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Jenseits von Original und Kopie.

Die Kulturtechnik der „Antropofagia“ im brasilianischen Modernismus

Wie kann Brasilien zu einem eigenen kulturellen Ausdruck finden, der gleichzeitig national wie modern ist? Wie ist es möglich, eine emanzipierte, postkoloniale Haltung gegenüber den europäischen Avantgardezentren einzunehmen und deren Errungenschaften ebenso in die eigene Kunstproduktion zu integrieren? Diese Fragen waren Ausgangspunkt für den brasilianischen Modernismus, der in den 1920er Jahren in São Paulo initiiert wurde.

Die Stadt erlebte zu dieser Zeit einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, der von der Kaffeeproduktion und der einsetzenden Industrialisierung getragen wurde. Das Bevölkerungswachstum stieg rasant an, was zu einem großen Teil auch durch die hohe Zahl von Einwanderern bedingt wurde. Die Republik, die im Jahr 1889 ausgerufen worden war, hatte sich schließlich außenpolitisch etablieren können, war jedoch durch eine schnelle Aufeinanderfolge von Krisen geprägt. Im Gegensatz zu diesem politischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hatte eine Erneuerung auf kultureller Ebene jedoch kaum stattgefunden. Obwohl die politische Unabhängigkeit bereits im Jahr 1822 erreicht worden war, konstatierten die Intellektuellen des Landes, dass Brasilien weiterhin einem kulturellen Kolonialismus unterworfen sei. Sie kritisierten den dominanten Einfluss europäischer Kultur auf die brasilianische Gesellschaft und beklagten, dass die brasilianischen Kulturschaffenden zumeist immer noch darum bemüht seien, die europäischen Vorbilder zu imitieren und sich in dem Bewusstsein befänden, dass die eigene Kunst nur eine Kopie des Originals sein könne. Der Schriftsteller Oswald de Andrade prangerte diese Situation bereits 1915 in seinem Artikel Em prol de uma pintura nacional [Einer nationalen Malerei zum Besten] an und forderte die Schaffung eines „überlegenen Ausdrucks von Nationalität“ in der Kunst, welche der Lebensrealität und dem Fortschritt des Landes gerecht würde.1

Mit seinem Konzept der Antropofagia [Anthropophagie] entwickelte de Andrade in der Folge eine Kulturtechnik zur Definition einer eigenständigen brasilianischen Identität, die sich explizit im Aufgreifen fremder Kultureinflüsse manifestiert und somit eine xenophobe Haltung ausschließt. Hierbei bezog er sich metaphorisch auf den Kannibalismus: Er forderte dazu auf, sich diejenigen europäischen Einflüsse, die für die eigene Kultur als Bereicherung dienen können, in einem selbstbewussten Akt geistig einzuverleiben, sie mit lokalen Elementen zu vermischen und so ein hybrides Kulturprodukt zu kreieren. De Andrade bediente sich mit seinem Bezug auf die Figur des Anthropophagen2  einer europäischen Erfindung. Bereits in Antike und Mittelalter wurde die Menschenfresserei als Feindbild-Stereotyp auf fremde ‚primitive‘ Völker übertragen, um deren Unmenschlichkeit und Grausamkeit herauszustellen und so eine Distanz zur eigenen ‚zivilisierten‘ Gesellschaft aufzubauen.3 Im Zuge des Kolonialismus konnte der Anthrophagie-Vorwurf daher wirkungsvoll dazu dienen, die Unterwerfung und Versklavung der Bewohner/innen der ‚Neuen Welt‘4 zu legitimieren und die Machtposition der Kolonisatoren zu stärken. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde der Kannibalismus als Hauptcharakteristikum barbarischer Lebensform schließlich prototypisch auf die indigenen Völker Brasiliens übertragen und insbesondere in illustrierten Reiseberichten verbreitet. Diese basierten auf Überlieferungen von Entdeckungsreisenden, die vorgaben, in Brasilien Augenzeugen anthrophager Praktiken gewesen zu sein. Spätestens mit Erscheinen des dritten Bandes der Grands Voyages des Frankfurter Verlegers und Kupferstechers Theodor de Bry 1593 hatte die Vorstellung über die brasilianische Anthropophagie ihre charakteristische Prägung erhalten (Abb. 1). Die hierin abgebildeten Illustrationen übertrafen alle vorangegangenen in Detailgenauigkeit und Grausamkeit bei Weitem.5

Abb.1. Kolorierter Kupferstich in der Ausgabe von Theodor de Bry: Americae, 3. Buch, Frankfurt am Main 1592, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin. © public domain

