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Produktive Verwirrung

In seinem wegweisenden Buch über die Übersetzung brasilianischer Literatur Traducir el Brasil. Una antropología de la circulación internacional de las ideas (Buenos Aires, Zorzal, 20031) entwickelt Gustavo Sorá eine Reihe wichtiger Argumente über den Literaturmarkt, Literaturagent∙innen und die Auswirkungen historischer und kultureller Prozesse auf die Geschichte der Übersetzung brasilianischer Texte in Argentinien. Über die ausgiebige Untersuchung von Übersetzungen, Texten, Buchmessen, Autor∙innen, Übersetzer∙innen und anderer konkreter Daten hinaus, interessiert mich an Sorás Buch all das, was hinter den Fakten liegt, was Gebiete der Übersetzung und vor allem der literarischen Übersetzung erhellt, die nicht immer, obwohl sie ziemlich offensichtlich sind, berücksichtigt werden. Denn beim Übersetzen eines Textes übersetzt man nicht einfach eine Sprache, sondern in erster Linie eine Literatur. Und so wie dieser übersetzte Text in der „Ziel“-Literatur eine Wirkung entfaltet, hat die Tatsache der Übersetzung ihrerseits auch eine Wirkung auf die „Ausgangs”-Literatur.

Cover der ersten Ausgabe von Graciliano Ramos' Roman Vidas secas (1938). (Quelle:  http://graciliano.com.br/site/obra/vidas-secas-1938/)

Eine Anekdote verdichtet diese doppelte Bewegung gegenseitiger produktiver Verwirrung, die durch die Übersetzung entsteht. Bei seiner Recherche fand Sorá einen Briefwechsel zwischen Benjamín Garay, einem der umtriebigsten argentinischen Portugiesischübersetzer der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, und Graciliano Ramos, dem bedeutenden Schriftsteller des brasilianischen Modernismo. Garay, erzählt Sorá, bittet Graciliano, dass er ihm für die Übersetzung und Veröffentlichung in Argentinien „Geschichten aus dem Nordosten, regionale und pittoreske Sachen“ schicke. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich Garay zu dieser Bitte durch einige der „Erzählungen”, die Ramos damals in Brasilien veröffentlicht hatte und die erst a posteriori, nachdem sie zusammengefügt worden waren, als Teile eines auf mehrere Texte verteilten und aus der Perspektive verschiedener Figuren aus dem Nordosten geschriebenen Kaleidoskops Vidas Secas, den großen modernistischen Roman brasilianischen Regionalismo, ergeben sollten. Dieser „zerlegbare Roman“ – wie ihn ein scharfsinniger Kritiker nannte – bricht mit der linearen Chronologie und der Konzentration auf einen eintönigen und distanzierten Erzähler in dritter Person Singular, die bis dahin typisch für den brasilianischen Regionalismo2 waren, um aus unterschiedlichen Perspektiven ein wahrhaft modernistisches Werk zu entfalten, das im Stile von James Joyce oder Virginia Woolf die Welt zu einer Myriade subjektiver Wahrnehmungen fragmentiert. Nur in diesem Fall – und darin besteht seine große Errungenschaft –, um den trocken brasilianischen Sertão zu betrachten und die dramatischen Folgen seiner periodisch wiederkehrenden Dürren.

Wenn Garay nicht darauf bestanden hätte, „mehr Geschichten aus dem Nordosten“ zu erhalten, wie jene, von denen Ramos noch nicht wusste, dass sie einmal Kapitel eines Romans würden, wäre Vidas Secas vielleicht nie zu einem konkreten Werk geworden. Natürlich ist das eine offensichtliche Kritikerfiktion. Mich interessiert aber nicht, ob sie wahr oder falsch ist – beides wiederrum nicht belegbar –, sondern die Frage, wie sehr die Übersetzung in andere Sprachen Transformationen in „nationalen“ Literaturen und literarischen Feldern auslöst, die über die Kräfte innerhalb der nationalen Grenzen der Kanonbildung hinausgehen.

Ich habe vorhin schon gesagt, dass Übersetzen mehr, als eine Sprache zu übersetzen, bedeutet, eine Literatur zu übersetzen. Nicht nur weil die Aufnahme eines fremden Textes in eine Literatur in ausländischer Sprache in einen anderen Kanon einbricht und dort Dispositive entfaltet, Inhalte und „Sprechweisen“ – schon nicht mehr allein Sprachen, sondern Sprachregister, Ideolekte und sogar vielfältige – bis dahin unbekannte – Sprichwörter, welche die Zielsprache zwingen (oder zwingen sollten), sich zu öffnen und in ihrer eigenen Nationalliteratur Inspirationen zu suchen, um diese ausländischen Neuheiten zum Ausdruck zu bringen.

