Ottawa. Vor meinem Umzug nach Kanada hatte ich bereits seit sechs Jahren als literarische Übersetzerin gearbeitet, aber bis dahin nur Autor·innen aus Frankreich übersetzt. Als ich 2009 zum ersten Mal nach Montréal kam, begann ich mich – déformation professionnelle oblige – für die dortige Literatur zu interessieren. Mittlerweile habe ich zehn Romane aus Québec ins Deutsche übertragen und mehrere Lesereisen mit québecer Autor·innen durch Deutschland unternommen – heute liegt ein Schwerpunkt meiner Arbeit auf frankokanadischer Literatur.

Montréal ist in vielerlei Hinsicht eine „Stadt der Übersetzung“. Zum Beispiel leben nirgendwo sonst in Kanada so viele literarische Übersetzer·innen. Und auch die ATTLC-LTAC2, der kanadische Verband der literarischen Übersetzer·innen sowie die meisten québecer Verlage haben hier ihren Sitz.

Eingebettet in das Montréal-Programm war das von Frank Heibert geleitete DÜF-Seminar für deutschsprachige Übersetzer·innen québecfranzösischer Literatur, an dem Anabelle Assaf, Till Bardoux, Nicola Denis, Jennifer Dummer, Michael von Killisch-Horn und Katrin Segerer und ich selbst teilnahmen.3 Von Montag bis Freitag diskutierten wir über die besonderen Herausforderungen des Québecfranzösischen und der québecer Literatur.

Zur Gruppe der Übersetzer·innen stießen am Donnerstag die Journalist·innen Jenny Friedrich-Freksa (Chefredakteurin der Zeitschrift Kulturaustausch), Sieglinde Geisel (freiberufliche Journalistin und Gründerin von tell-review.de), Anja Kapunkt (Fotografin und literarische Übersetzerin), Matthias Weichelt (Chefredakteur von Sinn und Form) und Cornelius Wüllenkemper (freiberuflicher Journalist). Mitgereist waren auch Florian Höllerer, der Leiter des Literarischen Colloquiums Berlin, und Aurélie Maurin, die Projektleiterin von TOLEDO und Initiatorin von „Cities of Translators“.

Für alle, die bereit waren, dem Jetlag zu trotzen, gab es gleich am Donnerstagabend die Gelegenheit, die Gala des Prix des Libraires zu besuchen, ein großes Fest im Montréaler Club Soda. Dieser „Buchhändler·innen-Preis“ ist einer der wichtigsten québecer Literaturpreise und wird in den Sparten Roman/Erzählung, Lyrik, Essay, Comic und Kinder- und Jugendbuch vergeben.

Am Freitagvormittag „hospitierten“ die Journalist·innen im Übersetzungsworkshop, um anhand konkreter Texte nicht nur einen ersten Einblick in die québecer Literatur zu bekommen, sondern auch ein paar der Probleme kennenzulernen, mit denen sich literarische Übersetzer·innen in ihrem Berufsalltag herumschlagen. Am Nachmittag standen zwei Begegnungen mit dem Buchhändler und Literaturkritiker Jérémy Laniel auf dem Programm, der uns erst einen Vortrag zu den historischen und stilistischen Aspekten des Québecfranzösischen in der Literatur hielt und in einem zweiten Teil die wichtigsten Literaturzeitschriften Québecs vorstellte.

Wie soll man eine Millionen-Stadt in fünf Tagen kennenlernen? Wohin führt man Leute, die zum ersten Mal hier sind, mit wem bringt man sie zusammen? Mir war es ein Anliegen, dass die Teilnehmer·innen nicht nur den kulturellen Mainstream kennenlernten, sondern auch mit marginalisierten Communities in Berührung kamen.

