Cities of translators Minsk Minsker Landschaft mit Stolperfalle für den Übersetzer
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Minsker Landschaft mit Stolperfalle für den Übersetzer

1. Belarussische Sprichwörter
2. Winterlandschaft mit Schlitten
3. Die Straße der Faulenzer, oder der Sturz des Kosmonauten
4. Babylonische Nahrung
5. Krieg des Platzes mit dem Arbeitszimmer

1. Belarussische Sprichwörter

Manchmal übertreiben es Lokalpatrioten, unabhängig von ihrer Religiosität, mit der Liebe zum Objekt und nennen es Paradies.

„Im eigenen Land ist es wie im Paradies“, sagt ein belarussisches Sprichwort. Und ein zweites fügt hinzu: „Die Schnepfe lebt, wo sie heimisch ist, eine jede preiset den eigenen Sumpf.“ Ich liebe „meinen Sumpf“, die Stadt Minsk, sehr, sowohl menschlich als auch literarisch, und doch vergleiche ich ihn eher mit dem Fegefeuer. Einem besonderen Fegefeuer, nämlich für Übersetzer·innen, in dem, unabhängig meines oder deines Glaubens an die Reinkarnation, zwei- und mehrsprachige Menschen für die linguistischen Sünden ihres vorherigen Lebens büßen.

Diese Sünden erfordern keine Höllenstrafe, schließen aber auch die Belohnung mit dem Paradies kategorisch aus. Wenn jemand zum Beispiel neugierige Kinder veralbert und unangemessene Worte in einer Fremdsprache zu ihnen sagt, die sie nicht verstehen. Oder wenn jemand den ganzen Abend mit einem Ausländer am Tisch, der die lokale Sprache nicht versteht, mit den Freunden in der eigenen Sprache spricht, obwohl er aus Höflichkeit auch die Sprache des Gastes sprechen könnte. Oder andersherum: Wenn jemand die Sprache versteht, die um ihn herum gesprochen wird, und alle denken, dass er nichts versteht – weil er es in keiner Weise hat erkennen lassen. Oder wenn man zum Beispiel das Gespräch eines Belarussen und eines Ukrainers hört, die beide ihre eigene Sprache sprechen und einander vortrefflich verstehen, und von ihnen verlangt, ins „allgemeinverständliche“ Russisch zu wechseln, obwohl man beide wunderbar verstanden hat. Gehört man dafür schon in die Hölle?

Kehren wir lieber in meine Heimatstadt Minsk zurück. Warum nenne ich sie Fegefeuer für den Übersetzer·innen? Weil sie (wie übrigens auch ganz Belarus) genau zwischen freundlicher Offenheit und angespannter Verschlossenheit steht, zwischen der Toleranz der Multikulturalität und dem Konservatismus der einen Kultur, die ihren Vorrang auf Kosten der anderen anstrebt. Manchmal wird dieses Fegefeuer fast schon zum Paradies – wie im Sommer 2020, als hunderttausende russischsprachige Belarussen in den Chor einstimmten und bei den riesigen Protestmärschen belarussische Solidaritätssongs mitsangen. (Und die Belarussischsprachigen wiederum hatten in die russischen Demosprüche eingestimmt, weil sie endlich verstanden hatten, dass der Gedanke wichtiger sein kann als die Sprache, in der er formuliert ist.) Ein ums andere Mal wird das Fegefeuer fast zur Hölle – in den Gerichtssälen des Regimes, wo zu Unrecht Verfolgte einen Prozess in ihrer Sprache (formal der Landessprache in Belarus!) forderten oder wenigstens eine·n Übersetzer·in. Und das natürlich nicht gewährt wurde. Mehr noch, die russische Sprache des Gerichtes war noch das geringste Übel, das ihnen dort widerfuhr.

