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Wörterbuch des Krieges

Der polnische Dichter Czesław Miłosz schrieb 1943 im von den Nazis okkupierten Warschau einen Gedichtzyklus mit dem Titel »Welt«. Die meisten dieser Gedichte sind Erklärungen einfacher Worte: »Angst«, »Liebe«, »Hoffnung«, »Gartentor«, »Vorbau«, »Straße« etc. Denn der Krieg verändert die Bedeutung von Worten. Manche Bedeutungen werden stumpf, man muss sie schärfen wie ein Messer mit einem Schleifstein. Andere wiederum werden so scharf, dass man sie unmöglich betrachten kann. Manche Worte sterben und fallen ab. Manche tauchen aus irgendeiner Vergangenheit auf und bekommen wieder eine Bedeutung, werden wichtig. 

Ich will ein solches Wörterbuch des Krieges zusammenstellen. Aber es werden keine Gedichte und nicht einmal von mir geschriebene Texte sein. Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, den ich gehört habe, oder den ich in diesen schweren Tagen noch hören werde. Eventuell werde ich sie ein wenig verändern. Manche werde ich aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzen.

Auf dem Bahnhof, wo wir den Menschen Brot und Tee gegeben haben, in den Notunterkünften, in die ich Medikamente und andere Dinge gebracht habe, wo ich Wache gestanden bin und weiter nachts Wache stehen werde, ja sogar bei den Ständen, an denen Kaffee ausgegeben wird, beginnen die Menschen zu erzählen. Manchmal von selbst, manchmal muss man sie ein wenig antippen, eine Frage stellen, und schon kommt ein Schwall in Bewegung, der kaum zu stoppen ist.

Beginnen wir also.

 

SONNE

(Nina, Konotop)

»Als der Krieg begann, dachte ich, ich würde viel weinen. Ich bin eine Heulsuse. Und plötzlich bin ich wie ausgetrocknet. All die Tage keine einzige Träne. Nur einmal habe ich geweint. Nachdem wir lange im Keller gesessen sind, gehe ich hinaus und die Sonne ist so hell. Ich beginne zu weinen. Ich gehe in meine Wohnung und verstehe nicht, ob ich wirklich weine, oder ob bloß meine Augen tränen.«

 

GESANG

(Frau Olha, Saporischschja)

»Es ist so schön, dass wir in einer Musikschule wohnen. Ich liebe es zu singen. Sogar als wir im Keller ein Bombardement abwarteten, habe ich gesungen. Zuerst laut, auch die Nachbarn haben miteingestimmt, und es war irgendwie gut. Dann wurde ich müde und habe für mich gesungen. Leise, nur für mich. Ich konnte mich an den Text aller Lieder erinnern. Wenn man versucht sich zu erinnern, will man nicht schlafen. Einschlafen macht Angst.«

 

PRAG

(Teenagerin, nach deren Namen ich nicht gefragt habe, Charkiw)

»Ich bin ein Mensch, der immer alles aufschiebt. Als Kind habe ich sogar Süßigkeiten immer aufgehoben, um sie dann in einer schönen Atmosphäre zu essen, bei Kerzenlicht oder einem guten Film. Und oft war keine Zeit, die Sachen lagen und lagen, und am Ende habe ich sie einfach gegessen, und sie haben mir nicht einmal mehr geschmeckt. Außerdem wollte ich immer schon nach Prag, wir haben Verwandte dort. Und nie hatte ich Zeit hinzufahren. Jetzt fahre ich endlich, aber Freude verspüre ich keine.«

 

FREIHEIT

(Wadim, Konotop)

»Freiheit ist so eine Sache, die niemand für dich schaffen kann. Niemand gibt dir Freiheit, niemand schenkt sie dir, man kann sich diesbezüglich auf niemanden verlassen. Du kannst sie nur selbst für dich finden. Genau, handmade. (lacht) Es gibt keine Fabrik der Freiheit. Freiheit ist kein Serienprodukt.«

 

RADIO

(Samet, Baku-Kyjiw)

»Nein, ich verstehe Ukrainisch, ich bin einfach rechtzeitig taub geworden. Das sagt mein Sohn. Im Spaß.

Weißt du, es gibt ein Alter, in dem nichts zum ersten Mal passiert. Aber gerade passiert bei mir so viel zum ersten Mal. Zum Beispiel, werde ich Polen sehen. Aber ich werde es nicht hören. Irgendwann war es andersrum: Ich habe es gehört, aber nicht gesehen. Wie? Ganz einfach: polnisches Radio. Rock, Jazz. Wir hatten das alles nicht. Allerdings wurden die Radiosender bei uns gestört, manchmal gab es lange Ausfälle. Deshalb kann ich mir Musik vorstellen, wenn es notwendig ist. Es ist gut, wenn man sich vorstellen kann, was gerade fehlt, und dann ist es irgendwie da, und man ist glücklich.