Untergebracht war unsere Gruppe in einem Hotel in der Innenstadt, der „centre ville“ bzw. „downtown“, einer Gegend, die hauptsächlich aus Glas- und Spiegeltürmen sowie Büros und Geschäften besteht. Leben tut hier (fast) niemand. Die Wohnviertel liegen an den Rändern, begrenzt vom Sankt-Lorenz-Strom im Süden und einem Seitenarm des Flusses im Norden – daher spricht man auch von der „Île de Montréal“, der Insel von Montréal. Und dann ist da natürlich noch der Mont Royal, der „königliche Berg“, nach dem die Stadt benannt ist. Er überragt die innenstadtnahen Viertel mit stolzen 233 Metern, weshalb böse Zungen auch von einem „Hügel“ sprechen.

Vor der Gründung der Stadt Montréal im Jahr 1642 durch eine Gruppe französischer Siedler·innen lebten hier verschiedene indigene Bevölkerungen. Zwei davon erheben heute Ansprüche auf das Land, die Kanien’kehá:ka (deren koloniale Bezeichnung „Mohawk“ lautet) und die Anishinaabeg (in kolonialer Sprache „Algonquin“), weil das Gebiet laut mündlichen Überlieferungen zum Territorium ihrer Ahnen gehört.4

Nach der von Frankreich ausgehenden Kolonisierung im 17. Jahrhundert wechselte die Stadt 1760 in britischen Besitz, wobei die Bevölkerung bis Mitte des 19. Jahrhunderts mehrheitlich französischsprachig blieb. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zogen dann Einwander·innen aus England, Schottland, Irland und den USA in erheblichem Umfang hinzu. So entstanden in der Stadt Sprachgrenzen, Viertel, in denen entweder Englisch oder Französisch gesprochen wurde – eine geographische Teilung, die heute noch spürbar ist: Der Westen Montréals ist tendenziell englischsprachig (und reicher), der Osten französischsprachig (und ärmer). Die Sprachgrenze verläuft dabei etwa entlang des von Nord nach Süd führenden Boulevards Saint-Laurent.

Durch vermehrte Einwanderung im Zuge der industriellen Revolution entstanden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Viertel wie das „Quartier chinois“ („Chinatown“) und „La Petite Italie“ („Little Italy“). Aus Osteuropa wanderten nach anhaltenden Pogromen außerdem zahlreiche Jüdinnen und Juden ein, gründeten Synagogen, eröffneten Geschäfte. Nach dem zweiten Weltkrieg migrierten dann gut 25.000 jüdische Holocaust-Überlebende nach Montréal, die nach Israel und New York drittgrößte Community aus Shoa-Überlebenden, und nicht wenige dieser Menschen waren deutsche Muttersprachler·innen. 2011 erschien im Wunderhorn-Verlag ein Buch mit einigen ihrer Lebensgeschichten.

In Deutschland ist dieser Aspekt der Montréaler Stadtgeschichte kaum bekannt, weshalb ich Pierre Anctil einlud, am Samstag mit uns einen Spaziergang entlang des Boulevards Saint-Laurent zu unternehmen. Pierre ist Historiker an der Universität Ottawa, der Spezialist für die jüdische Geschichte Montréals und Kanadas wichtigster Übersetzer jiddischer Literatur ins Französische.5

Den Samstagnachmittag und -abend verbrachte unsere Gruppe im Goethe-Institut Montréal. Zunächst hielt uns Madeleine Stratfort, literarische Übersetzerin und Professorin an der Université du Québec en Outaouais, einen Vortrag über Mehr- und Vielsprachigkeit in literarischen Texten aus Québec. Abends fand im Goethe-Institut die erste von insgesamt drei öffentlichen Veranstaltungen statt: ein Podiumsgespräch6, bei dem wir uns über die Arbeitsbedingungen von literarischen Übersetzer·innen in Deutschland und Québec austauschten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten besprachen und überlegten, was wir voneinander lernen können. Der Saal war brechend voll, ständig mussten weitere Stühle hereingetragen werden.