Am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert war Minsk Teil des multinationalen, vielsprachigen und multireligiösen Staates Großfürstentum Litauen, wo zur Hochzeit der religiösen Polemik theologische Traktate in der Sprache des Gegners geschrieben wurden. (Dafür ist es schließlich eine „Hochzeit“ – man drohte mit der Hölle und dem Scheiterhaufen, man hätte einander bei lebendigem Leibe verbrannt, aber man wandte sich an den Gegner in dessen Sprache.) In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war Minsk die Hauptstadt der Belorussischen SSR, in der es sogar vier Staatssprachen hab: Belarussisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch. Doch dann ging etwas schief – und ein Teil der heutigen Minsker meint, man könne auf Belarussisch keinen komplexen Gedanken äußern, während der andere Teil überzeugt ist, alles auf Russisch Geschriebene gehöre nicht zur belarussischen Literatur und sei zudem a priori zweitklassig und provinziell im Vergleich zur russischen Metropole. Die einen wie die anderen würden sich sehr wundern, wenn sie erfahren, dass vor hundert Jahren die besten Romane über ihre (unsere!) Heimatstadt in polnischer Sprache („Minsker Trilogie“ von Sergiusz Piasecki) und auf Jiddisch („Die Selmenianer“ von Moyshe Kulbak) geschrieben wurden.

Kurz gesagt, die heutige Minsker Übersetzer·in in ihrem Fegefeuer verfügt über eine Menge komplizierte, undankbare, fast „höllische“ – und auch sehr freudvolle Arbeit. Denn Minsk, um es vorsichtig auszudrücken, bedarf noch viel Erklärung seiner selbst an sich selbst; eines unverstellten Blickes auf sich selbst von außen; einer Übersetzung eines Teils seiner selbst in Sprachen, die dem anderen Teil zugänglich sind; einer Sublimation seines fragmentarischen Antlitzes in ein umfassenderes und objektiveres Bild. Es braucht Details, die, wie die Realisten sagten, die Psychologie der Heldenstadt durch ihr Inneres zeigen. Oder die seine Seele durch Landschaften eröffnen, wie es die Romantiker ausdrücken würden. Einige dieser Details sind nicht immer für alle sichtbar und so versuche ich, eine Minsker Landschaft aus meiner sehr subjektiven Perspektive des Lyrikübersetzers sichtbar zu machen.

 

2. Winterlandschaft mit Schlitten

Sewastopoler Park, Foto: © Maxim Korostelyov

Ossip Mandelstam unterteilte alle Gedichte in erlaubte und ohne Erlaubnis geschriebene. Ein mir bekannter belarussischer Dichter unterteilt sie etwas grob in diejenigen, die mit den Beinen und diejenigen, die mit dem Hintern geschrieben wurden. Die Logik ist simpel: letztere muss man „aussitzen“, am Schreibtisch vor dem Computer, die ersteren kommen in den Kopf, während man spazieren geht, wobei nicht selten das Tempo des Schritts den Rhythmus des Gedichts vorgibt. (Ich habe sogar die Legende gehört, dass es in der mittelalterlichen arabischen Lyrik so viele Versmaße gab, wie die Kamele Allüren hatten, doch auch hier kehren wir lieber aus der Wüste in meine Stadt zurück.)

Sewastopoler Park, Foto: © Maxim Korostelyov

Streifzüge durch das Minsker Stadtgebiet sind für Übersetzer·innen sehr zuträglich. Wenigstens in meinem Fall. Besonders in der Nähe meines Hauses in der Nähe des Sewastopoler Parks, wo ich schnell wieder zuhause am Computer bin, ohne die Lösung des einen oder anderen Übersetzungsrätsels vergessen zu haben. Ja, genau vor 10 Jahren, im Dezember 2011, konnte ich sehr gut übersetzen, während ich meine Tochter morgens in den Kindergarten brachte oder sie abends wieder abholte. Die fünfjährige Alena fuhr gerne auf dem Schlitten, aber damals gab es wenig Schnee, so dass ziemlich viel Geschick von mir gefordert war – ziehen, wenn die Kufen nicht wirklich rutschen wollen, gleichzeitig von einem Schneerest zum nächsten lavieren, damit es doch voran ging.

