Cities of translators Minsk Die belarussischen Schicksale des russischen Onegin
by de

Die belarussischen Schicksale des russischen Onegin

Eine Spurensuche

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte von player.vimeo.com angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. TOLEDO hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Im Juni 1941 lagen in Minsk gleich in zwei Privathaushalten Reinschriftmanuskripte einer belarussischen Übersetzung des Jewgeni Onegin: eines von Aleś Dudar in seinem Zimmer in der vulica Pravadnaja, das andere von Arkadź Kulašoŭ in einer Wohnung in der vulica Maskoŭskaja.

Diese beiden Minsker Adressen sind kaum 500 Meter voneinander entfernt. Das betreffende Hauptstadtviertel hieß im Volksmund „Dobryja mysli“ (Gute Gedanken) – eine einstige Arbeitersiedlung, hauptsächlich für Eisenbahner, da hier einer der Minsker Bahnhöfe lag, mit Schienenwegen nach Brest und Libau, unablässig wurden Waggons be- und entladen, Züge zusammengestellt, Lokomotiven repariert, und gleich hinter dem Bahnhofsgebäude befand sich die Schenke „Dobryja mysli“, wo die Männer ihre freie Zeit zubrachten und aufgebrachte Frauen ihre allzu lange aushäusigen Ehegatten einsammelten.

Beim ersten Luftangriff im Juni 1941 – das Viertel war bombardiert worden, um die Eisenbahnanlagen zu zerstören – brannte ein Teil der Häuser ab. Auch das Manuskript in der Maskoŭskaja verbrannte. Kulašoŭ und seine Familie waren hinter die Frontlinie geflohen, für Hab und Gut gab es keine Rettung mehr. Die Seiten mit den ebenmäßigen Zeilen aus dem Haus in der Pravadnaja nahm während desselben Luftangriffs die Mutter des Übersetzers mit. Ihr Sohn, der belarussische Lyriker Aleś Dudar, war 1937 erschossen worden, und die Onegin-Übersetzung – alles, was der Mutter nach Durchsuchungen und Konfiszierungen noch von ihrem Sohn geblieben war –, hütete sie wie einen kostbaren Schatz.

Und doch wurde Kulašoŭ offiziell zum ersten Übersetzer des Onegin ins Belarussische. Zurück in Minsk machte er sich erneut an die Arbeit, seine Übersetzung wurde 1947 mit einigem Pomp in der UdSSR publiziert. Das gerettete Manuskript Aleś Dudars, dessen Name aus der sowjetischen Literaturgeschichte getilgt worden war, musste noch 80 Jahre auf seine Veröffentlichung warten.

Aber wir müssen noch weiter zurückgehen, um diese Geschichte, eine der wohl dramatischsten Übersetzergeschichten der Weltliteratur, von Anfang bis Ende verstehen zu können. Sie ist ein Spiegelbild des dramatischen 20. Jahrhunderts in Belarus.


1937 sollten in der gesamten UdSSR groß angelegte Gedenkveranstaltungen anlässlich des hundertsten Todestags Alexander Puschkins begangen werden, des russischen genialen Nationaldichters. Da die sowjetische Nationalitätenpolitik die schrittweise, konsequente Einebnung nationaler Charakteristika, Sprachen und Literaturen und ein Aufgehen aller Völker in der russischen Kultur anstrebte, war dieser Jahrestag nicht nur kulturell, sondern auch politisch bedeutsam. In sämtlichen Sowjetrepubliken wurden unter dem Dach eines erlesenen und repräsentativen Moskauer Puschkin-Komitees spezielle Puschkin-Kommissionen geschaffen, die Literaturabende, Gedenkveranstaltungen und die Publikation von Übersetzungen der wichtigsten Puschkin-Werke in den Nationalsprachen zu organisieren hatten.

Alesj Dudar, Foto: © Lidzia Malinina

In der BSSR stand Janka Kupała dieser Kommission vor, der Volksdichter und die größte Autorität der belarussischen Literatur. Zu seinen schwierigsten Aufgaben gehörte es, die Übersetzungen der Puschkin-Werke auf seine Kollegen zu verteilen.

