Das Haus an der Ecke Volodymyrska/Prorizna
Auf den wundervollen Fotos von dem Haus an der Ecke Volodymyrska/Prorizna fehlt ein Detail: Wie ich nämlich im Frühjahr 1969 da oben auf dem Balkon im dritten Stock stehe und eine f6 rauche. Ich lernte damals Deutsch an der Abendschule und hatte meine Kurse noch nicht beendet, die DDR-Zigarette gab mir einen Hauch von deutscher Sprache und sogar Literatur. Die Schachtel f6 hatte ich im Restaurant Leipzig gekauft, das sich im Erdgeschoss desselben Hauses befand.
Schauen wir uns dieses Haus an wie einen zu übersetzenden Text. Hinter dieser beschaulichen plumpen Neorenaissance-Fassade mit einem Schuss Barock – der Laune eines Kaufmanns vor gut einhundert Jahren – verbirgt sich die unstete Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie sich hierzulande, in Deutschland und in Europa ereignet hat.
Wie unstet die Zeiten waren, lässt sich am wechselvollen Schicksal des Restaurants im Erdgeschoss ablesen. Als dieses Lokal 1906 eröffnet wurde, hieß es Patisserie Marquise. Unter dem Namen Süßwarengeschäft Marquise fand es Eingang in das dreizehnte Kapitel des Romans Die weiße Garde des aus Kyiv stammenden Autors Michail Bulgakow. In der DDR erschien zunächst eine unvollständige Fassung des Romans in der Übersetzung von Thomas Reschke. Der Protagonist, der Militärarzt Alexej Turbin, läuft an dem Haus vorbei, als er sich während des Bürgerkriegs 1918 vor der in Kyiv einmarschierenden ukrainischen Armee in Sicherheit bringen will.
Dann fielen einige Sekunden aus Turbins Bewusstsein heraus, und er wusste nicht, was während dieser Zeit geschah. Erst hinter der Ecke der Wladimirstraße fand er sich mit eingezogenem Kopf und galoppierenden Beinen wieder, die ihn schnell von der verhängnisvollen Ecke mit dem Süßwarengeschäft Marquise forttrugen.1
Später, als sich die neue Macht etabliert hatte, wurde hier das Restaurant Spartak eröffnet, denn in der neuen gerechten Ordnung waren die Marquis und Marquisen abgeschafft, und der Gladiatorenaufstand im alten Rom unter Spartakus‘ Führung passte gut zur bolschewistischen Ideologie. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in diesem Gebäude die Cocktail Hall. Aber der Cocktail-Genuss war bald schon wieder vorbei, es kam der Kalte Krieg und mit ihm der Kampf gegen den Kosmopolitismus, also gegen den faulenden Westen. Die Cocktail Hall war passé, ihr folgte das Restaurant Möwe. Zu Ehren der Partnerstadt erhielt das Restaurant dann in den 1960er Jahren den Namen Leipzig. Angeblich wurden dort sogar deutsche Speisen serviert.
Das war das Erdgeschoss, und ich stehe im dritten Stock auf dem Balkon.
Nehmen wir den Text dieses legendären Hauses genauer unter die Lupe. Hinter der Balkontür liegt ein riesiges Zimmer in einer einstmals prachtvollen Sechszimmerwohnung, die nach den revolutionären Umbrüchen zu einer Gemeinschaftswohnung wurde. In dem Zimmer hinter dem Balkon wohnte Grigorij Jurjewitsch Filanowskij, ein bibliophiler Journalist, Drehbuchautor, Verfasser von Büchern und Artikeln zur Geschichte der Mode. Die Bücher nahmen eine ganze Wand ein. In den Regalen standen die Gesamtausgabe des Brockhaus & Efron, die vor dem Ersten Weltkrieg erschienen war, außerdem Belletristik, populärwissenschaftliche Bände, historische Abhandlungen, darunter auch zur Geschichte des Anzugs. Auch viele seltene antiquarische Bücher waren darunter.