Sewastopoler Park, Foto: © Maxim Korostelyov

So übersetzte ich innerhalb einiger Wochen mehrere Liedtexte des polnischen Barden Jacek Kaczmarski, die ich später auch selbst sang, wie man auf dem Album „Mury“ hören kann. Das Lied „Naš klas“ [Unsere Klasse] kostete die meiste Kraft, brachte aber auch die größte Freude. Sein erster Teil ist eine Aufzählung der über die Welt verstreuten Klassenkameraden und -kameradinnen des lyrischen Ichs, ihrer Namen, Wohnorte und glücklicher oder – häufiger – tragischer Fakten aus der Biografie. Ich zog den Schlitten, wählte Rhythmen, ordnete Worte in Zeilen mit regulärem vierhebigem Trochäus, tauschte manchmal den einen oder anderen Namen gegen die Kurzform oder einen ganz anderen Namen aus, wobei ich aber das polnische Kolorit beibehielt. Und dann bemerkte ich plötzlich: je komplizierter meine Schlittenmanöver, desto interessantere Übersetzungslösungen kamen mir in den Kopf.

Denn beide Tätigkeiten haben tatsächlich vieles gemeinsam: sie erfordern Kraft und Ausdauer, aber noch viel mehr ein Gefühl für Maß und Bedacht. Den Schlitten dort über den Schnee zu ziehen, wo kaum noch welcher liegt, den Schlitten dabei nicht umzustürzen und vor allem nicht zu vergessen, dass du hier nicht einfach etwas ziehst, sondern deine kleine Tochter darauf fährt und Freude daran hat. Ich denke, der Schlitten ist das Original, die dünnverschneite Oberfläche sind die sprachlichen und kulturellen Unterschiede, die überwunden werden müssen; der Fahrtverlauf ist die Gesamtheit deiner übersetzerischen Entscheidungen; die Schlittenfahrerin ist die Leserin oder der Leser, für die oder den all das geschieht. Ich hoffe, die belarussische Variante des Liedes, die im Ergebnis entstanden ist, knirscht nicht zu sehr mit den Kufen auf dem Asphalt und drückt die Leser nicht allzu stark in die Kurven.

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3. Die Straße der Faulenzer, oder der Sturz des Kosmonauten

Ich erinnere mich nicht mehr an das erste Gedicht, das ich übersetzt habe, aber am Anfang des systematischen Übersetzens standen Texte des Franzosen Charles Baudelaire und des Polen Konstanty Ildefons Gałczyński. Zunächst übersetzte ich ins Russische, einige Jahre später auch ins Belarussische. Auf jeden Fall habe ich noch davor zwei Texte übersetzt – Horaz‘ Ode „An Melpomene“ (im Volksmund – „Das Denkmal“) und die Hymne „Gaudeamus“ aus dem Repertoire der Vaganten. Beide Texte fand ich im Lateinlehrbuch, als ich an der Philologischen Fakultät studierte. Ich erinnere mich an die Straße, in der das geschah, in welchem Haus es war, bin ich nicht mehr sicher.

Altes Gebäude der Philologischen Fakultät, Foto: © Maxim Korostelyov

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Denn in dieser Straße, der Tschyrwonaarmejskaja-Straße standen dicht beieinander zwei Gebäude, die mir wichtig waren. Das eine war die Philologische Fakultät der Universität, die später ins Gebäude der Höheren Parteischule in die Karl-Marx-Straße umzog. Und gegenüber stand die Nationalbibliothek, die bald darauf ebenfalls umzog, näher an mein Haus und den bereits erwähnten Sewastopoler Park.

