Cities of translators Minsk Wie Übersetzen Beziehungsräume schafft
de by

Wie Übersetzen Beziehungsräume schafft

Ich habe mich gerade mit einem Kollegen gestritten. Es ging um Lukas Bärfuss’ Artikel „Die Schweiz ist des Wahnsinns“. Nicht der Inhalt des Streitgesprächs gibt mir Anlass dazu, diese Begebenheit am Anfang dieses Textes zu erwähnen, sondern mein Selbstempfinden dabei. Warum kam ich, die sonst gerne diskutiert, diesmal gar nicht dazu, mit Genuss zu beobachten, wie verschiedene Positionen aufeinanderprallen und dadurch neue inhaltliche Muster entstehen? Ich war zu aufgebracht, zu ungehalten, zu wenig bereit, mich auf die Gegenposition einzulassen, ich war in meinen Reaktionen voreilig. Bei den Sätzen meines Gegenübers wie „Er hätte das und das anders machen sollen“ oder „Er hätte das doch anders machen können?“ stockte mir der Atem und meine Gemütsverfassung war so unüberhörbar laut, dass nicht mal ich selbst meine eigenen Argumente deutlich vernahm. So streite ich nicht – nicht, wenn es um Texte geht, allerdings schon, wenn es um Menschen geht, und zwar um die Nächsten. Bei diesem Streit hatte ich keine Distanz zu dem Text, weil dessen Autor so präsent war. Lukas Bärfuss. Mein Autor.

„Er ist mein Autor“, „Sie ist meine Übersetzerin“ – das sind gängige Formulierungen im Übersetzerumfeld. Als Übersetzer·in tritt man immer in Verbindung mit seinen Autor·innen auf, man wird an ihnen erkannt. Wenn man sich in der Übersetzerrunde vorstellt oder vorgestellt wird, gehören die Namen von übersetzten Autor·innen unvermeidbar zu dem eigenen. Manchmal ersetzen sie sogar den eigenen Namen: „Ich kenne dich, du bist die Übersetzerin von Lukas Bärfuss!“ – ruft eine neu angereiste Kollegin im Übersetzerhaus Looren, ohne auf meinen Namen zu kommen. Und ich habe das Gefühl, sie kennt mich tatsächlich. Zu meinem Namen als Übersetzerin gehören die Namen meiner Autoren. Wie bei den Adligen das regierte Land zum Namen kommt: Der Graf von soundso - Iryna Herasimovich, die Übersetzerin von soundso. Mit jedem neuen Autor verwandelt sich mein Übersetzername und ich selbst verwandle mich auch. Mein inneres Territorium wird um einen Autor größer.

Die Menschen, mit denen wir in eine Beziehung treten, verändern uns, beim Übersetzen ist das nicht anders. Übersetzen ist einer der vielen Wege, wie Menschen zueinander finden, wie ein Fremder zu unserem Nächsten wird; und dieser Weg unterscheidet sich nicht wesentlich von den anderen.

Wie bei jeder Beziehung steht hier am Anfang die Wahl, unsere Entscheidung für den anderen. Und hier ist es immer der Übersetzer, der wählt. Auch wenn es sich um eine Auftragsarbeit handelt, ist der Übersetzende derjenige, der die Entscheidung trifft, im Namen des Anderen zu handeln, dem Anderen einen Raum in der eigenen Muttersprache zu verschaffen, einen Raum, der diesem Anderen möglichst gerecht wird. Und wie in der Liebe oder Freundschaft hat diese Entscheidung viel mehr mit der Anziehungskraft, mit dem Berührt- und Ergriffensein zu tun, als mit irgendwelchen rationalen Erklärungen.

