Cities of translators Minsk Das Eigene und das Fremde am Scheideweg der Sprachen
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Das Eigene und das Fremde am Scheideweg der Sprachen

oder: Über den Dispositar des Belarussentums in der polnischsprachigen belarussischen Literatur

Das Wort “Dispositar” gibt es nicht. Ich habe es mir ausgedacht, als ich mich auf einen Vortrag über die Verbindungen zwischen Eliza Asheschka1und Franzischak Bahuschewitsch2 vorbereitete. Zusammengesetzt aus den Begriffen “Disposition” und “Depositar” wurde es für mich zu einem Wort, um das Problem der Rangordnung von Schriftstellern im Bestand der literarischen Werte und Würdigungen zu bezeichnen. Zu überlegen, welche Klassiker für Ihre Hoheit, die Literatur, wohl mehr oder weniger Wert besitzen, ist eine Selektion, bei der man bestimmte Ungerechtigkeiten dieser Bewertungen durchaus genauer betrachten sollte. Die Ironie meiner Situation: Geplant war der Vortrag zum 180. Geburtstag des Dichter-Juristen3 und mir fiel bei den Vorbereitungen unweigerlich das von ihm verfasste “Gott teilt nicht gerecht” ein - meine Gedanken kreisten um die unterschätzte Eliza Asheschka.

Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch behauptete sich die belarussische schöngeistige Literatur in zwei sprachlichen Koordinatensystemen: dem polnischen und dem belarussischen (und zu sagen, das hätte sich “historisch so ergeben”, ist in unserem Fall kein Witz4). Im ersten existierte sie zu “kulturellen Zwecken”: polnischsprachige Werke waren auf gewisse Erfahrungen des literarischen Lesens und der künstlerischen Weltanschauung ausgerichtet. Die Werke des zweiten waren in einer “Sprache verfasst, die in Litauen von Menschen ohne literarische Bildung genutzt wird - genauer gesagt  der Mittelschicht, der Szlachta” (Formulierung eines Publizisten und Kritikers des Jahrhunderts, Ramuald Padbiareski) und zeichneten sich durch Vertrautheit und Einfachheit aus. Man darf jedoch nicht denken, dass die polnische Sprache einem Werk entschieden einen literarischen Wert verlieh und man vom “einfachen” oder “bäuerlichen” Belarussischen nur schwerlich einen künstlerischen Text erwarten konnte. Das Ergebnis solcher schriftstellerischer Bemühungen konnte jedoch wertlose “Wiederholungen” des Fremden mit sich bringen, “grobe Praktiken, genäht aus den Fetzen des französischen Klassizismus” (wie es der bereits erwähnte Padbiareski ausdrückte und damit den Grund für die Armut vieler Werke enthüllte: den Autoren widerstrebte es, ihr eigenes Umfeld in ihren Werken zu reflektieren), dabei hätten Überlieferungen der Folklore gleichzeitig die Entfaltung echten literarischen Talents einleiten können, als Nährboden wahrhaftigen Genies.

Überhaupt finden sich bei allen polnischsprachigen belarussischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts auch Werke auf Belarussisch. Sie schrieben sie abwechselnd mit den Polnischen, wechselten entweder nach gescheiterten Versuchen vom Polnischen zum Belarussischen, wie es bei Franzischak Bahuschewitsch der Fall war,  oder andersherum - vom Belarussischen zum Polnischen, wenn sie für erstere keine “gedruckte Bühne” fanden, wie beispielsweise Jan Barszczewski.

Nur Eliza Asheschka hat nichts auf Belarussisch geschrieben. Auch ihr rein polnischsprachiges Werk böte Stoff für einige Klassiker, doch unter ihnen ist sie wie unter Fremden, selbst eine Fremde. Ihre Werke werden in belarussischen Schulen nicht behandelt. Ins Belarussische wurde im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts nur ein sehr kleiner Teil ihres Erbes übersetzt. So wenig, dass man die Namen der Werke und ihrer Übersetzer zusammen an den Fingern abzählen kann: Vatslau Lastouski, Jadwiga Biaganskaja, Janka Bryl und Halina Tychka; “An einem Winterabend”, “Tadeusz”, “Romanowa”, “Tiefland”, “Der Njemenfischer”, “Die Hexe” “Menschen und Blumen am Njemen”, “ A ... B ... C ... und andere Novellen”. Bis in die 1990er Jahre wurde aus ihrem Werk nur das ins Belarussische übersetzt, was der sowjetischen Ideologie in den Kram passte, also die Ausweglosigkeit des Lebens der Belarussen vor der Oktoberrevolution zeigte. Und die eigentliche Perle, der Roman “An der Memel”, erschien auf Belarussisch erst 2009, 122 Jahre nachdem er geschrieben wurde. Dabei hätte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum literarischen Emblem von Belarus werden können, denn polnisch ist darin nur die Sprache, seine Form, wobei der Inhalt eine wichtige Sache ist, die die Zugehörigkeit des Werks zu einem bestimmten kulturellen Raum bestimmen sollte: sich in die verschiedenen Ebenen der Landesgeschichte vertiefen, die Schicksale von Vertretern der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und deren Bezug zu lokalen Ereignissen zeigen, aus denen sie hervorgingen; die Aktualität der damit behandelten Probleme, eine Bewunderung für die lokale Natur. “An der Memel” verdient zweifellos seinen Platz zwischen Meisterwerken wie “Pan Tadeusz” von Adam Mickiewicz und “Neue Erde” von Jakub Kolas. Und schließlich ist da der mächtigste Trumpf, der keinesfalls von der Hand zu weisen war: Für diesen Roman, weltweit übersetzt in zahlreiche Sprachen, wurde Eliza Asheschka für den Literaturnobelpreis nominiert. Gleich zu Beginn ihrer Existenz war die berühmte Prämie für die belarussische Literatur nur einen Schritt entfernt - gleich zweimal und beide Male durch Eliza Asheschka.