Belarusische Nationalbibliothek Minsk, Foto: © Maxim Korostelyov

Ich erinnere mich, dass ich schon früh die Gewohnheit pflegte, die Univorlesungen in drei Kategorien einzuteilen. Kategorie eins besuchte ich gern und schrieb mit. Kategorie zwei besuchte ich, beschäftigte mich aber mit interessanteren Dingen. Ich las zum Beispiel meine Lieblingslyrikbände oder schrieb meine ersten Gedichte, einfach zwischen meine Mitschriften – oder die meiner Banknachbarin, die später meine Frau werden sollte und zudem eine brillante Universitätsdozentin und bekannte Übersetzerin polnischer Belletristik. Die Vorlesungen der Kategorie drei besuchte ich nicht, aber einfach im Park oder im Café zu schwänzen war mir damals noch unangenehm – und ich ging über die Straße, in die Nationalbibliothek. Dort las ich ebenfalls Lyrik oder schrieb selbst – bedeutend schlechtere. Ich vermute, dass ich auf der einen oder anderen Seite der Tschyrwonaarmejskaja auch diese zwei Übersetzungen aus dem Lateinischen angefertigt habe, beide fatal.

Belarusische Nationalbibliothek Minsk, Foto: © Maxim Korostelyov

Aber der Grundstein war gelegt. Und die Verbindung zwischen dem Übersetzen und diesen beiden Einrichtungen blieb. Denn mit dem regelmäßigen Übertragen von Gedichten begann ich, als ich bereits einem engen Kreis als Lyrikautor bekannt war und als Dozent für ausländische Literatur an der Philologischen Fakultät arbeitete. Ich verband diese beiden Hypostasen zu einer dazwischenliegenden und für mich neuen, dritten, und konnte damit ein ernstes Übersetzerproblem lösen. Am Ende der 90er (wie, ehrlich gesagt, auch heute) gab es einen katastrophalen Mangel an Übersetzungen ausländischer Belletristik ins Belarussische. So fehlten mir als Dozent oft die Zitate, um die Thesen meiner Vorlesungen mit literarischen Texten zu illustrieren. Also übersetzte ich Baudelaire und Heine, Villon oder John Donne, um sie in den Lehrveranstaltungen den Studierenden vorstellen zu können, die damit zu den ersten Rezipienten dieser Übersetzungen wurden.

Zudem gab es am Lehrstuhl Stunden, die für Konsultationen vorgesehen waren. Manchmal kamen die faulen Studenten nicht – und ich konnte mich selbst konsultieren. Ich konnte über etwas nachdenken, etwas lesen oder sogar schreiben oder übersetzen. Zuerst waren es Gedichte, die Originale trug ich immer im Rucksack bei mir. Später – ich spule ein bisschen vor – waren es immer häufiger Songtexte, deren Originale ich im Gedächtnis hatte. Einmal saß ich eine Stunde lang und löste ein Rätsel, das David Bowie aufgegeben hatte, indem er einen Laut aus Kubricks Originaltitel „Space Odyssey“ änderte und daraus das berühmte „Space Oddity“ machte. Eine Gruppe von Enthusiasten der Firma „Kinokong“ war gerade dabei, den Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ Belarussisch zu synchronisieren und hatte mich um die Übersetzung des Liedes gebeten, da es im Film vorkommt. Und so drehte und wendete ich rechtschaffen die Wörter hin und her, und die Wortungeheuer, die dabei entstanden, zeugten von den übermenschlichen Leiden des Übersetzers, dem einfach nichts Blendendes einfallen mag. Zum Glück war der Songtitel das Einzige, was im Film nicht zitiert wurde, und so wurde das Lied ohne belarussischen Titel aufgenommen. Darüber hinaus wurde neben der Filmsynchronisierung ein Clip mit der bekannten Bloggerin Lera Jaskewitsch und dem Musiker Pjatro Klujeu produziert... inklusive sehr stimmungsvoller Minsker Landschaften, die besser direkt im Video anzuschauen, als hier mit Worten wiederzugeben sind.

