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Nachrichten aus einem Bienenstock

Zum Übersetzen belarussischer Lyrik

But the mother of vowels slumps from my throat
like the queen of a havocked beehive.
Valzhyna Mort, Mocking Bird Hotel

Meine Beziehung zum Belarussischen summt wie ein Bienenstock. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ausgeflogen. Meine Beziehung zum Belarussischen trägt die Namen von Lyrikerinnen, die ich übersetzt habe: Volha Hapeyeva, Maryja Martysewitsch, Vera Burlak, Vika Trenas, Valzhyna Mort. Meine Beziehung zum Belarussischen summt wie ein Zug. Meine Beziehung zum Belarussischen ist, dass ich kein Belarussisch kann. Meine Beziehung zum Belarussischen trägt die Namen von Übersetzer*innen, mit denen ich gearbeitet habe: Katharina Narbutovic, Irina Gerassimowitsch, Martina Mrochen, André Böhm. Meine Beziehung zum Belarussischen ist zweigleisig und nie direkt. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Ausflug.

Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Schlafwagen mit kaputtem Samowar. Kranlicht in der Nacht, Echos in Fabrikhallen. An der Grenze bekommt meine Beziehung zum Belarussischen ein neues Fahrwerk. In Gänze bekommt man meine Beziehung zum Belarussischen nie zu Gesicht. Meine Beziehung zum Belarussischen ist sportuntauglich. Meine Beziehung zum Belarussischen springt Bock über die Rücken anderer Leute. In der dritten Klasse geht meine Beziehung zum Belarussischen in eine Russischschule. Mit Fünfundzwanzig lernt meine Beziehung zum Belarussischen Polnisch. In Minsk angekommen, ist meine Beziehung zum Belarussischen ein Diplomat und schluckt vor jedem wodkagetränkten Treffen drei Esslöffel Öl. Meine Beziehung zum Belarussischen summt, hebt das Glas und sagt, der dritte Toast geht immer auf die Liebe.

Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein nächtlicher Blick aus dem dreizehnten Stock des Oktober-Hotels in Minsk. Flutlicht in leeren Straßen, kalte Sonnenstadt, harte Schatten im Regierungsviertel. Bei dem Versuch, meine Beziehung zum Belarussischen aus dem dreizehnten Stock zu fotografieren, stößt das Objektiv an die Scheibe, stößt der Sucher der Kamera ans Auge. Das Objektiv schließt sich seitdem nicht mehr. Meine Beziehung zum Belarussischen hat die Distanz verkannt. Meine Beziehung zum Belarussischen hatte wohl kein Diplomatenöl getankt. Seitdem hat meine Beziehung zum Belarussischen ein braunes, ein blaues und ein lahmes Auge. Seitdem hat meine Beziehung zum Belarussischen einen Tick im Oberlid. Meine Beziehung zum Belarussischen summt wie ein Trinker. Meine Beziehung zum Belarussischen zuckt. Meine Beziehung zum Belarussischen hat einen ziemlichen Zug. Nachts hält meine Beziehung zum Belarussischen auf freier Strecke.

Am Morgen verhandelt meine Beziehung zum Belarussischen mit der Frühstücksmatrone des Hotels über eine zweite Tasse Tee. An diesem Morgen bekommt meine Beziehung zum Belarussischen ihre zweite Tasse Tee nicht. Später ist meine Beziehung zum Belarussischen ein futuristischer Spaziergang vor klatschgrauen Hochhäusern. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Gespräch mit Zmicier Visniou, der im eisigen Wind die Anmut eben jener Hochhäuser preist, wobei er Belarussisch spricht, ich aber Polnisch und Russisch gleichzeitig, ein Rumpeln. Meine Beziehung zum Belarussischen ist eine Straßenbahn. Meine Beziehung zum Belarussischen schneit. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Wirbel, fällt in die Lücke zwischen Hals und Schal, schmilzt.

Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Mitbringsel. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Spaziergang mit Volha Hapeyeva, bei dem wir Deutsch und Englisch sprechen. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Pralinenladen auf der Prachtstraße im wintrigen Minsk, in den mich Volha Hapeyeva mitnimmt. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Parcours aus vielen Frauen, die im Pralinenladen arbeiten und von denen jede eine Aufgabe hat. In meiner Beziehung zum Belarussischen holt die erste Frau die gewünschte Pralinenpackung aus dem Regal, steckt eine zweite Frau die Packung in die Tüte, schreibt eine dritte Frau einen Zettel, lässt eine vierte Frau mich bezahlen, gibt eine fünfte Frau mir die Tüte in die Hand, steckt eine sechste Frau mir mit braun gefleckten Fingern ein Konfekt in den Mund. Die letzte Frau ist erfunden. Obwohl ich weiß, dass diese Arbeitsteilung ein Apparat ist, ein Überbleibsel aus kommunistisch-bürokratischen Zeiten, denke ich für einen Moment, dass meine Beziehung zum Belarussischen dieser Pralinenladen sein könnte. Die letzte, erfundene Frau wäre dann das Gedicht, das entsteht, wenn ich mit meiner Beziehung zum Belarussischen an einer Übersetzung arbeite, die ein Zusammenspiel ist. Meine Beziehung zum Belarussischen dichtet der Arbeit anderer Frauen nach. Und doch ist meine Beziehung zum Belarussischen nicht unbedingt weiblich, nicht unbedingt Übersetzung. Meine Beziehung zum Belarussischen kennt viele Worte, auf die sich „sie“ beziehen kann. Meine Beziehung zum Belarussischen ist immer Plural. Meine Beziehung zum Belarussischen ist das Gegenteil von Apparat. Meine Beziehung zum Belarussischen wehrt sich gegen Bürokratie. Meine Beziehung zum Belarussischen wehrt sich, mit ihrer grenzenüberschreitenden Arbeit, gegen einen Generalissimus, der vorschreiben will, wie Pralinen zu heißen haben, in welcher Sprache man sie isst, wer sie ist, wer schweigen muss.

Am Nachmittag summt meine Beziehung zum Belarussischen wie eine Heizung. Meine Beziehung zum Belarussischen ist warm. Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein Handschuh auf dem Feld, darin Tiere wohnen. Meine Beziehung zum Belarussischen ist eine Interlinearübersetzung mit Strichen und Varianten, die sich wie eine Wanderkarte liest, darauf das Feld, darauf der Handschuh. Alle Möglichkeiten des Ausdrucks hausen darin, verkrempelte Lagen des Sagens, unsichtbare Schichten unterm Pelz. Darum ist meine Beziehung zum Belarussischen mehrsprachig. Darum stottert meine Beziehung zum Belarussischen: nicht weil die Sprache ein Bauer ist, wie der Generalissimus sagt, sondern weil sie Bahnung ist.

Meine Beziehung zum Belarussischen winkt zum Abschied aus dem Zugfenster. Meine Beziehung zum Belarussischen winkt aus dem Hotelfenster. Meine Beziehung zum Belarussischen steigt um. Meine Beziehung zum Belarussischen kennt keine Zielsprache, nur Bahnhöfe in einem durch das Übersetzungsumsteigen wachsenden Transitraum. In Amerika spricht meine Beziehung zum Belarussischen Englisch mit Valzhyna Mort. Sie sagt: Meine Beziehung zum Belarussischen ist ein verstummter Bienenstock, der anderswo summt. Ich sage: Meine Beziehung zum Belarussischen ist nicht mit sich identisch, nicht nationalistisch, sie schmeckt süß von außen. Meine Beziehung zum Belarussischen ist eine Summe aus Zweitsprachen. Meine Beziehung zum Belarussischen übersetzt Valzhyna Morts Gedichte, dirty bird translation die auf Englisch geschrieben sind. Valzhyna Morts englische Gedichte sind wie Übersetzungen aus dem Belarussischen, für die es kein Original gibt, es sei denn mehrere. Meine Beziehung zum Belarussischen begrüßt die Abwesenheit von Originalen in der Vielheit. Meine Beziehung zum Belarussischen ist nicht zu Hause. Meine Beziehung zum Belarussischen ist zweigleisig und nie direkt. Wenn ich Valzhyna Mort aus dem Englischen übersetze, ist meine Beziehung zum Belarussischen verschachtelt und doch beinahe bei sich. Meine Beziehung zum Belarussischen liegt entgegen der Fahrtrichtung im Schlafwagen, fährt über eine Brücke, ist eine Brücke, summt.

 

Berlin, September 2012

 

Erstpublikation auf Belarussisch in: pARTisan Nr. 23, 2012. Auf Deutsch zuerst erschienen in: Uljana Wolf: Etymologischer Gossip Essays und Reden, kookbooks, 2021

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Uljana Wolf, © Alberto Novelli

Uljana Wolf, 1979 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Kulturwissenschaft und Anglistik und lebt als Lyrikerin und Übersetzerin in Berlin. Ihre Gedichte wurden in Zeitschriften und Anthologien unter anderem in Deutschland, Polen, Weißrussland, Ungarn, Bulgarien, Irland, Italien, Schweden und den USA veröffentlicht.

Gedichtbände "kochanie ich habe brot gekauft" 2005, "falsche freunde", 2009; gemeinsam mit Christian Hawkey - die Sonett-Ausstreichungen "Sonne From Ort", 2012. Daneben veröffentlichte sie den Essay "BOX OFFICE", 2010 und zahlreiche Lyrikübersetzungen, vor allem aus dem Englischen. Sie erhielt unter anderem den Peter-Huchel-Preis, die August Wilhelm von Schlegel Gastprofessur für Poetik des Übersetzens 2019, und ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds und der Villa Aurora in Los Angeles. Für den Band von Essays und Reden „Etymologischer Gossip“ wurde sie 2022 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.