Eine Blume am Revers des Elends
Meine erste Begegnung mit dem Wilden Portunjoll fand 2006 auf der Latinale statt, dem mobilen lateinamerikanischen Poesiefestival: Ich stand vor Douglas Diegues, dem Dichter, den ich übersetzt hatte, und war sprachlos. Mein Kopf hatte zwei Kästchen zur Verfügung, Portugiesisch oder Spanisch (obwohl mein Spanisch damals eher auch eine Art Portunhol war), und da vor mir jemand stand, der konsequent beides vermischte, fand keine der Sprachen ihren Weg über meine Lippen.
Portunhol/Portuñol, zu Deutsch Portunjoll1, wird in Südamerika in all den Grenzgebieten gesprochen, wo Portugiesisch- und Spanischsprecher·innen aufeinandertreffen. In Uruguay wird die Sprache deshalb auch – wunderschön! – fronterizo/fronteiriço genannt, also grenz(länd)isch. Sie ist selbst allerdings grenzenlos, denn sie arbeitet mit dem potenzierten Wortschatz zweier Sprachen, bietet rein mathematisch betrachtet also schon unendlich viel Variationsmöglichkeiten, ohne dabei mit festen Regeln der Kombination ausgestattet zu sein. Portunhol ist weder Stilmittel noch Kunstsprache, sondern Alltagssprache, die von den 600 Millionen portugiesisch- und spanischsprachigen Menschen dieser Welt verstanden wird. Und dann gibt es noch das Wilde Portunjoll, das Portunhol selvagem, um das es hier gehen soll, und das, so wird kolportiert, am 8. Dezember 2007 (also nach meiner Begegnung mit Douglas Diegues) in Asunción bei einem Literaturtreffen und viel Rotwein das Licht der Welt erblickt haben soll. Das Wilde Portunjoll ist so wild, dass jede·r selbst seine Zusammensetzung bestimmt, neben Portugiesisch und Spanisch kommen Guaraní, Guarañol oder andere indigene Sprachen hinzu, aber auch „arabische, chinesische, deutsche, spanglische, französische, koreanische Worte“, so Douglas Diegues, der zu den Begründern dieser Sprache zählt.
Douglas Diegues wurde 1965 in Rio de Janeiro als Sohn einer spanisch-guaraní-sprechenden Mutter und eines brasilianischen Vaters geboren und wuchs in Ponta Porã, einer Stadt in Matto Grosso do Sul, im Süden Brasiliens an der Grenze zu Paraguay auf. Er schrieb zunächst auf Portugiesisch, sagt aber von sich selbst, er habe immer das Gefühl gehabt, es sei nicht er, der da schreibe. Sein Gedichtband Dá gusto andar desnudo por estas selvas: sonetos salvajes (2002)2 gilt als der erste Gedichtband in Portunjoll, der im Bereich der hispanoamerikanischen Literatur veröffentlicht wurde.3 Weitere Gedichtbände folgten, aber auch Übersetzungen aus dem Englischen, Spanischen, Portugiesischen ins Wilde Portunjoll. So gibt es zum Beispiel von ihm eine Bersión transfernandopessoadelirada al portunhol selvagem4 des berühmten „Poema em linha recta“ von Álvaro do Campos. Douglas Diegues führt den Blog portunhol selvagem und gründete 2007 den Verlag Yiyi Yambo, ein Cousin des argentinischen Verlags Eloísa Cartonera, der Bücher aus recyceltem Karton veröffentlicht.
Auf obigem Foto ein Exemplar des Gedichtbandes Uma Flor na solapa da miseria von Douglas Diegues in einer Eloisa Cartonera-Edition. 2021 ist das Online-Literaturmagazin Ventilador literário hinzugekommen, mit Texten auf Portugiesisch, Spanisch, Portunjoll und Wildem Portunjoll. Hervorzuheben ist auch die Guarani-Gedicht-Anthologie Kosmofonia mbya guarani, die Diegues 2006 gemeinsam mit dem Anthropologen und Musikologen Guillermo Sequera herausbrachte, uallemannd die Übersetzungen, Essais, Interviews, eine CD und Transkriptionen von Gesängen der Guaraní enthält. Douglas Diegues lebt heute in der paraguayischen Hauptstadt Asunción.