Grigorij Jurjewitsch oder Grischa, wie ihn seine Freunde nannten, war ein geistreicher, ironischer und scharfsinniger Mensch mit einem weiten Horizont. Seine Tür stand immer offen für Freunde und Bekannte, für die Freunde der Freunde und die Bekannten der Bekannten. Auch ich geriet über eine Bekannte zu ihm. Ich wurde von Larissa Massenko eingeführt, wir hatten uns in meinem Deutschkurs kennengelernt. Heute ist sie Professorin für ukrainische Sprache an der Mohyla-Akademie und die Studierenden zitterten vor ihr. Sie hatte mir zu jener Zeit Iwan Dsjubas maschinenschriftlich verfassten Text “Internazionalism tschy rusyfikazija” (Internationalismus oder Russifizierung) zu lesen gegeben. Das war bekanntlich ein Schlüsseltext für die ukrainische nationale Erweckung – und auch für mich. Dsjuba musste wegen dieses Textes ins Gefängnis.
Aber kehren wir zu Grischa Filanowskijs Zimmer zurück. Außer ihm lebten noch sechs oder acht andere Familien in dieser Gemeinschaftswohnung, manche Zimmer waren sogar noch einmal geteilt. Die Wohnung hatte eine Gemeinschaftstoilette und ein Bad, das niemand benutzte. In der Toilette gab es so viele Glühbirnen wie Bewohner, jeder hatte seinen eigenen Stromzähler und seine eigene Toilettenbrille, die an einem extra Nagel hing. In der Gemeinschaftsküche standen mehrere Herde. Die Küche lag erhöht, eine kurze Treppe führte hinauf, weswegen die Küche wie die Bühne eines kleinen Theaters wirkte. Hier wurden klärende Gespräche geführt, Kriegsbündnisse geschlossen und Komplotts geschmiedet. Das Gemeinschaftstelefon im Flur spielte mit seinem Klingeln die Begleitmusik.
Filanowskij war privilegiert. Erstens, weil er ein eigenes Telefon hatte, und zweitens, weil ihm der Verschlag gehörte, der Tschulan, ein winziger fensterloser Raum unter der Treppe des Hintereingangs, weswegen sie ihn alle Tschulanowskij nannten. In dem Verschlag standen Regale mit alten Zeitschriften und ein Sofa. Weitläufige Bekannte und entfernte Freunde trafen hier ihre Mädchen. Natürlich, um mit ihnen allein zu sein. Wir entwickelten Abzüge von einem Negativ von Solschenyzins Roman Im ersten Kreis. Dann machten die Fotos die Runde, unter allen Freunden und Bekannten, und alle hielten dicht, keiner machte Meldung.
In dem Zimmer auf der Volodymyrska tauchten immer wieder interessante Leute auf, wurden die verschiedensten Gespräche geführt, es ging ums Kino, um neue Zeitschriftenpublikationen, neue Filme, um Literatur, um Ausstellungen und vieles andere.
Über Politik wurde auch gesprochen, aber nebenbei und halb im Scherz, was gab’s da groß zu reden. Wahrscheinlich ist es überflüssig zu erwähnen, dass die meisten Gespräche auf Russisch geführt wurden. Viele Leute – auch der gastfreundliche Hausherr – waren zehn, fünfzehn Jahre älter als ich. Eine Zeitlang, besonders in den ersten Jahren, nachdem wir Bekanntschaft geschlossen hatten, verbrachte ich all meine freien Abende in diesem Zimmer, und auch später schaute ich häufig vorbei. Dort verkehrten Journalist∙innen, Drehbuchautor∙innen, Verfasser∙innen von Sketchen und Versen für Unterhaltungskünstler, Schriftsteller∙innen, Kunstkritiker∙innen, um nur einige zu nennen.
Ich habe dort zum Beispiel den Schriftsteller und Historiker Juri Kolesnitschenko getroffen, der zusammen mit Sergij Platschinda das aufrüttelnde Buch Der brennende Dornbusch verfasst hatte, eine Sammlung historischer Geschichten über ukrainische Kulturschaffende. Das Buch wurde umgehend verboten und aus den Buchläden und Bibliotheken entfernt. So viel Aufmerksamkeit für die ukrainische Kultur war des Guten zu viel.
Mychajlo Moskalenko, ein brillanter Übersetzer französischer Poesie, brachte eines Tages den überaus begabten Dichter Mojsej Fischbejn mit. Ich lernte ihn bei Grischa kennen, und wir wurden Freunde. Mit Mojsejs Gedichten hielten urbane Motive Einzug in die ukrainische Poesie. Später übersetzte Fischbejn viel aus dem Russischen, Iwrit, aus dem Jiddischen, aus dem Deutschen. Wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 2019 erschienen einhundert Rilke-Gedichte in seiner Übersetzung.