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Ich beende den „kosmischen“ Exkurs und kehre zurück. Die Philologische Fakultät ist schon lange von der Kastrytschnizkaja auf die Karl-Marx-Straße umgezogen, aber die Gewohnheit, die Straße zu überqueren, blieb mir erhalten: du gehst hinüber und tauchst unmittelbar in einen Hof ein, gehst durch ein enges Labyrinth, an Gerüsten vorbei, ein paar Stufen nach unten – in Richtung der parallellaufenden Kirow-Straße, wo sich früher das Humanitäre Jakub-Kolas-Lyzeum befand. Drei Minuten Weg, und schon hatten sich meine Zuhörer von 18 auf 14 Jahre verjüngt. Die Übersetzungen musste ich hier sogar öfter vorlesen, und sie wurden aufmerksamer angehört, denn hier war klar: etwas wird nicht einfach so gelesen, morgen oder übermorgen muss ich selbst etwas in diesem Geiste schreiben. Eigene Sonette – nach der Lektion über Petrarca, eigene Balladen – nach der Stunde zu Villon, Triolette – nach Bahdanowitsch.

Lyzeum, Foto: © Maxim Korostelyov

Nach einem Jahr schloss das belarussische Regime das Lyzeum, aber die Lehrer, die Schüler und die Eltern verabredeten sich weiterzumachen, wie Partisanen im Untergrund. Ein Jahr lang fand der Unterricht bei den verschiedensten Adressen statt, häufig in Büros befreundeter Organisationen, die uns Unterschlupf boten, und oft gingen die Schüler in den Pausen von einer „konspirativen Wohnung“ in die nächste, so wie normale Schüler von einem Klassenzimmer ins andere wechseln. Ob sie Parolen, Klopfzeichen und verabredete Abfolgen kurzer und langer Klingelzeichen verwendeten? Ich erinnere mich nicht, aber gemäß den Gesetzen des Genres sollte es so gewesen sein.

Ein Jahr später fand das Lyzeum zur Miete einen festen Sitz in der Umgebung von Minsk – und die Schüler und Lehrer fuhren mit der Marschrutka oder dem Vorstadtzug dorthin. Und wenn frühmorgens im Zugabteil ein Mädchen saß, das durchs Fenster die Landschaft betrachtete, gleichzeitig mit den Fingern beider Hände abzählte, erst bis fünf, dann bis sieben, dann wieder bis fünf, und ab und an etwas in ihr Heft notierte, dann bestand kein Zweifel: eine Schülerin des Humanitären Lyzeums schreibt Haikus im Geiste von Basho, macht kurz vor knapp ihre Hausaufgabe, die sie zuhause nicht erledigt hat.

 

4. Babylonische Nahrung

Seit zwanzig Jahren gibt es in Minsk die Übersetzerwerkstatt. Sie entstand im Belarussischen Kollegium – einer unabhängigen Bildungseinrichtung, in der junge (und manchmal auch ältere) Menschen abends neueste Geschichte, Journalismus und Philosophie/Literatur studierten. In letzterem Bereich war auch die Werkstatt angesiedelt, wobei nicht nur die Student·innen, sondern auch andere Interessierte teilnehmen konnten. Mir wurde von den Kollegen des Kollegiums angeboten, diese Veranstaltungen zu leiten, obwohl ich gerade erst begonnen hatte, Übersetzungen zu veröffentlichen. Ich hätte wohl Angst haben und absagen sollen, aber irgendetwas hat mich doch zu sehr gereizt.

Vielleicht war es dieser Slash (/), mit dem die Philosophie in Literatur überging und umgekehrt. Vielleicht war es die Einzigartigkeit unseres Vorhabens, denn zu diesem Zeitpunkt wurde nirgendwo sonst in Minsk oder Belarus Literaturübersetzung oder kreatives Schreiben gelehrt – weder aus Sicht der Literatur noch der Sprachwissenschaft. (Es bestand Bedarf, ein gewisser Hunger, der gestillt werden musste.) Vielleicht war es auch für mich die pure Möglichkeit, an etwas teilzunehmen, das eigentlich a priori nicht gelehrt werden kann. Man kann nur helfen, es zu lernen – indem man nicht zu stark theoretisiert, sondern eher ein Brainstorming zu einem frischgebackenen Übersetzungsentwurf einer Teilnehmerin oder eines Teilnehmers organisiert, der oder die ihn mutig von den Kolleginnen auseinandernehmen lässt, die analysieren, was nicht passt und gemeinsam eine Lösung vorschlagen.