Die belarussische Literatur stand damals unter erheblichem Druck durch die innerrepublikanische und die Moskauer Zensur und durch systematische Repressionsmaßnahmen insbesondere gegen die nationale Intelligenzija. Die Mehrheit der qualifizierten Übersetzer befand sich in der Verbannung, ein Teil der noch nicht Inhaftierten konnte nach zurückliegenden Arreststrafen und Prozessen keine eigenen Texte mehr publizieren und sah deshalb in der Übersetzung, zumal in der staatlich beauftragten, eine Verdienstmöglichkeit und die Chance, wenigstens irgendwie am literarischen Leben Anteil zu nehmen. Auch persönliche Ambitionen werden eine Rolle gespielt haben: Eine Puschkin-Übersetzung von Janka Kupała höchstselbst übertragen zu bekommen, kündete von einem Sonderstatus, war ein Talentnachweis und eröffnete die Aussicht, sich mit seinem Namen in der Weltliteratur zu verewigen.

Mit besonderer Spannung erwarteten alle, wem die Übersetzung des Jewgeni Onegin zufallen würde, jenes ikonischen Versromans der russischen Literatur und poetischen Gipfelpunktes in Puschkins Œuvre. Unter den Lyrikern jener Zeit gab es gleich mehrere ernsthafte Aspiranten auf die ehrenhafte Rolle des ersten Onegin-Übersetzers. Der talentierte Dichter Piatro Hlebka, der tiefsinnige, mit den klassischen Traditionen bestens vertraute Todar Klaštorny, der junge, ausgesprochen ehrgeizige Arkadź Kulašoŭ und schließlich Janka Kupała selbst, ein lebender Klassiker, noch dazu ein professioneller und erfahrener Übersetzer.

Kupała traf eine überraschende Wahl. Obwohl mehrere junge, aufstrebende Dichter, mit denen das Regime keinerlei Schwierigkeiten gehabt hätte, hoch gehandelt wurden, übertrug er die Übersetzung des Onegin einem Lyriker, der eigentlich im Literaturbetrieb als Unperson galt. Nach zwei Haftstrafen und einer zweijährigen Verbannung konnte er keine eigenen Bände mehr veröffentlichen, wurde kaum gedruckt und bei Initiativen von solcher Tragweite nie berücksichtigt. Dabei war er tatsächlich einer der erfahrensten und begabtesten Belarussischübersetzer – linguistisch vortrefflich beschlagen beherrschte er Deutsch, Französisch, Polnisch und Ukrainisch und legte die belarussischen Erstübersetzungen von Goethes Faust, Heines Wintermärchen, Schillers Wilhelm Tell und Beaumarchais‘ Le mariage de Figaro vor. Vor seiner Verfolgung aus politischen Gründen war Aleś Dudar (eigtl. Alaksandr Dajlidovič) einer der auffälligsten jungen Dichter belarussischer Sprache gewesen, der von Kritikern für seine hohe poetische Kultur und seinen schöpferischen Wagemut gerühmt wurde.

Dudar stürzte sich mit Feuereifer in die Übersetzung und konnte sie schon nach relativ kurzer Zeit vorlegen, wie es der Verlagsvertrag vorsah. Der Plan der Puschkin-Kommission sah vor, dass alle Übersetzer ihre Arbeiten zum 1. November 1936 einzureichen hatten. Aleś Dudars Reinschrift lag Ende Oktober vor.

Am 31. Oktober wurde er verhaftet. Bei der groß angelegten Durchsuchung des Hauses an der Pravadnaja wurden Briefe, Entwürfe und Dokumente mitgenommen, fast alles, mit Ausnahme des für die Ermittler uninteressanten Onegin. Ein Jahr darauf, zahllose Verhöre und unmenschliche Folterungen später, wurde Aleś Dudar außergerichtlich von einer „Troika“ zum Tod durch Erschießung verurteilt und am 29.10.1937 mit 108 weiteren belarussischen Kulturschaffenden hingerichtet. Unter den Erschießungsopfern jener Nacht befanden sich auch mehrere Angehörige der Puschkin-Kommission.

So konnte die BSSR ihre Verpflichtungen gegenüber dem Moskauer Puschkin-Komitee nicht erfüllen. Die ausgewählten Puschkin-Werke in belarussischer Übersetzung wurden nicht veröffentlicht, da gegen mehrere der beteiligten Übersetzer im Februar 1937 Ermittlungen liefen. Einige Werke wie der Onegin gingen gar nicht in Druck, andere erschienen als Einzelbändchen, in denen der Übersetzername entweder gar nicht genannt oder unkenntlich gemacht wurde.