Vor dem Hintergrund dieser europäischen Tradition vollzog de Andrade in den 1920er Jahren mit seinem Konzept der Antropofagia eine Umkehrung der herkömmlichen Bedeutung der Figur des Kannibalen: Diente sie traditionell dazu, eine Differenz im Sinne eines Ausschlusses von Fremdheit herbeizuführen, stellte sie nun die Möglichkeit einer Integration fremder Kultureinflüsse dar, was mit einer Aufhebung hegemonial geprägter Dichotomien wie Eigen und Fremd, Zivilisation und Wildheit oder Zentrum und Peripherie einherging. Innerhalb dieses Verständnisses der Anthropophagie verband de Andrade die Formulierung eines nationalen Standpunktes nicht mit Konzepten von ethnischer Reinheit. Vielmehr betonte die Metapher der Einverleibung des Fremden den Prozess der Hybridisierung und den Aspekt der Heterogenität der brasilianischen Gesellschaft. Das nationalistische Projekt eines postkolonialen Emanzipationsakts basierte also grundlegend auf einem komplexen Denkmodell zur kulturellen Identität.6

Die Antropofagia kann somit als eine Form der Kulturübersetzung verstanden werden, die sich jenseits der Pole von Original und Kopie bewegt und stattdessen auf die fruchtbare Kontaktzone zwischen Kulturen verweist. Das Aufeinandertreffen von Kulturen wird innerhalb dieses Verständnisses nicht mehr dualistisch gedacht, sondern als ein Verschmelzen verschiedener Kultureinflüsse zu einem hybriden dritten Raum aufgefasst. In diesem interkulturellen Verhandlungsraum können performative Aushandlungsprozesse stattfinden, verbunden mit vielfältigen Bedeutungsverschiebungen und -überschneidungen. Das Ergebnis ist eine Vielstimmigkeit, die Konstrukte einer fixierten kulturellen Identität ausschließt.7

Das sich in den 1920er Jahren formierende, gattungsübergreifende Movimento Antropófago [Anthropophage Bewegung] mit de Andrade als dessen Leitfigur fand einen ersten öffentlichen Ausdruck in der Semana de Arte Moderna [Woche der modernen Kunst], die anlässlich der 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Brasiliens im Februar 1922 im Teatro Municipal de São Paulo ausgerichtet wurde.

Die Semana, welche den offiziellen Beginn des Modernismus in Brasilien einläutete, umfasste verschiedene Veranstaltungen, wie Lesungen, Konzerte und Ausstellungen bildender Künstler/innen und Architekt/innen, mit denen eine grundlegende Neuerung in der Kunstproduktion Brasiliens demonstriert werden sollte. Der Bruch mit an Europa orientierten Kunstvorstellungen wurde durch die beteiligten Künstler/innen einerseits durch ein Aufgreifen der europäischen Avantgarde und andererseits durch eine Aufwertung des nationalen Kulturerbes vollzogen.8

Die Semana gab Tendenzen vor, die in den darauffolgenden Jahren in Zeitschriften, Manifesten und Romanen präzisiert und programmatisch ausgearbeitet wurden. Die Standpunkte der Antropofagia wurden in erster Linie in der Revista de Antropofagia [Anthropophage Zeitschrift] formuliert, die zwischen Mai 1928 und August 1929 in zwei Editionen in São Paulo erschien.9 Die Zeitschrift führte nach dem Prinzip der Collage verschiedene Textformen zusammen, indem sie Interviews, Gedichte, Essays oder Fragmente aus modernistischen Romanen beinhaltete. Die theoretische Grundlage der Antropofagia lieferte das von Oswald de Andrade verfasste Manifesto Antropófago [Anthropophages Manifest], welches 1928 in der ersten Ausgabe der Revista publiziert wurde10 (Abb. 3). Darin fand die an die brasilianischen Künstler/innen gerichtete Forderung nach einer Umsetzung des anthropophagen Konzepts durch eine Aneignung europäischer Kultur, die mit lokalen Traditionen vermischt werden soll, bereits einen ersten radikalen Ausdruck. So stellt sich das Manifest selbst als anthropophages Werk dar, indem es europäische Vorbilder nutzt und in die brasilianische Kultur übersetzt, ohne sie einfach nur zu kopieren. Das Manifest beinhaltet eine Vielzahl von historischen und literarischen Bezügen auf wichtige Denker der europäischen Kultur, die collageartig miteinander verbunden wurden. Diese Sinnbilder der westlichen Kultur wurden von de Andrade in einem humoristischen, karnevalesken Stil verarbeitet beziehungsweise verdaut. Dadurch parodierte er die Vorbilder Europas und nahm ihnen ihren Erhabenheitsstatus.11 Entsprechend lautet der programmatischste, im Englisch stehende Satz seines Manifests: „Tupi or not Tupi, that is the question.“12 De Andrade formte hier Hamlets Worte um, indem er sie durch den Namen des brasilianischen indigenen Volkes ersetzte, das assoziativ mit dem Ritus der Anthropophagie verbunden wird.