Trotz all dieser Punkte hatte es die Literaturwissenschaft nicht eilig, sie zur Vertreterin der belarussischen nationalen Literatur zu erklären. Noch zu Anfang des 21. Jahrhunderts hielten sich die sowjetisch formalisierten Argumente dagegen: sie hätte nicht danach gestrebt, sich einem belarussischen literarischen Prozess anzuschließen, nicht vorgehabt, einer regionalen, polnischsprachigen Literatur anzugehören. Doch ihre Errungenschaften, die solchen Worten wohl kompensatorisch entgegengestellt wurden, übertrafen diese offensichtlich. In Antwort auf die Frage, inwieweit man Eliza Asheschka als belarussische Schriftstellerin sehen könne, sprach der Wissenschaftler Ljavon Barschtscheuski in einem vor langen 10 Jahren durchgeführten Interview wenigstens schon von einem “unbestreitbaren, aufrichtigen Interesse Asheschkas an solchen Phänomen, wie den belarussischen Bauern oder dem Leben der gewöhnlichen Belarussen - den Dorfbewohnern”. Sie sei “an der belarussischen Sprache, Ethnographie und Folklore interessiert gewesen”, hätte “in den Dialogen, der von ihr auf polnisch verfassten Werke (wie teilweise bei Jan Barszczewski) belarussische Mundarten genutzt” und die “Haltung Eliza Asheschkas gegenüber dem belarussischsprachigen Werk Franzischak Bahuschewitschs, dem Autor der Gedichtsammlung „Belarussische Dudka“ selbst”, sei wohl bekannt gewesen. Gegenteilig war jedoch seine Schlussfolgerung: Asheschka, sagte er, gehöre dennoch nicht zur klassischen belarussischen Literatur und auch “Übersetzer könnten aus ihr nicht einen solchen Klassiker machen”.

Viel Zeit ist seit diesen Worten nicht verstrichen. Aber vieles hat sich verändert. In den letzten eineinhalb Jahrzehnten wurde aus der Bibliographie Eliza Asheschkas ähnlich viel ins Belarussische übersetzt, wie im gesamten 20. Jahrhundert. Würde man nicht die Anzahl, sondern Gesamtumfang und Gewicht der übersetzten Werke (bei der Auswahl von Übersetzungsprojekten gelten heute andere Prioritäten) vergleichen, stellte man sogleich eine triumphale Platzierung der Schriftstellerin an der Rangspitze fest. Die von Anatol Butevich übersetzte Perle “An der Memel” wurde 2020 neu verlegt. Auch von ihm ins Belarussische übertragen wurden jene acht Novellen, die den Aufständen von 1863-18645 gewidmet sind, unter denen sich auch die legendären fünf Werke finden, die Asheschka für ihre Ausgabe letzter Hand, die “Gloria victis” (“Ehre den Besiegten”), bestimmt hatte. Zum Stichwort ‘Dispositar des Belarussentums’: Das Thema „Gloria victis“ dringt in den letzten Jahren, angefangen 2017, von selbst mit Ereignissen in unsere Realität, die niemand erwartet hätte und verändert somit nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit, deren alte Namen unvermeidlich neu erstrahlen.