Die Entscheidung, „Koala“ von Lukas Bärfuss zu übersetzen, habe ich getroffen, noch bevor ich das ganze Buch gelesen und es im Verlag vorgestellt habe, lange bevor ich den entsprechenden Vertrag unterschrieb. Es war Bärfuss’ Stimme, die mich zu dieser Entscheidung verleitet hat, als er eine Szene aus dem Buch las. Es war die Kraft der Bilder, die mich ergriffen. Es waren der magische Rhythmus seiner Lesung und seine eigene Ergriffenheit von dem Stoff, von der radikalen Wahrnehmung des eigenen und des fremden Menschseins. Und diese Ergriffenheit vom Menschsein, die uns zu den einsamsten Wesen im Weltall macht und uns gleichzeitig den Weg zum anderen Menschen bahnt, war vermittelbar. Davon zeugte mein eigener Zustand nach der Lesung. Die Fragen meiner Kollegen, wie es mir denn gefallen habe, konnte ich nicht beantworten. Ich sah Lukas Bärfuss vor dem Eingang rauchen, trat hinaus, zündete eine Zigarette an und sagte: „Ich glaube, ich werde Ihr Buch machen“. Denn ich habe ihn gehört, nicht nur mit den Ohren, und ich wollte ihm antworten. Nein, ich wollte auf ihn antworten, als wäre er eine Frage, die die Welt an mich stellte. Die einzige gerechte Antwort auf Lukas Bärfuss, den ich gehört und von dem ich mich angesprochen gefühlt habe, war sein Buch in meine Sprache zu übersetzen, ihm den Raum im Belarussischen zu geben und die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Wie groß war meine Freude, dass er sich an diese Zigarettenpause erinnerte, als wir uns gut ein Jahr später im Übersetzerhaus Looren zu einem Arbeitsgespräch trafen. Ich war in einer seltsamen Stimmung vor diesem Treffen. In das Buch war ich schon so weit eingestiegen, dass ich mich von ihm angegriffen fühlte, von seiner Botschaft, von dieser Sicht, die mich dazu zwang, den Niederlagen, die ich selbst im Leben erlitt, ins Gesicht zu blicken; das war schwer. Ich wollte mit dem Buch nicht allein sein. Man kann die Niederlagen, die zum Menschsein gehören, nur aushalten, wenn man einen anderen Menschen in der Nähe hat, mit dem man die Erfahrungen teilen kann.

Meine Stimmung vor diesem Arbeitstreffen war auch dadurch beeinflusst, dass es kurz nach dem Auftritt von Lukas Bärfuss in Solothurn stattfand, wo er mit dem Bundesrat Alain Berset über Sprache diskutiert hatte und danach zumindest bei uns in Looren in aller Munde war. Von dieser Diskussion war ich tief beeindruckt, kam mir wie von einem anderen Planeten vor, weil ich mir nämlich nicht vorstellen kann, dass ein belarussischer Schriftsteller mit einem belarussischen Politiker so spricht, so wesentlich, so auf das Existenzielle konzentriert. Nach dieser Veranstaltung wurde ich von einer Kollegin gefragt, ob ich denn aufgeregt wäre, er sei doch so ein Star. Es kostete mich Mühe, der Kollegin höflich zu antworten, weil ich selbstverständlich aufgeregt war, weil ich befürchtete, er könnte sich tatsächlich als Star benehmen und eine Distanz aufbauen, so dass mein Bedürfnis nach der menschlichen Nähe, nach dem Mit-diesem-Buch-nicht-allein-zu-sein gar nicht ausgelebt werden könnte. Aber er erinnerte sich an diese gemeinsame Raucherpause in Berlin, und bei dem Arbeitsgespräch ging es nicht nur um Wörter, es ging um unsere Erfahrungen mit dem Buch und nicht nur. Mein Wohlgefühl bei der anschließenden Hauslesung in Looren zeugte unmissverständlich davon, dass der vertrauliche Raum, ohne den kein Übersetzen möglich ist, entstanden war.

Ohne Vertrauen geht es nicht. Das Übersetzen ist eine intensive Intimität des Teilens. Es ist so, als wenn man die Kleidung mit einer anderen Person teilt. Das macht man nicht mit jedem. Beim Teilen eines Textes ist das nicht anders. Er hat diesen Text getragen, die Spuren seines geistigen Körpers sind überall sichtbar. Ich ziehe den Text an, und es dauert, bis er auch mir passt, bis ich ihn eingetragen habe.