Abb 3. Text von Oswald de Andrade und Zeichnung von Tarsila do Amaral, abgedruckt in: Revista de Antropofagia, Ano 1, No. 1, Maio de 1928, Faksimile-Edition, São Paulo 1975. © public domain

Ein zentrales Anliegen des Modernismus bestand in der Schaffung einer eigenständigen nationalen Poesie, die das von den ehemaligen Kolonialherren auferlegte europäische Portugiesisch modifizieren wollte. Entsprechend findet in den literarischen Werken des Movimento Antropófago die brasilianische Umgangssprache Eingang, die das heterogene Wesen Brasiliens, die Brasilidade [Brasilianität], verkörpern sollte. Neben der Rehabilitierung der Alltagssprache und der Präsenz des indigenen Guaraní finden sich zudem fremdsprachige Textpassagen sowie Neologismen im Manifest, womit de Andrade im Sinne seines anthropophagen Programms jegliche Vorstellungen von Reinheit oder Homogenität bereits auf sprachlicher Ebene provozierte.

Wiederholt findet sich, einzelnen Passagen des Manifests vorangestellt, die programmatische Ablehnungsformel contra [gegen], welche eine Widerstandshaltung gegen (post-)koloniale Einflüsse auf Brasilien anzeigt. Auf den hierfür grundlegenden Satz „Gegen alle Katechesen.“ antwortete de Andrade mit der Aussage „Wir wurden niemals katechisiert. Stattdessen machten wir Karneval.“13 Dem Katechismus, der als Sinnbild für die Unterwerfung der Indigenen und deren Angleichung an die portugiesische Kolonialkultur steht, stellte de Andrade den Karneval als spezifisch brasilianische Kulturpraxis gegenüber. Mit subversivem Humor wertete de Andrade in seinem Manifest die Kolonialgeschichte Brasiliens um. In diesem Sinne unterzeichnete er sein Manifest mit den Worten „Oswald de Andrade, in Piratininga, im Jahre 374 nach dem Verschlingen des Bischofs Sardinha.“14 und stellte damit das Jahr 1554 an den Beginn der brasilianischen Zeitrechnung. Er bezog sich hier auf eine Überlieferung, nach welcher der portugiesische Bischof Sardinha vom indigenen Volk der Caeté als Ausdruck des Widerstandes gegen die Kolonialmacht verspeist worden sein soll. De Andrade definierte damit den ersten gegen die weißen Eroberer gerichteten anthropophagen Akt als Geburtsstunde der brasilianischen Nation.

Das Manifesto Antropófago stellt die programmatische Formulierung eines kulturellen Konzepts dar, das zeitgleich in weiteren Klassikern des Modernismus vielfach literarisch verankert wurde.15 Neben der Literatur wurde Oswald de Andrades Konzept der Antropofagia aber vor allem auch in der Bildenden Kunst umgesetzt. An erster Stelle ist hier die Malerin Tarsila do Amaral zu nennen. Die spätere Lebensgefährtin von de Andrade war Mitbegründerin des Movimento Antropópfago und an der Ausarbeitung des anthropophagen Programmes maßgeblich beteiligt.16 Nach Studienaufenthalten in Paris bei Albert Gleize, Fernand Léger und André Lhote kehrte sie 1924 wieder nach São Paulo zurück. Während de Andrade den theoretischen Grundstein für die Antropofagia legte, findet sich im Werk do Amarals bereits vor Veröffentlichung des Manifesto Antropófago eine erste malerische Ausformulierung des Konzepts. So stellt das 1923 in Paris entstandene Gemälde A Negra [Die Schwarze] (Abb. 4) bereits eine künstlerische Umsetzung anthropophager Ideen dar.17