Wir trafen uns einmal pro Woche, donnerstags oder freitags. In den letzten Jahren im Büro des Belarussischen PEN, in den „Nullerjahren“ davor, in verschiedenen Wohnungen, die das Belarussische Kollegium für seine Zwecke gemietet hatte. Eine befand sich im Wohnviertel Uschod, im Einklang mit der Tradition direkt über die Straße der schon neuen Nationalbibliothek, wo man so großartige seltene russischsprachige Gedichte der belarussischen Klassiker – von Juli Taubin bis Uladsimir Karatkewitsch – findet (und danach übersetzt).

Stellen Sie sich einige halbwegs grüne Stadtviertel vor, bebaut mit größtenteils gleichartigen fünfstöckigen Hochhäusern, die zuweilen auch die gleichartigen Neunstöcker „auflockern“. Hier und da ebenso gleichartige Gebäude von Geschäften, Schulen und Kindergärten. Durch diese Viertel zog ich meine Tochter auf dem Schlitten im zweiten Kapitel dieses Textes. Hätte ich den Pfad verwechselt, wäre Alena nicht in den Kindergarten, sondern direkt in die Schule gekommen. Oder aber wir hätten die Studenten der Übersetzerwerkstatt getroffen, weil die Mietwohnung sich direkt neben dem Kindergarten befand. Gerade warten dort die jungen Übersetzer etwas nervös am Eingang, weil sich der Dozent mit dem Schlüssel und dem Geheimcode zur Schließanlage ein bisschen verspätet.

Balzac hätte die Einrichtung dieser Wohnung auf drei bis vier Seiten beschrieben. Der Beschlag der Türen im zweiten Stock, die abgegriffenen Türpfosten und der Spion. Das Knarren der Fußböden. Die kleine Küche mit dem Wasserkocher und der Möglichkeit, für alle einen Tee aufzubrühen. Der etwas klapprige Tisch in der Mitte des Raumes, das Sofa und die Sessel um ihn herum. Eine besondere Ecke mit polnischsprachiger philosophischer Literatur und einem Drucker, mit dem man – gute Neuigkeit – so viele Exemplare der zu besprechenden Übersetzung und des Originals ausdrucken konnte, wie für alle nötig.

Die kleinen Schwierigkeiten störten nicht, es waren das Interesse und der Enthusiasmus, die komplizierten literarischen Aufforderungen durch die Originale – und das nicht nur ungefähre Talent der Übersetzerinnen und Übersetzer. Es gab besondere Gäste, die ich immer wieder einlud. Zum Beispiel nahm der noch junge Serhij Zhadan, der schon Kultstatus hatte und zu einem Festival nach Minsk gekommen war, an einem Treffen teil und zeigte seine Übersetzungen belarussischer und russischer zeitgenössischer Lyrik ins Ukrainische. Oder Adam Pomorski, der Präsident des polnischen PEN-Clubs und bekannte Übersetzer, der mit dem Kopf in die belarussischen Übersetzungen polnischer Gedichte tauchte, von denen sich eines als Übersetzung einer Übersetzung von Alexander Blok erwies. Die Treffen sollten eigentlich 90 Minuten dauern, aber manchmal wurden es zweieinhalb Stunden oder gar drei. Die Mutter einer guten Bekannten fragte ihre Tochter: „Was hast du dort – eine Romanze?“ Und dabei hatte sie nicht das literarische Genre im Sinn, denn was kann es anderes sein, womit man sich am Abend so lange beschäftigt?

