Patricia Klobusiczky: Kiewer Mosaik
Serhij Zhadan, Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts, übertragen von Claudia Dathe, Suhrkamp 2006
Die schweren Schriftwaben schimmern
im Gold, aus dem die Sprache gewirkt ist.01

(c) Dina Artemenko und Mila Hryhorenko
Eine Expedition im digitalen Raum.
Nicht über Luftwege gelangen wir nach Kiew,
City of Translation 2020, Courtesy of Toledo 2.0,
sondern über Kommunikation und Imagination -
im Doppelsinn.
Fotografinnen haben für uns ihre Stadt erkundet
und dabei selbst Neues entdeckt, Altes noch
kurz vor dem Verschwinden konserviert.
Sie, die Fotografinnen, und unsere Führerinnen
durch Stadt, Geschichte, Sprache und Kultur –
stets auch Übersetzungskultur,
unsere Dolmetscherinnen:
Sie alle treten kachelweise in Erscheinung.
Talking Heads, die vor unseren Augen eine ganze
Stadt erstehen,
eine lange, vielfach geschichtete Geschichte
lebendig werden lassen.
Kacheln auf unserem Bildschirm,
die Einblicke in Arbeitszimmer in Jena, Berlin,
Kiew gewähren
und uns so in die Welt hinausgeleiten, die wir
zur Zeit nicht betreten dürfen.
Kachelweise erscheinen auch die Bilder
vom schier mythischen Chreschtschatyk
(Stalins Zuckerbäckerstil, eine direkte Verbindung
zur Berliner Karl-Marx-Allee, Geschichte überschreitet Grenzen)
von märchenhaft anmutenden bunten Holzhäuschen
von Plattenbauten und Zwiebeltürmen: Sophienkathedrale,
Byzanz' Abglanz, unser aller Erbe.
Kacheln wie Mosaiksteine,
führen tief in den Kiewer Untergrund, den Metrobauch
zu Tempeln des Glaubens und der Wissenschaft
zu Stätten des Vergnügens – Kino und Konsorten.
Führen ins Grüne, ans Wasser. Ins Niemandsland.
Erschließen Freiräume.
Mosaiksteine führen
von byzantinischer Kultur bulgarischer Prägung,
Verherrlichung Gottes und aller, alles Heiligen,
zur barocken Prachtentfaltung sozialistischer Macht,
Verherrlichung aller Werktätigen.
Und während die bunten Relikte der SU draußen
verwittern und verlorengehen – weil kein Interesse mehr besteht
an dieser Schicht der Historie
(wie mich das an Berlin nach der Wende erinnert, als Marx, Engels, Lenin
über Nacht aus der Mitte verschwanden. Der Palast der Republik ist längst
einem Re-Konstrukt gewichen, einem Potemkinschen Schloss) –
werden sie noch rasch von Kameras eingefangen, finden Eingang
in Erinnerung, Sprache, Literatur.
Der Weg vom Totalitären zur Emanzipation
führt durch die Sprache.
Die Sprachen.
Aber das ist ein Kapitel für sich.
Erstaunlich, wie viel wir uns bewegt haben,
ohne uns vom Bildschirm zu rühren.
Hinter tausend Kacheln ganze Welten.
Geliehene Bilder für eine imaginäre Reise
durch Zeit und Raum.
Ein Mosaik, an dem seit Ewigkeiten
so viele mitwirken.
Egal, wie viele Steine verlorengehen,
es werden immer neue hinzukommen.
Und was in der realen Welt verlorengeht,
bewahrt die Erinnerung, vergoldet sie in Sprache.
Vor unseren Augen, in allen Farben des historischen
und gegenwärtigen Spektrums,
flimmert Kiew. Schillert und schimmert.
Patricia Klobusiczky (*1968)
Wuchs zweisprachig in Deutschland und Frankreich auf. Studierte literarisches Übersetzen in Düsseldorf und arbeitet nach ihrer Tätigkeit als Lektorin für den Rowohlt Verlag als literarische Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen. Sie hat unter anderem Marguerite Andersen, Lina Ben Mhenni, Marie Darrieussecq, Louise de Vilmorin und William Bord ins Deutsche übersetzt.
Regelmäßig ist sie als Mentorin bei der Berliner Übersetzerwerkstatt tätig. Seit 2017 ist sie 1. Vorsitzende des Verbandes deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke (VdÜ). Sie arbeitet in verschiedenen Jurys mit, u.a. für den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis, für den Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis und für den Deutschen Verlagspreis.
Serhij Zhadan, Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts, übertragen von Claudia Dathe, Suhrkamp 2006