Fast unmittelbar nach der Verhaftung Dudars machte sich Arkadź Kulašoŭ an die Übersetzung des Onegin, ein jüngerer Kollege Dudars, der in jenen Jahren gerade poetisch zu reifen begann. Vier Jahre steckte er in die Übersetzung und schloss sie im Juni 1941 ab. Das Manuskript, das er nicht mehr beim Verlag hatte abliefern können, verbrannte bei den ersten Bombardements der Luftwaffe.

Bei seiner Rückkehr nach Minsk konnte Kulašoŭ die Übersetzung nicht einfach rekonstruieren, auch Aufzeichnungen und Entwürfe waren verbrannt. Also übersetze er noch einmal von vorn. Im Jahr 1947 hatte die belarussische Literatur endlich ihre offizielle Onegin-Übersetzung – als letzte aller Sowjetrepubliken.


Lange Jahre galt die Kulašoŭ-Übersetzung in allen Lexika, Enzyklopädien, Lehrwerken und wissenschaftlichen Monografien als die erste (und einzige), Hinweise auf die Dudar-Übersetzung gab es natürlich nirgends. Diese kannte zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch eine Handvoll Experten, freilich als verlorenen Text, als einen von vielen verlorenen Texten der erschossenen Generation.

Arkadź Kulašoŭ

Dabei hatte die Familie Dudar die erste belarussische Übersetzung all die Jahre aufbewahrt: zunächst seine Mutter Volha Ivanaŭna Dajlidovič, nach deren Tod ihre Enkelin Lidzija Markaŭna Malinina, eine Nichte des Übersetzers. Nach der Rehabilitierung der Stalin-Opfer brachte Lidzija Malinina, selbst Philologin, in den 1960er Jahren sogar eine Schreibmaschinendurchschrift der Übersetzung zu Arkadź Kulašoŭ, da sie hoffte, er könnte zu ihrer Veröffentlichung beitragen. Aber sie bekam die Papiere einige Wochen später wieder zurück. Damit bestand für die Erben des Erstübersetzers keinerlei Hoffnung mehr auf eine Veröffentlichung des Manuskripts.

Ich erfuhr von der Existenz der ersten belarussischen Onegin-Übersetzung zuerst durch die Memoiren von Siarhiej Hrachoŭski, dann aus einer Erzählung von Mikoła Chvedarovič, beide repressierte Schriftsteller und Überlebende des Stalinterrors, denen es gelungen war, die ermordeten Freunde in ihren Erinnerungen zu erwähnen. In beiden Fällen handelte es sich um Erinnerungen an eine Lyrikveranstaltung in Minsk vom 18. Oktober 1936. Bei dieser Veranstaltung sollten die an der Werkauswahl Puschkins beteiligten Übersetzer ihre Ergebnisse vorstellen. Janka Kupała las Auszüge aus Der eherne Reiter, Piatro Hlebka und Aleś Zvonak weitere Nachdichtungen. Als einer der Vortragenden wurde auch Aleś Dudar genannt, der das sechste Kapitel des Onegin gelesen habe.

Das war eine große Überraschung für mich – es war sehr unwahrscheinlich, dass Dudar auf eigene Faust nur das sechste Kapitel übersetzt haben sollte, die vorherigen aber nicht. Also musste es eine vollständige Übersetzung geben, zumindest für sechs von acht Kapiteln. Das bedeutete aber auch, dass die Leitung des Schriftstellerverbandes diese Übersetzung in Auftrag gegeben hatte, wurden doch bei dieser Veranstaltung ausschließlich derartige Auftragsübersetzungen präsentiert. Alles deutete darauf hin, dass die belarussische Literatur noch über einen anderen Onegin verfügte, nicht den kanonischen Kulašoŭ, sondern einen unbekannten Dudar. So entwickelte ich die fixe Idee, letzteren ausfindig zu machen.