 

5. Krieg des Platzes mit dem Arbeitszimmer

Womit? Womit sich frühaufstehende Übersetzer·innen am Morgen beschäftigen (ich bekenne hiermit meine Eulennatur). Was die einzelgängerischen Arbeitstiere in ihren kreativen Kammern eben tun und die bestätigungshungrigen Extrovertierten auf der Bühne, vor öffentlichem Publikum, in sozialen Netzwerken und manchmal einfach auf der Straße.

Oktoberplatz, Foto: © Maxim Korostelyov

Ja, im kalten Frühling 2006 veranstaltete ich ein Treffen der Übersetzerwerkstatt einfach auf dem Oktoberplatz. Damals nannten wir ihn Kastus-Kalinouski-Platz. Nach einer erneuten Wahlfälschung waren in Minsk wieder Proteste ausgebrochen, und auf besagtem Platz war für einige Tage ein kleines Zeltstädtchen entstanden. Alle, die sich um sein Schicksal sorgten, standen als schützende Kette darum. Ich ging diszipliniert vom Platz zu meinen Universitätsvorlesungen und kehrte anschließend zurück. Meine besten Studierenden machten es genauso. Mit den Übersetzer·innen verabredeten wir uns, das Werkstatttreffen direkt im Zeltstädtchen durchzuführen.

Oktoberplatz, Foto: © Maxim Korostelyov

Wir besprachen eine Übersetzung des ukrainischen Prosaikers Taras Prochasko, den man nicht als leichten Autor bezeichnen kann. Es wurde gleichwohl keine Aufführung für ein breites interessiertes Publikum. Wir waren fünf oder sechs Leute, die über ihre Texte gebeugt, stritten. Ein ums andere Mal kamen verschiedene Verteidiger des Städtchens zu uns und fragten, was vor sich geht. Wird womöglich ein wichtiges politisches Dokument vorbereitet? Oder werden Unterschriften für einen Protestaufruf gesammelt? Vielleicht werden auch irgendwelche Antiregimegedichte gelesen? Sie kamen heran, lauschten, und gingen wieder, offensichtlich enttäuscht. Aber wir lächelten einander angesichts des großen Geheimnisses fröhlich an und fühlten uns wie die Revolutionäre unter den Übersetzern und die Übersetzer unter den Revolutionären.

Oktoberplatz, Foto: © Maxim Korostelyov

Die Proteste wurden auseinandergejagt – man musste zu neuen gehen, schon im Dezember 2010. Die zentralen Ereignisse spielten sich nun schon auf dem Unabhängigkeitsplatz ab, wohin mehrere Tausend Menschen vom Oktoberplatz aus marschiert waren. An diesem Tag fühlte ich mich wieder wie der Revolutionär unter den Übersetzern, oder andersherum, und schrieb eine belarussische Version des bekannten Liedes „Mury“ von Jacek Kaczmarski, das wiederum eine polnische Version des bekannten Liedes „L’Estaca“ [Der Pfahl] des katalanischen Liedermachers Lluis Llach ist. Interessant ist, dass ich (schlechte Lerche!) seit dem frühen Morgen Stunde um Stunde erfolglos mit der Übersetzung gekämpft hatte. Als mir schließlich aufging, dass ich den Text nicht einfach in den Sozialen Medien veröffentlichen, sondern am Abend auf den Platz gehen und ihn dort vortragen muss, stellte ich mir vor, wie ich dort stehe – und treffsicher fand ich die Worte für Übersetzung, die gar nicht wortwörtlich, dem Original aber in etwas Bedeutsamerem nah ist.