Im Anschluss an das Podiumsgespräch stellte ich zusammen mit Rhonda Mullins das Format des „Gläsernen Übersetzens“7 vor, das in Montréal noch ganz unbekannt war. Auf Französisch nannten wir diesen Programmpunkt „Regard par-dessus l’épaule d’une traductrice littéraire“. Rhonda Mullins ist die Übersetzerin von Jocelyne Saucier ins Englische, eine Autorin, deren Romane ich ins Deutsche übertrage. Jocelyne hatte uns für den Abend dankenswerterweise einen Auszug aus ihrem neuen, damals noch unveröffentlichten Roman überlassen. Der französische Originaltext lag als Handout bereit, mein Laptopbildschirm wurde an die Wand projiziert. Und dann übersetzten Rhonda und ich live und in Echtzeit Satz für Satz abwechselnd ins Englische und ins Deutsche – unter tatkräftiger Mitwirkung des Publikums. Es entstand eine lebhafte Diskussion, bei der sehr anschaulich wurde, welche Gedankenprozesse beim literarischen Übersetzen – normalerweise stumm im eigenen Kopf – ablaufen.

Am Sonntag ging das Programm weiter mit einem Vortrag von Isabelle St-Amand, Dozentin an der Queen’s University in Kingston, Ontario, zum Thema „Indigene Literaturen in Québec“. Begleitet wurde sie von Daniel Sioui, dem Inhaber von Hannenorak, dem einzigen Verlag in Québec, der ausschließlich indigene Autor·innen publiziert. Bei der Vorstellung seines Katalogs wurden Frank Heibert und ich hellhörig: Als Daniel einen Auszug aus den Chroniques de Kitchike – La grande débarque von Louis-Karl Picard-Sioui las, waren wir beide spontan begeistert. Und siehe da: im September 2020, anderthalb Jahre später, ist unsere Übersetzung unter dem Titel Der große Absturz – Stories aus Kitchike  im Secession Verlag erschienen. Darüber hinaus haben wir ein Übersetzungsjournal8 zu unserer Arbeit verfasst.

Zurück nach Montréal: Am Sonntagnachmittag unternahm unsere Gruppe bei schönstem Wetter eine Spritztour: Im typisch nordamerikanischen gelben Schulbus ging es „hoch“ auf den Mont Royal und wieder hinunter auf eine Halbinsel im Sankt-Lorenz-Strom. Eine Stadtführerin von L’Autre Montréal, einem Verein für alternative Stadtgeschichte, begleitete uns.

Am Sonntagabend ging es nahtlos weiter: mit der öffentlichen Abschlusslesung des Übersetzungsworkshop in der Maison des Écrivains, dem Haus der Schriftsteller·innen-Gewerkschaft UNEQ. Die Teilnehmer·innen des Workshops und die dazugeladenen Autor·innen Sophie Bienvenu und David Goudreault stellten Texte vor, diskutierten Übersetzungsschwierigkeiten und lasen kurze Auszüge auf Französisch und noch kürzere auf Deutsch vor (schließlich verstand kaum jemand im Publikum Deutsch). Frank Heibert sorgte als Moderator für die gelungene Dramaturgie des Abends. Beim anschließenden Umtrunk bekamen wir von zahlreichen Zuschauer·innen, vor allem auch von Buchmarkt-Profis, viel Lob für unsere kurzweilige Performance.

Für den Montag hatte ich zu einer Mini-Buchmesse geladen. Im Salon Rouge9 des Monument National, der Nationalen Theaterschule Kanadas, stellten zwölf unabhängige Verlage10 den Teilnehmer·innen ihr Programm und ihre wichtigsten Autor·innen vor. Anschließend wurden im regen Austausch bestehende Kontakte gestärkt und neue geknüpft.

Am Abend fand die dritte und letzte Veranstaltung statt, ein Gespräch zwischen Sherry Simon und Yara El-Ghadban zum Thema „Montréal – Ville en Traduction“ in der Buchhandlung Port de Tête. Hier wurde unter anderem lebhaft darüber diskutiert, wie der Zugang von Autor·innen aus marginalisierten Communities zum Mainstream-Literaturbetrieb verbessert werden kann und welche Rolle Übersetzer·innen bei der Vermittlung von Büchern ins Ausland spielen.