Sag, was soll ich mir vorstellen? Ich weiß schon.«

 

STERN

(Viktoria, Charkiw)

»Irgendwann haben wir festgestellt, dass es in unserer Familie keine echte Tradition gibt. Deshalb haben wir einen Weihnachtsstern gebastelt. Einen großen, an einem Stock. So lang, dass wir ihn wie einen Speer in unsere Wohnung in dem 5-stöckigen Haus tragen mussten. Elektrische Lämpchen haben wir auch daran angebracht. Wir haben Weihnachts-Koljadky gelernt – außer uns Ukrainern hat doch niemand Koljadky, oder? Naja okay, aber zumindest nicht solche. Und wir sind Koljaduwaty – so etwas wie Sternsingen – gegangen. Im ersten Jahr haben wir so viel verdient, dass wir uns auch noch lange Kostüme genäht haben. Man begann uns sogar einzuladen. Verwandte, Freunde, auch fremde Leute, die ein Weihnachtsspiel sehen wollten. Den Stern habe ich auf unserem Balkon zurückgelassen.«

 

ZAHLEN

(Iryna, Sewerodonezk, redet ins Telefon)

»Du musst einfach zählen, komm wir machen es gemeinsam! Eins, zwei, drei ... Nein, langsamer, noch einmal von vorne. Nicht so schnell. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben ... Siehst du? Alles ist gut.«
 


 

Danke an alle, die sich meinem Wörterbuch des Krieges anschließen.

Wir müssen diesen Krieg erzählen. Sonst machen es andere für uns, erzählen nicht das, was erzählt werden muss, und nicht auf die richtige Art und Weise.

Das Wörterbuch des Krieges zeigt nur die Knotenpunkte, die intensivsten Stellen der Erzählungen, die ich zu hören oder zu lesen bekomme. Es konzentriert sich auf Wörter, die noch vor kurzem etwas anderes bedeuteten, die keinen endgültigen Bezug zu Dingen hatten. Die Wörter verlassen den Krieg nicht unschuldig. Es gibt Erzählungen, die mir nicht aus dem Kopf gehen.

Das ist eine davon:

 

KIRSCHPFLAUME

(Vika, Mariupol)

 

»Als die Männer begannen, Bäume zu fällen – es war zirka am 10. Tag, alles, was herumlag, war verbrannt worden, alte Möbel aus dem Keller, Schachteln, Kisten – kam eine Nachbarin schreiend aus dem Haus gelaufen, eine Oma um die achtzig. Sie schrie, dass sie es nicht zulassen würde, dass man die Kirschpflaume fällt. Wir wussten nicht einmal, dass es eine Kirschpflaume war, sie trug nie Früchte. Und niemand hatte vor, das armselige Bäumchen zu fällen. Trotzdem beschloss die Frau, den Baum zu bewachen und stand bis zum Abend dort. Zu jener Zeit übernachtete ich noch zu Hause, obwohl die Nächte kalt waren. Am Morgen erwache ich also, die Sonne geht gerade auf, ich schaue aus dem Fenster – und da ist sie noch immer, bei dem Baum, aber nun liegt sie auf dem Boden. Jemand kommt aus dem Haus und geht zu ihr. Ich habe später nicht einmal gefragt, was mit ihr passiert ist. Ich wollte nicht fragen. Manche Dinge passen einfach nicht mehr in mein Herz.«

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Ostap Slyvynsky im Künstlerdorf Kaptaruny 2018, Foto: © Dzina Danilovich

Ostap Slyvynsky, geboren 1978 in Lviv, wo er studierte und auch heute lebt. Lyriker, Dozent an der Universität Lemberg. Promovierte 2007 mit einer Arbeit zum Phänomen der Stille in der Literatur, Redakteur der polnisch-deutsch-ukrainischen Literaturzeitschrift „Radar", Herausgeber einer Anthologie zeitgenössischer ukrainischer und belarussischer Literatur, schreibt für diverse Magazine und wirkt an interdisziplinären Kunstprojekten mit. Für sein dichterisches Schaffen wurde Slyvynsky mehrfach ausgezeichnet, unter anderem war er 2007 Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin und 2011 Writer in Residence im quartier21/MQ in Wien.

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