Ich nahm meine ersten Übersetzungen mit zu Filanowskij, in denen Juliana Jachnina, eine berühmte Moskauer Übersetzerin aus dem Französischen und Schwedischen, viele Stellen unterstrich, aber nichts korrigierte. Zusammen mit Grischa versuchte ich zu verstehen, warum die Stellen unterstrichen waren, was „falsch“ war und wie ich es „richtig“ machen konnte.
Zu Grischas Stammgästen zählte auch sein alter Freund Genrich Schachnowitsch, ein lustiger und scharfzüngiger Essayist. Es hieß, wenn Schachnowitsch einen Artikel fürs Feuilleton geschrieben hatte, in dem er im erlaubten Rahmen einzelne Missstände geißelte, bot er den Text dann zum Beispiel der Parteizeitung Prawda Ukrajiny (Wahrheit der Ukraine) an und schickte ihn anschließend an die Partei- und Komsomolorgane in der gesamten Sowjetunion, die sich kaum voneinander unterschieden. Von der Jakutischen Flamme bis zur Tungusischen Fackel, wie Filanowskij witzelte. Er besaß eine Liste aller sowjetischen Provinzblätter und wusste genau, wann er wem was schicken musste. So trudelten von überallher Honorare bei ihm ein.
Wir steigen in Gedanken die Treppe bis zum vernagelten Hinterausgang hinab und betrachten den Kontext dieses Haustextes. Im wirklichen Leben betrat man den Hof von der Prorizna-Straße aus. In einem Seitenflügel hatte mein Freund, der Künstler Mykola Tschernysch, sein Atelier. Er schnitzte Flachreliefs. Und fertigte Grafiken an. Mykola Tschernysch hatte an der renommierten Stroganow-Akademie für Angewandte Kunst in Moskau studiert, war aber trotzdem ein ukrainischer Künstler geblieben, er war im Nationalen verankert, hatte aber ein äußerst modernes Kunstverständnis. Ihm und Iwan Dsjuba verdanke ich meinen Zugang zur ukrainischen Sprache. In dieser Zeit konnte ich die moderne ukrainische Dichtung für mich erschließen. In Tschernyschs Atelier lag Mykola Worobjows − im Samisdat erschienener – Gedichtband Der Antiquar. Die Gedichte aus diesem Band sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Eines Tages sah ich in Tschernyschs Atelier durchbrochene verkohlte Holzstelen. Mein Freund sagte: Morgen jährt sich der Todestag von Alla Gorska. Das stellen wir ihr aufs Grab, temporär, anstelle eines Grabsteins. Kommst du mit? Alla Gorska war eine ukrainische Künstlerin und Dissidentin, die am 7. Dezember 1970 unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war. Ich ging mit. An ihrem Grab auf dem Friedhof standen viele von denen, die in den darauffolgenden Monaten verhaftet wurden. Ich sah und merkte mir nur den Schriftsteller und Literaturkritiker Jewhen Swerstjuk und den Übersetzer Sergij Borschewskij, denn sie hatte ich schon zuvor gekannt. Auch ich wurde gesehen … und kurze Zeit später erhielt ich meine erste Vorladung zum KGB. Während des Gesprächs zeigte man mir ein Foto, auf dem ich mit den anderen an Allas Grab zu sehen bin. Die hölzernen Stelen wurden übrigens am Tag darauf verbrannt. Mykola Tschernysch wäre mit Sicherheit auch gefangen genommen worden, aber er heiratete kurzerhand eine Frau aus der Slowakei und siedelte nach Bratislava um.
In der Nähe der Metrostation Livoberezhna ist heute eine Straße nach Jewhen Swerstjuk benannt.
In den Jahren 1985 und 1986 mussten alle aus dem Haus an der Volodymyrska/Prorizna ausziehen, auch das Restaurant. Umfassende Rekonstruktionsmaßnahmen wurden angekündigt. Unterdessen brachen neue Zeiten an, das Geld für die Instandhaltung fehlte. Später wurde das Haus verkauft, dann weiterverkauft, wie es heutzutage hier üblich ist. Der neue Besitzer strich das Haus in grellem bordeauxrot an, erneuerte den Stuck und die Plastiken, zäunte das Haus ein und verschwand. Aber als Gebäude und als Text ist das Haus natürlich noch da. Jedes Haus ist wie ein Text. Manche Texte sind auch unlesbar.
Dieser Text erschien im Rahmen von Cities of Translators Kiew
Titelbild: Irina Stasiuk
Mai 2021