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Kyiv als meine Übersetzungsstadt

Palimpsest oder tabula rasa?

Das Gespräch über Kyiv und die Übersetzung hat für mich mehrere Dimensionen.

Die erste Dimension liegt auf der Hand und ist rein biografisch. Meine erste übersetzerische Erinnerung ist mit einem konkreten Ort verbunden, und zwar mit dem Haus meiner Französischlehrerin in der Nähe meiner Schule im Stadtteil "Akademmistetschko". Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt dieser Vorort als Luftkurort – wegen der weiten Fichtenwälder - auch viele Schriftsteller machten hier übrigens gern Urlaub. Ende der 1960er Jahre wurde hier ein neuer Stadtbezirk mit Forschungsinstituten und Wohnblocks für die Mitarbeiter∙innen errichtet. Meine Eltern bekamen in diesem Stadtteil eine Ein-Zimmer-Wohnung zugeteilt, in der wir zu viert sage und schreibe bis 1994 gewohnt haben. Während dieses Zusatzunterrichts nach der Schule habe ich gemerkt, dass ich Spaß daran habe, andere Sprachen zu lernen und dasselbe mit anderen Worten zu sagen.

© Mila Hryhorenko

Weitere Stationen meiner Laufbahn als Übersetzerin auf dem Stadtplan von Kyiv sind der zentral gelegene Stadtteil Lypky: Dort besuchte ich das geisteswissenschaftliche Lyzeum, dort habe ich mich zum ersten Mal an eine Übersetzung gewagt und das Poem Ozymandias von Percy Bysshe Shelley übersetzt. Die Übersetzung wurde sogar in einem vom Lyzeum herausgegebenen Band publiziert (den hoffentlich nur wenige gelesen haben). Und dann Podil. Hier habe ich studiert, später in den Redaktionen der Zeitschriften "Krytyka" und "Kino-Teatr" gearbeitet und manchmal am Redaktionsrechner übersetzt. In Podil habe ich bei einer Filmpremiere im Kino "Schowten" zum ersten Mal die Stresssituation einer Verdolmetschung vor Publikum erlebt.

Was fällt mir noch ein: die Unibibliothek, die Redaktionen einiger Verlage, ein paar Buchhandlungen und Cafés - in den Jahren vor der Pandemie habe ich oft dort Zuflucht gesucht, um rauszukommen und mal woanders als an meinem Schreibtisch zu arbeiten. All diese gemütlichen Cafés und halbleeren Redaktionen, in denen ich mich unerkannt zurückziehen konnte, befinden sich in der Altstadt. Ich brauchte jedes Mal Zeit, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu kommen, das schaffte aber die notwendige zusätzliche Distanz. Außerdem konnte ich nach der Arbeit ein bisschen durch die vertrauten Straßen bummeln und im Sommer einfach an der Dnipro-Promenade sitzen.

© Mila Hryhorenko

Natürlich ist schon seit einigen Jahren mein wichtigster – und 2020 fast mein einziger –Arbeitsplatz meine Wohnung, mein Zimmer und mein Schreibtisch. Mit dem Beginn der Pandemie habe ich festgestellt, dass die Freiheit, die man als Freiberuflerin genießt und die ich eigentlich sehr schätze, eine zusätzliche negative Facette bekommen hat, abgesehen von den prekären Arbeitsverhältnissen und der Schwierigkeit, Berufliches und Privates zu trennen. Wenn dein Lebensraum erzwungenermaßen auf ein Zimmer schrumpft, in dem du dich früher ganz wohlgefühlt hast, verschwindet die Freiheit. Du hast das Gefühl, in einem Hamsterrad zu sitzen, dem du nicht entfliehen kannst. Der Wunsch, allein zu sein, den ich in den aktiven Jahren zuvor oft verspürte, hat sich in ein Gefühl schmerzhafter Einsamkeit verwandelt, du vermisst nicht nur die Leute, die dir nahe stehen, sondern auch Orte oder Plätze, zu denen du keinen Zugang mehr hast. Deswegen habe ich im letzten Frühjahr und in den ersten Sommermonaten so wenig wie noch nie zuvor in meinem Leben geschafft, mich hat eine Verwirrung befallen, von der ich nicht sicher bin, dass ich sie schon endgültig überwunden habe.

© Mila Hryhorenko

Natürlich ist diese autobiografische Dimension in erster Linie für mich selbst interessant. Aber ich glaube, viele Arbeitswege von Übersetzer∙innen und anderen in der Literatur Tätigen in Kyjiv überschneiden sich tatsächlich häufig. Wir treffen uns immer an den gleichen Orten. So nehme ich mein Kyiv wahr - nicht als eine Ganzheit, sondern als eine Gesamtheit einzelner Orte und eine Vielzahl von Menschen, die für mich unterschiedlich wichtig sind, die sich ab und zu treffen.