Meine Suche nach dem Manuskript Aleś Dudars begann in den Archiven von Verlagen und Literaturverbänden, dann in Privatarchiven damaliger Kritiker und Literaturwissenschaftler, später suchte ich in den wenigen offen zugänglichen Archiven der Zensurkomitees. Die üblichen Nachforschungen blieben ergebnislos – ich fand keinerlei Spuren des Manuskripts oder Vorarbeiten dazu. Also musste ich das Pferd von hinten aufzäumen und Zeitungsmappen und die Chroniken von Literaturzeitschriften durchforsten. Dort wurden Neuigkeiten aus dem literarischen Leben veröffentlicht, darunter auch die Rechenschaftsberichte des Moskauer Puschkin-Komitees und der belarussischen Puschkin-Kommission. Dort stieß ich auf die ersten Fingerzeige. Mehrere Hinweise auf die Frage der Puschkin-Übersetzungen fanden sich in Protokollen des Schriftstellerverbandes. Aus nicht genannten Gründen wurde die Übersetzung 1938 kurzfristig und endgültig Arkadź Kulašoŭ übertragen; aus diesem Beschluss sprach eine psychische Anspannung, wie sie in offiziellen Protokollen höchst selten anzutreffen war.

Auch Teile des Textes selbst konnte ich ermitteln: Zwei Kapitel der Übersetzung waren in damaligen Periodika veröffentlicht, Hinweise darauf aber aus Nachschlagewerken und wissenschaftlicher Sekundärliteratur entfernt worden. So blieb als letzte Möglichkeit die Suche nach dem Familienarchiv. Nur gestaltet sich diese, im Falle der erschossenen Literaten, stets äußerst schwierig.

Es war davon auszugehen, dass der Dichter keine Nachkommen mehr hatte – er war mit 32 Jahren erschossen worden, kinderlos und unverheiratet, und zur väterlichen Seite der Familie waren keine Informationen erhalten. Nur durch Einträge in Archivakten konnte eine Nichte ausfindig gemacht werden. In den 1980er Jahren hatte sie einem Minsker Archiv fünf Fotografien Dudars vermacht und dabei ihre Telefonnummer hinterlassen.

Als ich auf gut Glück diese Nummer wählte, die Mitarbeiter des Archivs für Literatur und Kunst mir überlassen hatten, und diese alte Frau sagen hörte: „Natürlich, kommen Sie vorbei, ich habe das vollständige Manuskript des Onegin hier“, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es grenzt an ein Wunder, dass dreißig Jahre später die Nummer noch dieselbe, die Dame selbst nicht verzogen oder verstorben war und dass sie das Manuskript ohne jegliche Aussicht auf Veröffentlichung noch immer aufbewahrte.

Mittlerweile ist der erste Onegin in der Übersetzung des erschossenen Dichters Aleś Dudar zweimal veröffentlicht worden: In einer Werkauswahl und als Einzelband, in dem der Originaltext Puschkins, die Dudar- und die Kulašoŭ-Übersetzung parallel gesetzt sind, Zeile neben Zeile. So können Leser und Wissenschaftler die Verfahren der Übersetzer nachvollziehen, die Besonderheiten der Übersetzungsentscheidungen bewerten und Einsichten in die Stilistiken der Übersetzungen, den Sprachstand und die Übersetzungspraxis gewinnen.

In der Synopse wird offenkundig, wie stark die Person des Übersetzers und seine Arbeitsweise die Übersetzung beeinflusst.

Aleś Dudar, der in seinen publizistischen Texten den Gedanken der Selbständigkeit und kulturellen Eigenständigkeit von Belarus rigoros verfocht, sich der Russifizierung aktiv widersetzte und auf eine europazentrische belarussische Literatur hinarbeitete, belarussifiziert den Puschkin-Text merklich mit Phraseologismen, mit der Bevorzugung syntaktischer Strukturen, die nicht dem Russischen entlehnt sind und der Entscheidung für originär belarussische Entsprechungen. Gleichzeitig ist ihm daran gelegen, den Gesamteindruck des Textes systematisch zu erhalten. Gekonnt gibt er den puschkinschen Humor, Ironie und sarkastische Einwürfe wieder, hält sich an das Lautbild und in Synonymreihen an die Wortfolge.