Am Dienstag, unserem vorletztem Tag, führt Sherry Simon, eine in Montréal lebende Übersetzungswissenschaftlerin, uns durch das Mile End. Das ehemalige Arbeiter·innenviertel, in dem heute queere Hipster, frankophone Kulturschaffende, chinesische und polnische Geschäftsinhaber·innen und ultraorthodoxe jüdische Familien Tür an Tür wohnen, ist eines der heterogensten Quartiere Montréals. Auf unserem Spaziergang statteten wir der englischsprachigen Buchhandlung Drawn & Quarterly, die auch Lesungen und Buchvorstellungen veranstaltet und einen eigenen Verlag beherbergt, einen Besuch ab. (Ein paar Häuser weiter hatte ich jahrelang ein kleines WG-Zimmer als meine Montréaler Homebase, daher ist mir das Viertel sehr vertraut.) Zum Abschluss besichtigten wir dann noch den Comic- und Kinderbuch-Verlag La Pastèque in seinem neuen, toll designten Verlagsgebäude.

Nachmittags ging es in den Südwesten der Stadt, den anglophonen Teil, den ich noch fast überhaupt nicht kannte. Dort hat das Institut Culturel Avataq seinen Sitz, ein Kultur- und Begegnungszentrum für Inuit11 aus Québec. Die Inuit leben im polaren Norden von Québec, dem Nunavik. Eine Straßenverbindung zum Süden der Provinz existiert nicht, aller Verkehr läuft per Flugzeug oder Schiff. Ein Großteil der Inuit spricht Inuktitut als Muttersprache, und viele von ihnen haben Englisch als Zweitsprache, weil die Kolonialisierung auf ihrem Territorium zunächst von Großbritannien ausging.12

Nach unserem Abschlussabendessen in einem japanischen Restaurant zogen wir noch um die Häuser und landeten in einer Kneipe mit Live-Musik unweit des Hotels – ein unverhofftes Extra.

Am Mittwoch endete unsere Stadterkundung mit einem Besuch der Maison d’Haïti und der Begegnung mit dem Verleger Rodney Saint-Éloi13 sowie der Autorin Marie-Célie Agnant, die beide aus Haiti stammen und seit Jahrzehnten in Québec leben. Sie gaben uns Einblicke in das kulturelle und literarische Schaffen der haitianischen Community, die in Montréal seit Jahrzehnten sehr lebendig ist.14 Die Maison d’Haïti liegt in Saint-Léonard, einem Stadtteil mit dem höchsten Anteil an Bewohner·innen, die zu Hause eine andere Sprache als Französisch oder Englisch sprechen.

Nach fünf prallvollen Tagen – vielleicht ein wenig zu voll, einige Teilnehmer·innen hätten sich etwas mehr freie Zeit gewünscht, um die Stadt auch auf eigene Faust zu erkunden – reiste „meine“ Gruppe mit lauter Anregungen im Kopf zurück nach Deutschland, und ich blieb mit dem Gefühl zurück, dass ich meine Absicht, die Vielfalt der Lebensrealitäten in Montreal zu zeigen und das Zentrum auch von den Rändern her zu erkunden, tatsächlich verwirklicht hatte.

Besonders freut mich, dass als direkte Folge des Programms mehrere journalistische Beiträge und literarische Veröffentlichungen entstanden sind: ein Interview mit der québecer Autorin und Aktivistin Natasha Kanapé Fontaine in der Zeitschrift Kulturaustausch, mehrere Radiobeitrage15 zu indigenen Literaturen in Québec, die Übersetzung einer Kurzgeschichte der Autorin Naomi Fontaine in der Zeitschrift Sinn und Form und eine zweisprachige Anthologie mit Erzählungen von Autor·innen aus Québec. Eines der Ziele von TOLEDO haben wir also erreicht, nämlich Übersetzer·innen als Akteur·innen im Austausch der Kulturen sichtbar zu machen – sowohl in Montréal als auch in Deutschland. Und ich selbst habe durch diese Erfahrung wahnsinnig viel gelernt!

 

Fußnoten
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