Als ich mich auf ein Gespräch im Rahmen des Projektes "Cities of Translators" vorbereitet habe, ist mir klargeworden, dass es in meiner Stadt kaum Spuren von Übersetzern und Übersetzerinnen gibt, die hier leben und arbeiten. Auch nicht von denen, die erst vor kurzem hier gelebt haben, etwa in der Zeit der späten Sowjetunion. Das ist vor allem deshalb so paradox, weil diesen Übersetzer∙innen – es waren tatsächlich in der Hauptsache Männer – im literatur- und geisteswissenschaftlichen Diskurs eine zentrale Rolle in der ukrainischen Kultur des 20. Jahrhunderts zugeschrieben wird, waren sie doch diejenigen, die in einem von der russischen Sprache dominierten gesellschaftlichen Umfeld (und einer herrschenden sozialistischen Ästhetik, wenn wir über 1950-80 Jahre sprechen) die ukrainische Sprache pflegten und Erfahrungen aus „fremden“ Literaturen ins Ukrainische einspeisten. In gewisser Weise nahmen die Übersetzungen den Platz der Originalliteratur ein, die einschneidend zensiert wurde.

© Mila Hryhorenko

Heute findet man gewiss ein paar Gedenktafeln an den Häusern, wo Mykola Lukasch und Hryhorij Kotschur gelebt und gearbeitet haben. Sie haben aus Dutzenden von Sprachen übersetzt und exzellente Übertragungen angefertigt, aber man findet keine weiteren Spuren von ihnen. Ebenso wenig wie von den Eheleuten Olha Senjuk und Jewhen Popowytsch, sie haben Dutzende klassischer und moderner Autoren aus den skandinavischen Sprachen und aus dem Deutschen übersetzt. Oder von Iryna Steschenko und Anatol Perepadja. Mehr Glück hatten diejenigen, die nicht nur Übersetzer, sondern in erster Linie Schriftsteller waren. In den als Museum eingerichteten Wohnungen von Mykola Baschan und Maksym Rylskyj – beide begannen ihre Laufbahn noch in den experimentierfreudigen 1920er Jahren, haben wie durch ein Wunder den Großen Terror überlebt und sind sogar zu den Klassikern der Sowjetliteratur avanciert – erfährt man nebenbei auch etwas über ihren übersetzerischen Nachlass und kann in ihren Manuskripten blättern.

Leider gibt es im urbanen Raum kaum noch Legenden, die sich auf Übersetzungen beziehen. Man erfährt einiges aus Memoiren oder Sachbüchern, doch gibt es kaum noch Personen, die etwas erzählen oder eine thematische Führung machen könnten.

© Mila Hryhorenko

Die Metapher der Stadt als eines Palimpsestes wird nicht selten mit der übersetzerischen Praxis in Verbindung gebracht. In Kyiv hat sie eine weitere ziemlich brutale Dimension: Die rasante Entwicklung der Stadt seit dem Ende der 1990er Jahre und insbesondere in den 2000er Jahren hat nicht nur zur Entstehung neuer Schichten in der Architektur geführt, zeitgleich sind andere ältere Schichten verschwunden: heruntergekommene historische Gebäude im Zentrum der Stadt und abgerissene Stadtviertel machen die Spurensuche im Prinzip unmöglich. Die meisten Einwohner − egal, ob alteingesessene oder zugezogene − finden, dass ihre Stadt immer hässlicher wird (Baugenehmigungen im historischen Zentrum werden mit Verstößen erteilt, die Bauprojekte werden von Personen mit zweifelhaften ästhetischen Vorstellungen erarbeitet) und nicht mehr lebenswert. Manchmal erscheint die Stadt nicht als Palimpsest, sondern als tabula rasa. Und wahrscheinlich sind am Ende wir, denen die Stadt nicht egal ist, dafür verantwortlich, ob sich dieser Prozess der Auslöschung aufhalten lässt.

(c) Dina Artemenko

Dieser Text erschien im Rahmen von Cities of Translators Kiew

Mai 2021

01.12.2020
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Roksolana Sviato (Kyiv) übersetzt aus dem Deutschen, Englischen und Polnischen und schreibt Literaturkritiken. Sie hat die Werke von Hans Robert Jauss, Melinda Nadj Abonji, Martha Hillers, Hertha Kräftner, Timothy Snider, Slavenka Drakulić, Janusz Korczak u.a. ins Ukrainische übersetzt.

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