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Auch dieser Protest (ich konnte gerade zwei von drei Strophen vortragen) wurde auseinandergetrieben, also mussten alle – ich, die Lieder und die Zuhörer – auf die nächste Gelegenheit warten. Das Lied erhielt seine neue Vertonung im Sommer 2020, als es von einem der Oppositionsführer, Sergej Tichanowski, und nach dessen Verhaftung von seiner Frau, unserer gewählten Präsidentin Swetlana Tichanowskaja, „unter’s Volk gebracht wurde“. Der Übersetzer selbst sang es zunächst auf dem Marktplatz von Prushany, wo wir mit der Familie den Sommer verbrachten (mehr als eintausend Einwohner des Städtchens lauschten und sangen mit), und danach, den ganzen Oktober und November über, dutzende Mal in den verschiedensten Ecken von Minsk, als die großen Protestmärsche zur allgegenwärtigen Hinterhofbewegung geworden waren und die Bewohner der verschiedensten Stadtviertel Intellektuelle zu Vorträgen einluden, Dichter mit ihren Versen und natürlich Musiker mit ihren Liedern.

Ich durfte das Lied (und noch ein gutes Dutzend andere ins Belarussische übersetzte Lieder über Protest und Solidarität) unter den unterschiedlichsten akustischen Bedingungen vortragen. Mal bei Kälte und Regen. Manchmal ohne Mikrofon, weil es nicht funktionierte oder keines vorhanden war. Manchmal packte ich sekundenschnell die Gitarre in die Tasche, weil eine Polizeikontrolle auftauchte. Manchmal war ich schon völlig heiser, weil es der zweite oder dritte Auftritt des Tages war. Aber noch niemals in meinem Leben hatte ich ein so dankbares Publikum und gleichzeitig das Gefühl, dass all das – auch die Übersetzungen! – so unglaublich gebraucht wurde.

Da ist sie, die Falle, aus der man nicht mehr herauskommt! Oder weniger metaphorisch: Daher kommt die Motivation, an den Tisch zurückzukehren, zu Büchern, Notizen und Computer (oder, um die Kategorien des befreundeten Dichters wieder ins Gedächtnis zu rufen, mit neuer Kraft zu Spaziergängen aufzubrechen, bei denen die Füße helfen, den Rhythmus zu finden.) Denn um etwas teilen zu können, muss dieses „Etwas“ erst einmal geschaffen werden. Die besten Schriftsteller waren stolzer auf die Bücher, die sie gelesen hatten als auf die selbst geschriebenen. Denn soviel du auch schreibst oder übersetzt, auf dieser Welt – die hier in deinem heimischen Minsk beginnt – wird es immer viel mehr Ungeschriebenes und Unübersetztes geben.

 


Foto: © Maxim Korostelyov

Foto: © Maxim Korostelyov

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Andrej Chadanowitsch, Foto: © Andrei Liankevich

Andrej Chadanowitsch, geboren 1973 in Minsk, ist eine der zentralen Figuren der belarussischen Lyrik. In seine Gedichte integriert er sowohl die Traditionen der osteuropäischen Lyrik als auch popkulturelle Elemente. In sprachlicher Vielfalt und stilistischen Experimenten zeigt sich die Universalität seines lyrischen Werks. Chadanowitsch ist Autor von zehn Lyrikbänden für erwachsenes Publikum und eines Gedichtbands für Kinder. Er nahm an zahlreichen internationalen Poesiefestivals teil. Seine Gedichte wurden in 15 Sprachen übersetzt und erschienen als Einzelbände in der Ukraine, in Polen und Schweden. Chadanowitsch übersetzt zudem Lyrik aus dem Französischen, Englischen, Polnischen, Russischen und Ukrainischen. Er wurde u.a. mit dem Übersetzerpreis des Polnischen PEN-Clubs (2015), dem Natallia-Arsiennieva-Preis (2020) und dem Jerzy-Giedroyc-Preis der Zeitung Rzeczpospolita (2021) ausgezeichnet. 2017 erhielt er den Carlos Sherman-Preis für seine Übersetzung der Lyrik von Charles Baudelaire. Bis Sommer 2021 unterrichtete Chadanowitsch französische Literatur an der Belarussischen Staatlichen Universität in Minsk.