Als ich Anfang des 21. Jahrhunderts selbst Vidas Secas übersetzte, musste ich Inspirationen bei der Lektüre argentinischer Schriftsteller∙innen suchen, die zwar nicht davon abließen, auf „regionale Geschichten“ zurückzugreifen, aber wie etwa Héctor Tizón mit allen Wassern der Moderne gewaschen waren, um die gleichzeitig regionalistischen und avantgardistischen Pirouetten des großen Ramos in die argentinische Literatur – und nicht nur ins Spanische – befördern zu können.

Der Ursprung der sprachlichen Teilung: Auf der Cantino-Welt von 1502 (Ausschnitt) ist schon die Grenze zwischen den spanischen und den portugiesischen Gebietsansprüchen auf die noch nicht vollständig „entdeckten“ Amerikas eingezeichnet.

In unterschiedlichen Momenten der Geschichte der argentinischen Literatur, lösten die aufeinanderfolgenden „Einwanderungswellen“ übersetzter brasilianischer Texte eine Reihe von Effekten aus; wenn sie an unseren Küsten Veränderungen unseres literarischen Kanons auslösten, führten sie auf der anderen Seite des „Vertrags von Tordesillas“3 der lateinamerikanischen Literatur ebenfalls zu Bewegungen der tektonischen Platten, d. h. zur Legitimierung und Delegitimierung von Namen und Positionen. Wenn während der 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts die Internationalisierung der Kultur der Linken und die Exile brasilianischer Schriftsteller∙innen in Argentinien (wie im Fall von Jorge Amado und argentinischer in Brasilien nicht nur die Tatsache des Aufkommens von Übersetzungen erklären, sondern auch die Art des entstehenden Austausches, reicht es, die in den bewegten 1960er Jahren übersetzten Titel zu lesen (etwa Burguesía y proletariado en el nacionalismo brasileño von Helio Jaguaribe4, El libro negro del hambre von Josué Montuello5, La crisis del desarrollismo y la nueva dependencia, herausgegeben von Teotonio dos Santos und Helio Jaguaribe6), um zu verstehen, wie die – transnationalen, aber vor allem lateinamerikanischen politischen und gesellschaftlichen Problematiken jener Jahre (wie die Agrarfrage, die Entwicklungsideologie und die Modernisierung) nicht nur die Auswahl der Titel bestimmen, sondern auch den Ort, der Brasilien in dieser Zeit zugeschrieben wurde – als unerschöpfliche Quelle von Ideen und Intellektuellen, die fähig waren, über all das nachzudenken.

Ab dem Jahr 2000, um hier eine runde Zahl zu nennen, vervielfachen und diversifizieren sich die Übersetzungen brasilianischer Texte. Das hat mit der sogenannten Professionalisierung des literarischen Feldes zu tun, mit Messeauftritten, Literaturagent∙innen und Übersetzungsförderungen. Auch wenn natürlich weiterhin ältere Texte und Klassiker übertragen werden, scheint ein großes Interesse an dem, was aktuell in Brasilien veröffentlicht wird, zu erwachen, einhergehend mit dem nicht nur in Argentinien oder Brasilien, sondern weltweit erneuerten Interesse an Literatur und darüber hinaus an zeitgenössischer Kunst.

Was die argentinische Literatur anbelangt, glaube ich, dass diese neue Welle brasilianischer Texte geholfen hat, eine Art Synchronität zweier Literaturen herzustellen, die sich bis dahin nur zu sehr wenigen Momenten der Geschichte ergeben hatte. Es erscheint mir nicht abwegig zu behaupten, dass diese Synchronität außerdem dazu geführt hat, dass sich die argentinische Literatur dank dieser Injektion der übersetzten zeitgenössischen brasilianischen Literatur in eine andere Literatur verwandelt hat.

Dieser Beitrag ist Teil des Kapitels IV. Unerhörte Leidenschaft. Eine zufällige Begegnung, ein Buch im Schaufenster eines Antiquariats – wie aus Leser·innen Übersetzer·innen werden. Zum Inhaltsverzeichnis siehe hier.

Fußnoten
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©Maite Fernández

Florencia Garramuño hat einen PhD in Romance Languages and Literatures an der Princeton University. Sie leitet den Geisteswissenschaftlichen Bereich der Universidad de San Andrés in Buenos Aires und ist unabhängige Forscherin des CONICET. 2008 erhielt sie das Stipendium der John Simon Guggenheim-Foundation. Von ihr erschienen unter anderem die Bücher Modernidades Primitivas: Tango, Samba y Nación, La experiencia opaca und Mundos en común. Sie hat Texte von Silviano Santiago, Clarice Lispector, Graciliano Ramos und Ana Cristina Cesar aus dem Portugiesischen ins Spanische übersetzt.

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