Arkadź Kulašoŭ, der seine Übersetzung vor dem Hintergrund der totalen Zerschlagung der nationalen Intelligenzija angefertigt hat, entscheidet sich für russifizierte lexikalische und syntaktische Einheiten, ersetzt Phraseologisches nicht durch belarussische Entsprechungen, sondern entlehnt aus dem Russischen. Auch opfert er die Exaktheit der Übersetzung zugunsten von Leichtigkeit und Lesbarkeit – sein Text ist tatsächlich lesbarer und klangvoller, büßt dabei aber in den langen Aufzählungen Puschkins manches Wort und Detail ein. Kulašoŭs dichterisches Schaffen ist von großer Ernsthaftigkeit geprägt, in der Übersetzung geht ein Gutteil der puschkinschen Ironie verloren, wenn Scherze als Tatsachen und ironische Bemerkungen als Feststellungen wiedergegeben werden oder die angesichts der prüden sowjetischen Moral besonders heiklen „intimen“ humoristischen Zeilen Puschkins bisweilen gänzlich unter den Tisch fallen.

Auch in ihrer Grammatik unterscheiden sich die beiden Übersetzungen. Im Jahr 1934 trat in der BSSR eine berüchtigte Rechtschreibreform in Kraft, die als Orthografiereform deklariert wurde, aber auch Lexik und Grammatik betraf. Die Regeländerungen bewirkten faktisch eine Annäherung der belarussischen an die russische Sprache, indem sie belarussische Texte ihrer charakteristischen phonetischen, lexikalischen und grammatikalischen Eigenheiten beraubten. Die Beibehaltung der alten Normen war unter diesen Umständen ein bewusster Akt des nationalen Widerstands. Wenngleich dies in Fragen der Rechtschreibung nicht möglich war (die Texte wurden ohnehin korrigiert), widersetzten sich national gesinnte Dichter und Übersetzer beharrlich auf tiefer liegenden linguistischen Ebenen.

Die Sprachen Dudars und Kulašoŭs weisen lexikalisch wie syntaktisch deutliche Merkmale für die Schreibung vor und nach der Sprachreform auf. Während Dudar sorgsam sowohl die typischen prothetischen Laute, als auch belarussische grammatische Strukturen bewahrt, folgt Kulašoŭ der akademischen russifizierten Grammatik.

Für Übersetzer·innen und Übersetzungswissenschaftler·innen ist es ein großes Glück, dass diese beiden belarussischen Versionen des Jewgeni Onegin vorliegen. Ihre Entstehungs- und Editionsgeschichte dokumentiert aufs Eindrücklichste die tragische Epoche, mit deren Folgen die belarussische Kultur und Gesellschaft bis heute zu kämpfen haben.

PDF

Hanna Sevjarynec, Foto: © Max Korostelyov

Hanna Sevjarynec wurde 1975 geboren, sie ist Schriftstellerin und Lehrerin, forscht zur belarussischen Literatur und engagiert sich zivilgesellschaftlich. Als Literaturhistorikerin ist sie Spezialistin für die 1920- und 1930er-Jahre und damit auch für die Zeit der Stalinschen Repressionen. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche und publizistische Beiträge, aber auch mehrere Romane und Fachbücher sowie Quellenbände zu diesem Thema verfasst bzw. herausgegeben. Sie wurde mit den belarussischen Literaturpreisen Hlinjany Wjales für den Roman Dzen’ s’wjatoha Patryka (Tag des heiligen Patrick) und Prazrysty Eol für die Feststellung des Entstehungsdatums eines Gedichts von Ales’ Dudar ausgezeichnet, ihr Roman Has’cinica Bel’hija (Hotel Belgien) stand auch auf der Shortlist für den Jerzy-Giedroyć-Preis. Für ihr aufklärerisches Engagement wurde Hanna Sevjarynec von der Zeitung Nasha Niva zum „Menschen des Jahres 2019“ erklärt.

Als zivilgesellschaftliche Aktivistin organisierte und veranstaltete sie Kampagnen zum Erhalt des „Militärfriedhofs“ in Minsk und zum Schutz der Gedenkstätte Kurapaty. Sie ist maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung der jährlichen „Nacht der erschossenen Dichter“, einer Gedenkveranstaltung für die in der Stalinzeit ermordeten belarussischen Literaten, beteiligt.

Verwandte Artikel
Olga Tokarczuk: »Meine Bücher hätte man auch auf Belarussisch schreiben können…«
Von Minsks und Madeleines
Wie Übersetzen Beziehungsräume schafft