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Cities of Translators — São Paulo

Blick von der Avenida São João auf das "Prédio do Banespa" (Banespa-Hochhaus) mit rechts dem "Edifício Martinelli" (Martinelli-Gebäude). Foto: Simone Homem de Mello

In der Reihe Cities of Translators, einem Projekt des TOLEDO-Programms des Deutschen Übersetzerfonds, das Städte aus aller Welt als Übersetzungsräume im weitesten Sinne vorstellt, wird hier ein erstes Bild von São Paulo aufgezeigt. Die Konstruktion dieses Bildes erfolgt über die fotografische Technik der Doppel- oder Mehrfachbelichtung: Durch die Überlagerung von Bildern soll versucht werden, Perspektiven auf einen ohnehin facettenreichen städtischen Raum zu eröffnen.

Die Anfangsreferenz auf das Gedicht “cidade” (1963) von Augusto de Campos ist nicht nur thematischer Natur. Das Gedicht – das in einer einzigen Zeile in alphabetischer Ordnung die ganze Unordnung eines multilinearen Raums mit all seinen Grausam- und Gefräßigkeiten aufreiht – ist eines der Wortkunstwerke der brasilianischen Literatur, die am meisten zirkulierten. Es wurde auf den unterschiedlichsten Schriftträgern abgedruckt, auf der Fassade der Biennale von São Paulo, als lyrischer Flugblattregen und sogar auf Kacheln für Innenräume. Auch über diese Seite der Stadt, als Raum für den Verkehr von Sprache, geht es in diesem Dossier.

Will man São Paulo einem ausländischen Publikum vorstellen, muss man sich mit den Bildern von Brasilien befassen. São Paulo enthält ganz Brasilien, in Spuren, doch es repräsentiert es nicht. Angesichts dieser Asymmetrie wurde das Bild von São Paulo auf eine Oberfläche projiziert, die jede/r Nicht-Brasilianer/in von Brasilien kennt: die Musik. Daher auch der Rückgriff auf die filmische Symphonie aus den 1920er Jahren und den anthropologischen Begriff der polyphonen Stadt. Auf diese Weise wurde ein Raum geöffnet für Arrangeure und Komponisten, Sängerinnen und Musiker*innen, die sich hin- und herbewegen zwischen populärer und gehobener Musik; sie alle übersetzen und mixen autochthone und ausländische Musiktraditionen.

Gleichzeitig werden in diesem Dossier Bilder von São Paulo ab den 1920er Jahren bis zum Jahr 2020 projiziert. Inspiriert von Walter Ruttmanns kinematografischem Porträt Berlins aus dem Jahr 1927 drehen die Ungarn Adalberto Kemeny und Rudolf Rex Lustig zwei Jahre später in São Paulo die “sinfonia da metrópole” (Symphonie der Metropole) und zeigen bewegte Bilder einer Modernität, die in der Literatur und den Bildenden Künsten ihr Verhältnis zu den europäischen Traditionen und die Möglichkeiten zu deren Übersetzung bereits sehr kritisch reflektierte. Jacó Guinsburg fängt das São Paulo der 1940er Jahre ironisch in einer kurzen Erzählung ein, in der die Stadt als Babel für Einwanderer*innen aus verschiedenen Erdteilen gezeigt wird. In einem anderen Imaginationsspiel begleitet Gonzalo Aguilar die Dichter der Gruppe Noigandres in den 1950er Jahren auf einem Spaziergang durch das Stadtzentrum. In den 1980er Jahren ist São Paulo zwar keine multilinguale Stadt mehr, doch die Vielfalt der Kommunikationscodes führt zu anderen übersetzerischen Herangehensweisen an die Stadt, was Massimo Canevacci mit dem Begriff der Polyphonie umschreibt. In einem konzeptionellen Foto-Essay, verfasst während der Corona-Pandemie zwischen August und Dezember 2020, untersucht mein Beitrag die Präsenz des geschriebenen Wortes in der Stadt und fragt nach der Übersetzbarkeit seiner Codes. São Paulo als heutiger Aktionsraum für Literaturübersetzer*innen wird in einem kleinen Leitfaden dargestellt sowie in einem Interview mit Berthold Zilly, dem Übersetzer der brasilianischen sertões 1 ins Deutsche.

Schließlich zeigt sich São Paulo als Resonanzraum zweier Avantgardebewegungen der Moderne, nämlich der von 1922 und der aus den 1950er Jahren, mit ihren jeweiligen Reflexionen über die Interkulturalität und die Lyrikübersetzung. Um die diesbezügliche Besonderheit des brasilianischen Beitrags geht es in Artikeln zur tarsivaldischen 2 Anthropophagie und zu dem Paradigmenwechsel durch die Übersetzungspraxis der Dichter und Gründer der Avantgardebewegung des Konkretismus - Augusto de Campos, Décio Pignatari und Haroldo de Campos –, zusammengefasst in Konzepten wie dem der Kunst-Übersetzung oder der Transkreation. Erstmals wird hier ein Text von Haroldo de Campos zum Konzept der Transkreation in deutscher Übersetzung vorgestellt. In einem unveröffentlichten Interview reflektiert Augusto de Campos über seinen Beitrag zur Übersetzungskunst und sein Verhältnis zu São Paulo und dessen Traditionen. Die Doppelbelichtung drückt sich hier über zwei Momente der literarischen Avantgarden aus, die sich gegenseitig beleuchten und kommentieren.

Durch die Überlagerung der Bilder wird also versucht, über das Paradoxe des eigenen Vorhabens hinwegzutäuschen. Denn über das Übersetzen und den Verkehr von/zwischen Sprachen kann man nicht mit klar definierten, geschlossenen Grenzen sprechen. Über Städte des Übersetzens zu sprechen heißt unweigerlich, über Öffnungen nach außen zu sprechen.

 

Simone Homem de Mello

Kuratorin

São Paulo, 25. Januar 2021

 

Fußnoten
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