Das Gemälde zeigt einen schwarzen Frauenakt, was in der brasilianischen Kunst zu dieser Zeit ein Novum darstellte. Im Prozess der Konstruktion der brasilianischen Nation nach der Unabhängigkeit wurden die Afro-Brasilianer/innen systematisch ausgegrenzt, da die Landespolitik davon ausging, dass der Fortschritt des Landes durch eine Europäisierung und das Ideal des branqueamento, einer Verweißung, vorangetrieben werden könne.18 Die Antropofagia wertete als Protest gegen diese europäisierte Politik der Ausgrenzung die afrikanische Kultur in Brasilien auf, indem diese von den Modernist/innen als fundamentaler Bestandteil in die Bildung einer brasilianischen Nationalkultur einbezogen wurde. Mit der überdimensionierten Brust der Abgebildeten bezog sich do Amaral auf die Historie der schwarzen Ammen, welche als Sklavinnen die Kinder weißer Farmerfamilien aufzogen, und verwies somit auf die Ausbeutung der schwarzen Frau im Kolonialismus. Die Dargestellte erscheint jedoch nicht als Opfer, sondern als selbstbewusste Frau mit einem kraftvollen Körper und einem offenen Blick. Damit wendete sich die Künstlerin gegen Darstellungen, in denen der schwarze, nackte weibliche Körper mit Exotik, Erotik und Eskapismus verbunden wird – ein Typus, der sich insbesondere in expressionistischen Werken, wie beispielsweise in den Gemälden Paul Gaugins, findet.

Die Ausformulierung des Grundgedankens des anthropophagen Konzepts, der Aneignung europäischer Avantgarde und ihrer Vermischung mit lokalen Traditionen, kommt in do Amarals Gemälde zum Tragen, indem die Malerin im Kontrast zu den weichen, rundlichen Körperformen des Frauenaktes den Hintergrund durch horizontal verlaufende Linien in geometrischer Abstraktion gestaltete, der durch das Blatt einer Bananenpflanze vertikal durchbrochen wird – A Negra eröffnete somit einen Dialog zwischen Primitivismus und Moderne. 19

In do Amarals darauffolgenden Gemälden aus der Zeit zwischen 1924 und 1927 finden sich an der brasilianischen Volkskultur orientierte Ausdrucksweisen und Bildthemen, wie das ländliche Leben, die synkretistische Religion, tropische Landschaften und Tiere, der Karneval, Märkte oder die Favelas, die Armenviertel Brasiliens. Die anthropophage Metapher fand darin einen Ausdruck, indem die Künstlerin die Elemente der Volkskultur und des Primitivismus mit der Malweise des Kubismus verband, etwa wenn sie im Gemälde Carnaval em Madureira [Karneval in Madureira] von 1924 den Eiffelturm als das Symbol für Frankreich in eine tropische, farbenfrohe Landschaft vesetzte, in welcher afro-brasilianische Bewohner/innen einer Favela den Karneval feiern (Abb. 5). Das Werk stellt eine anthropophage Einverleibung von Robert Delaunays Gemälde Tour Eiffel aux arbres von 1910 (Abb. 6) dar, welches die Künstlerin in einen neuen, lokalen Kontext übersetzte. So entstand ein hybrides Kunstwerk, in dem der Einfluss der europäischen Avantgarde aufgenommen und mit autochthonen Elementen der brasilianischen Kultur verbunden wurde. Ähnlich wie es de Andrade auf literarischem Weg vollzog, integrierte do Amaral in ihrer Malerei die aus Europa importierte Sprache der Avantgarden in die Schaffung einer spezifisch brasilianischen Kunst.20

Abb. 6: Robert Delaunay: Tour Eiffel aux arbres, 1910. Öl auf Leinwand, 126,4 x 92,8 cm, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York. © public domain

  