Als im oben erwähnten Jahr 2017 der Gedmin Berg in Vilnius die Überreste von Aufständischen des Jahres 1863 freigelegte, druckte die Minsker Zeitschrift “Dziejaslou” die Übersetzung der Novelle “Sie”, zu der die Bezeichnung “künstlerisches Dokument” wohl am besten passt. Und darin finden sich Zeilen, die damals nur bildlich hervortraten, jedoch vor dem Hintergrund der erwähnten Ereignisse in Vilnius nahezu prophetisch klingen: “Eines Tages wird sich das Grab öffnen und die siegreiche Wahrheit der großen Träume daraus hervorgehen”. Eliza Asheschka - selbst Teil des Aufstands, selbst “Produkt” dessen “Hammer und Amboss” (ihr Zitat) - berührt mit ihren starken Worten auch unsere aktuellen Ereignisse, wenn sie schreibt: “Auch im Angesicht der Niederlage, sichtbar durch den Vorhang der Zeit, war es nötig, den blutigen, unsterblichen Samen des künftigen Sieges zu erspähen und in der Lage zu sein, das eigene Grab nicht nur mit ruhigem Auge anzusehen, sondern auch hoffnungsfroh, dass aus den Umständen, die dieser Tod bereitet hat, der durch das vergossene Blut des Erzbezwingers unsterblich gewordener Geist auferstehen wird”.

Als einer meiner Bekannten darüber nachdachte, wie manche Namen in die Literatur zurückkehren, bemerkte er, dass wirklich große Schriftsteller ihre Werke zu Lebzeiten meist schlechter verbreiteten, als danach. “Ein ganzer Brocken unverbrauchter schöpferischer Energie bewegt sich durch die Welt und ergreift mal den einen und mal den anderen. Und wer davon getroffen wird, beginnt plötzlich Dinge zu sehen, die bisher unsichtbar waren, und lässt seine Zeitgenossen wissen: “Schaut, das wurde vor langer Zeit geschrieben, aber handelt trotzdem von uns”. Und dieses “von uns” hängt von keiner Gesellschaftsordnung ab, nicht von den Namen der Machthaber, nicht vom Stand der Technik. Diesem “von uns” ist es absolut egal, ob wir uns mit Flugzeugen, Elektroautos oder Pferdekutschen fortbewegen. Dieses “von uns” macht einen Klassiker aus.” So schrieb er mir damals, als ich in meinem Minsk gerade “Zwei Pole”6 ins Belarussische übersetzte und er in Moskau versuchte, eine neue russischsprachige Version des Romans “Meir Ezofowicz: Erzählung aus dem Leben der Juden”7 herauszubringen. Dieser wurde, nebenbei bemerkt, nicht nur in Europa, sondern sogar in den USA übersetzt, aber erklang bis heute noch nicht auf Belarussisch. 

Als ich überlegte, welches Werk ich zum 180. Geburtstag Eliza Asheschkas übersetzen könnte, blieb ich gedanklich an einem Roman hängen, der zu seiner Zeit nicht verstanden worden war, jedoch ein halbes Jahrhundert später als ihr “tiefsinnigster, schlauster und berührendster Roman” bezeichnet wurde. Diesem Werk, das in der offiziellen Biographie der Schriftstellerin unter dem Titel “Zwei Pole” auftritt, wurde bei der Übersetzung ins Belarussische sein ursprünglicher Name zurückgegeben, der von seiner Autorin ausgewählt, aber von Zensoren “nicht angenommen” wurde - “Dzikunka” (dt. “Die Wilde”). Folglich findet sich auf dem Einband des zum Jubiläum Asheschkas 2021 herausgegebenen Romans ‘Dzikunka’, oder ‘Ein Roman des 19. Jahrhunderts und wie man ihn heute lesen sollte’ nicht nur der Titel selbst, sondern auch das, was seine Lektüre zum Abenteuer macht: Die Kapitel des Romans sind gestaltet wie Stufen, die man empfohlenerweise über die Beantwortung von Fragen beschreiten sollte. Die Titel zwischen den Kapiteln des Romans dienen dabei als Hinweise, die diese Auflage auch für solche nützlich machen, die sich mit Leben und Wirken Eliza Asheschkas befassen, den Leser in die Zeit des Romans versetzen und ihn teilweise zum Co-Autor machen. Dies geschieht im Interesse des vom 21. Jahrhundert verwöhnten Lesers selbst, der der Literatur gleichzeitig mit der konsumorientierten Einstellung und Erwartung nach etwas Besonderem begegnet.

Fußnoten
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Svjatlana Votsinava (privat)

Svjatlana Votsinava wurde 1972 in Grodno geboren. Sie ist Absolventin der Fakultät für Biologie der Belarussischen Staatlichen Universität, Journalistin und war bis vor einiger Zeit Chefredakteurin der Literatur- und Kunstzeitschrift Maladost. Ihre Forschungsthemen sind Leben und Werk der polnischsprachigen belarussischen Schriftstellerin Eliza Asheschka, zu denen sie zahlreiche Artikel und thematische Vorträge verfasst hat. Sie übersetzt aus dem Polnischen.