Der Besuch von Lukas Bärfuss in Belarus war für mich ein Ausleben des Vertrauens und des Teilens. Die gemeinsamen Erfahrungen bei den Lesungen, die vielen Gespräche, es fielen Namen, die unsere Verbindung noch sichtbarer machten. Immer wieder kamen wir auf Gogol zu sprechen, den wir beide sehr schätzen. Ich zuckte freudig zusammen, wenn bei einem der Interviews der Name Janusz Korczak fiel, der auch für mich von großer Bedeutung ist. Bereits am ersten Tag entstand unser „Wir“, es wurde von unserem Buch gesprochen – immer ein großer Moment für mich, wenn der Autor von unserem Buch spricht. An unserem „Wir“ feilten wir weiter auf den Straßen in Minsk. Ich war mehr als nur eine Begleitung für ihn, denn durch seinen Blick erkundete ich meine eigene Stadt auch selbst ganz anders. Wir entdeckten unser gemeinsames Minsk, es entstanden neue Beziehungsräume, wie zum Beispiel mit Artur Klinau, einem belarussischen Künstler und Autor, meinem engen Freund seit Jahren: Ich konnte mich nicht satt freuen, als wir zu dritt Kaffee tranken und die beiden so miteinander redeten, dass ich mich als Dolmetscherin fast überflüssig fühlte. Es ist wichtig, dass man seine Menschen über die Grenzen hinweg findet, sagte Lukas Bärfuss in einem Interview. Genau darum geht es beim Übersetzen.

Was das Übersetzen so menschlich und universell macht, ist das Verstehen des Anderen. Ist es nicht das, was wir auch sonst mit den Menschen und der Welt machen bzw. machen sollten – verstehen und mit eigenen Worten formulieren?

Woher kam denn meine Aufregung bei dem Streit um den Artikel von Lukas Bärfuss? Was wollte ich schützen? Mir ist nun klar: Das zu meinem Raum gewordene Verstehen wollte ich schützen, die Einwände meines Kollegen empfand ich als Angriff darauf. Am meisten trafen mich die Sätze wie „Wenn er das und das noch geschrieben hätte…“, „Er hätte das doch anders machen können!“ – Nein! Das konnte er nicht. Mein Vertrauen in ihn sagt mir, dass er nichts anders hätte tun können, ohne aufzuhören, Lukas Bärfuss zu sein. Ich wollte meinem Gesprächspartner den Autor Lukas Bärfuss nicht erklären, denn es ist schwer, jemanden erklären zu müssen, und macht ihn kleiner. Ich wollte ihn aber gleichzeitig vor dem Unverständnis schützen. Ich wehrte mich dagegen, dass man von ihm erwartet, anders zu sein. Sind das nicht Zeichen von Nähe und Liebe, dass man nicht will, dass der Andere anders ist?

Mein Streit mit dem Kollegen ging mit einer Feststellung zu Ende: „Du bist zu subjektiv, ist klar, er ist ja dein Autor!“ Und damit war ich voll einverstanden, ich genoss das Recht, subjektiv in Bezug auf meinen Autor zu sein, ging an meinen Arbeitstisch und setzte mich an diesen Text.

 

Erstveröffentlichung: Aargauer Kulturmagazin JULI, Nr. 62.

PDF

Iryna Herasimovich, © Antonina Slobodchikova

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Kuratorin und Übersetzerin. Sie hat Werke von Lukas Bärfuss, Georg Büchner, Monika Rinck, Nora Gomringer, Mehdi Moradpour, Jonas Lüscher, Michael Köhlmeier, Franz Hohler oder Franz Kafka ins Belarussische übersetzt. Bereits dreimal hat sie die Belarussisch-Deutsche ViceVersa-Übersetzerwerkstatt geleitet. Seit 2018 kuratiert sie den übersetzerischen Teil des Forums „Literature Intermarium“ im Künstlerdorf Kaptaruny.

Verwandte Artikel
Wörterbuch des Krieges