Die malerische Ausarbeitung eines anthropophagen Bildprogramms gelangte in do Amarals Antropofagia-Phase schließlich zur vollen Umsetzung, in der in erster Linie eine Hinwendung zum Surrealismus offenkundig wird. Die zwischen den Jahren 1928 und 1930 entstandenen Gemälde zeigen traumartige Landschaften und Figuren, die bis zur Unförmigkeit verzerrt sind. Das Gemälde Abaporu von 1928 (Abb. 7) bedeutet in der Sprache der Tupinambá Anthropophage und wurde namensgebend für de Andrades Manifest.21 Die sitzende Figur ist mit übermäßig verlängerten Gliedmaßen dargestellt. Der Titel gibt an, dass es sich um einen Indigenen handelt, den do Amaral in einer tropischen Natur platzierte: Mit der Abbildung einer Kaktee, eines strahlend blauen Himmels sowie einer zum Bild einer aufgeschnittenen Orange stilisierten Sonne konstruierte die Malerin eine ironisch übersteigerte Form von Exotik, die sie auf Europa zurückwarf. Zugleich lassen die lose an den Körper angelegten Arme Assoziationen an abgetrennte Gliedmaßen aufkommen, wie sie in der eurozentrischen Bildsprache zur Darstellung des brasilianischen Kannibalismus gängig sind. Die enge Verbindung von do Amarals Werk mit den Inhalten der Antropofagia wird insbesondere durch den Umstand ersichtlich, dass die Originalfassung des Manifests zusammen mit einer unbetitelten Zeichnung do Amarals veröffentlicht wurde, die eine Variante des Gemäldes darstellt (Abb. 3). Während de Andrade eine kulturelle Übersetzung auf sprachlicher Ebene vollzog, schuf do Amaral eindrückliche visuelle Umsetzungen eines dialogischen und hybriden Dritten Raumes. Das ein Jahr später entstandene Gemälde Antropofagia (Abb. 8) vereint die als indigen und afrikanisch, männlich und weiblich konnotierten Figuren aus Abaporu und A Negra. Beide verschmelzen hier zu einer gemeinsamen, hybriden Identität, wodurch do Amaral die Konstrukte von Eigen und Fremd im malerischen Akt symbolisch auflöste.

Eine Auseinandersetzung mit dem anthropophagen Programm fand im brasilianischen Modernismus in einer Vielzahl von Werken bildender Künstler/innen statt. Insbesondere diejenigen Künstler/innen, die bereits in der Semana de Arte Moderna mit einer Ausstellung beteiligt waren, versuchten in der Folge, die hiervon ausgehenden Modernisierungstendenzen in ihrer Kunst umzusetzen. So beschäftigten sich die Maler Vicente do Rego Monteiro, Emiliano Di Cavalcanti, Lasar Segall und Flávio de Carvalho mit Strategien der Einverleibung, mit denen sie eine Erneuerung anstrebten. Wie do Amaral hatten sich diese modernistischen Künstler durch Studienaufenthalte in Europa europäische Kunstströmungen der Avantgarde angeeignet. Insbesondere die Malerei des Kubismus, Surrealismus und Expressionismus wurde nun in Bezug auf die Inhalte der Antropofagia mit vorkolonialen, traditionellen Elementen ihres Landes verbunden. Diese malerischen Positionen verdeutlichen das enge Zusammenwirken von Literatur und Malerei bei der Entstehung der Antropofagia.

Das Ende des Modernismus, der mit der Semana von 1922 seinen Anfang genommen hatte, wurde durch den Machtantritt von Getúlio Vargas im Jahr 1930 eingeläutet. Der Präsident rief 1937 den diktatorischen Estado Novo, den Neuen Staat, aus, der sich in vielen Punkten an den faschistischen Regimen in Europa orientierte. Das im Movimento Antropófago entwickelte Konzept der gegenseitigen Kulturbeeinflussung stand daher im Kontrast zu den Ideologien der neuen Regierung, sodass die modernistischen Künstlerinnen und Künstler keine Ausstellungsmöglichkeit bekamen und sich zum Teil im Untergrund zusammenfanden.

Durch die Betonung des Aspekts der Hybridität, mit welcher der Befreiungskampf aus kolonialen Machtstrukturen geführt wurde, ist das modernistische Konzept noch heute für Künstlerinnen und Künstler relevant.22 Die Antropofagia eröffnete einen postkolonialen Vorschlag für die Übersetzung von Kulturen, welcher sich nicht im Kopieren eines Originals erschöpfte, sondern einen interkulturellen Verhandlungsprozess in Gang setzte, der essentialistische Vorstellungen von kultureller Identität unterwanderte. Die paulistanischen Künstlerinnen und Künstler des Movimento Antropófago legten somit nicht nur den Grundstein für den Beginn des Modernismus in Brasilien, sondern entwickelten auch einen zukunftsweisenden Ansatz, der im Kontext aktueller Nationalismus- und Migrationstendenzen wieder an Bedeutung gewinnt.

 

Fußnoten
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Irina Hiebert Grun, geb. 1982, ist Kunsthistorikerin. Ihre Dissertation Strategien der Einverleibung. Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst erschien im transcript Verlag. Sie war Doktorandin bei der Daimler Art Collection in Berlin (2014-2016) und hatte einen Lehrauftrag an der Technischen Universität Darmstadt (2017). Seit September 2018 ist sie bei der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin beschäftigt, aktuell als wissenschaftliche Referentin der Neuen Nationalgalerie.

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