Zur Kunst erhobene Alltagssprache
Wildes Portunjoll ist also eine zur Kunst erhobene Alltagssprache, die sich nicht festlegen lassen will, weder in ihrer Grammatik, noch in ihrem Wortschatz. Das angeblich Fehlerhafte, das jeder Mischsprache in der Logik der Nationalsprachen anhaftet, wird zum Prinzip erhoben. Dazu gehört, dass jede·r Nutzer·in ihr·sein·e eigene Spielart verwendet: Verlautlichungen, wie die Verwendung des „b“ statt des „v“ bei spanischen Wörtern, die Verwendung von Buchstaben wie dem „k“, das weder im portugiesischen noch im spanischen Alphabet vorkommt, jedoch zur Verschriftlichung indigener Sprachen verwendet wird, und überhaupt ist diese Sprache durch Fluidität gekennzeichnet, was die Verwendung der unterschiedlichen Sprachen und Schriftzeichen betrifft.
„Konventionnelles Portunjoll ist so etwas wie PapaMama. Wildes Portunjoll ist mehr oder weniger Kamasutra. Konventionnelles Portunjoll ist ziemlich bisexuell. Wildes Portunjoll ist eher polisexuell. Achtung: das Wort ‚wild‘ bezeichnet die Herkunft des Portunhol Selvagem, die Urwälder des Dreiländerecks, und meint nicht etwa ,unzivilisiert‘ oder ‚roh‘…“.
Douglas Diegues
Eigentlich hätte ich diesen Abschnitt ins … ja, in was? übersetzen müssen … Egal, wie ich es drehe und wende, es gibt in meiner Zielsprache kein Äquivalent, das nur annähernd die zahlreichen Schichten des Wilden Portunjoll beinhalten würde. Zu allererst gibt es keine weitere eigene, dem Deutschen so ähnliche Nationalsprache, dass sie von den Sprecher·innen beider Sprachen verstanden werden könnte und man daraus eine literarische Sprache schöpfen könnte. Es gibt Grenzregionen, in denen Dialektvarianten grenzüberschreitend gesprochen werden, insofern griff ich bei meinem ersten Versuch, mich einer Übersetzung zu nähern, auf meine Drittsprache zurück, das Alemannische – im „Dreiländereck“ und in der Schweiz in Variationen gesprochen – und mischte es mit … nennen wir es Hochdeutsch.
Ohne Titel5
Viecher die Profit abwerfen
Viecher wo keiner ebbes davon hett
Viecher die fluoreszieren
Viecher wo mit Blume nix am Hut hän
Viecher wo ondre Viecher ufffresse
Viecher die sich ziemlich zieren – oder tierisch riechen
Viecher aus Mist und Mysterium
Viecher uffm Acker und vun dert obbe
Viecher die erotisch sind oder paranoid
Viecher wo ma halt kennt oder wo exotisch sinn
Viecher die Milch geben
Viecher die gibt's gar net
kennt fascht ein Stück von sellem berühmten Ionesco sein
Viecher, dass kein Viech ebbes zu bruddle hett.
Aber was ist Hochdeutsch, wenn nicht eine Fiktion? Eine im Duden festgehaltene Fiktion, zu der auch die sogenannten Fremdwörter gehören (können wir dieses Konzept endlich abschaffen?), aber auch Anglizismen, Romanismen und vieles mehr. Jede Sprache ist, zumal in globalisierten Zeiten, eine Mischsprache, man kann die Mischung in der Übersetzung aus dem Wilden Portunjoll noch etwas forcieren:
wenn die Sonne ganz klar chattet6
in der kalten Matinee –
und hello silence nicht lügt –
ist jeder don't worrywenn alles wie eine totally cold
und never ending Farce erscheint
ein Sodburning erregender Schwindel
selbst dann ist jeder don t worryund danach – after dem ganzen Business – Charme all inclusive
bevor the meat meets Würmer –
hast du ein besseres Feeling – Reimen hat dir den Tag upgegraded
selbst dann ist fast jeder donʼt worryso many details, my Love, unter der Sonne, die never ever zu chillen scheint
selbst dann ist jeder jeder jeder unbedingt donʼt worry
Misstöne vom Rande der Gesellschaft
Allerdings stieß ich mit Denglisch als Übersetzungssprache an unerwartete Grenzen: Aus einem poetischen, zärtlichen Text über das Wilde Portunjoll und seine Sprecher·innen wäre ein cooler, flapsiger Text geworden. Denn Denglisch zu sprechen ist ein Zeichen von Coolness, die Sprecher·innen wollen sich abheben. Beim Wilden Portunjoll7 hingegen geht es gerade nicht ums Distinguieren, sondern darum, in einer politischen Geste einem Alltag, der oft mit Armut und Gewalt einhergeht, und seiner Sprache einen Wert zu verleihen.
Am nächsten kommen dieser Geste im deutschen Sprachraum sicherlich Feridun Zaimoglu mit Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) sowie Tomer Gardi mit broken german (2016). Auch der in Deutschland lebende, brasilianische Schriftsteller Zé do Rock schreibt in seiner ganz eigenen Sprache, die Dichterinnen Dagmara Kraus und Uljana Wolf schreiben vielsprachig, und sicherlich habe ich viele vergessen, es tut sich da so einiges in der Literatur dieses Landes. Auch meine eigenen Texte sind über die Jahre immer polyphoner geworden, in dem Maße, in dem ich es aufgegeben habe, meine Vater- und Muttersprache metikulös zu trennen. Die Frage danach, wie man hybride Texte oder Mischsprachen übersetzt, ist also eine fortdauernde, auf die es wohl, wie bei jeder Übersetzung, immer nur jedes Mal eine neue, nicht definitive Antwort geben kann.8 Hier ist sicherlich die Übersetzung von Uljana Wolf des englisch-galicisch-portugiesischen Gedichtbandes O Cadoiro9 von Erin Moure hervorzuheben, in der sie unter anderem Mittelhochdeutsch verwendet, sowie die Übersetzung des paraguayischen Dichters Jorge Kanese in dem Band Die Freuden der Hölle von Léonce Lupette10, der eine eigene lautmalerische Deutsch-Türkisch-Mischsprache für einige der Gedichte Kaneses entwickelte.
Aber beiden Ausgangstexten war eine hohe Gemachtheit zu eigen. Die Gedichte von Douglas Diegues hingegen sind sehr nah an der Alltagssprache, sind genauso, wie er spricht. Ich selbst spreche hin und wieder mit französischen Freund·innen, die lange in Berlin leben, Französisch mit deutschen Einsprengseln, weil manche deutsche Begrifflichkeiten in der Übersetzung ihre Präzision verlieren würden und wir beide wissen, wovon die Rede ist. In die andere Richtung habe ich wenig Gelegenheit zu dieser Mischsprache. Sie wäre für deutschsprachige Leser·innen, die selbst nicht Französisch sprechen, auch nicht verständlich. Und da ich der Kanaaksprak nicht mächtig bin (es also ein künstliches Unterfangen gewesen wäre, mich ihrer zu bedienen), probierte ich weiter aus, was möglich wäre. Zum Beispiel eine Fassung ins Denglitasösisch:
Der Sambista hat keine vie en rose11
stimmt der Samba, ist basically die Entourage famos
no chance heißt die Chance ist mein
wie 25 Stunden täglich die target eines Torpedos seinhappy singe ich und mein Magen ist empty
mein Samba is different hey
ich spiele hinter dem goal, kann aber auch avanti avanti
mañana versprech ich das mangiare von yesterdaywer amore für Samba hat never gives up
alle sind totally crazy und drehn völlig ab
wieder einmal steigt o sole mio für alle zum sky
nur weil er von rien de rien lebt, ist der Sambista keine AugenwischereiI donʼt care ob mit Erfolg oder ohne
der Samba ist meine revoluzione.
Sicher ist: ich habe mich beim Übersetzen terriblement amüsiert, und das alles kann immer nur ein Anfang sein, dem totally personal Zufall überlassen. Weitere hochpotenzierte Versionen aus anderen totally personal Zufällen heraus könnten folgen, eine ins Unendliche weisende Anzahl von Übersetzungsvarationen aus dem Wilden Portunjoll ins … alles halb so wild! nʼest-ce pas?
Dieser Beitrag ist Teil des Kapitels II. Meister ihres Fachs. Mittelalterliche Verse, Texte in Mischsprachen, zeitgenössische Theaterstücke – mit welchen Strategien begegnen Übersetzer·innen anspruchsvoller Literatur? Zum Inhaltsverzeichnis siehe hier.