Cities of translators Minsk Olga Tokarczuk: »Meine Bücher hätte man auch auf Belarussisch schreiben können…«
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Olga Tokarczuk: »Meine Bücher hätte man auch auf Belarussisch schreiben können…«

Mit dem Übersetzer teilen
Übersetzen als Rettung

Maryna Shoda: Oft wird das emotionale, geistige Verhältnis von Autor und Übersetzer·in als einseitig beschrieben. In diesem Fall spricht man eher von einem Abbild des Autors, aus den Augen des Übersetzenden. Du bist eine der ersten Autorinnen - wenn nicht die erste -, die die beachtliche Rolle des Übersetzenden in ihrem Schaffen unterstreicht. Hat sich für dich ein gewisses Idealbild, etwas wie ein platonisches “Eidos” eines Übersetzenden entwickelt, mit dem du jeden neuen Menschen vergleichst, der sich traut, deine Bücher zu übersetzen?

Olga Tokarczuk: Ein solches Idealbild habe ich nicht und es widerstrebt mir, einen mit dem anderen zu vergleichen. Mein Eindruck als Autorin ist aber, dass es gewissermaßen zwei Arten von Übersetzer·innen gibt. Die einen sehen die Übersetzung als Text, durch den sie sich dem Autor, den sie nachbilden, in gewisser Weise annähern können. Diese Übersetzer und Übersetzerinnen möchten sich gerne mit dem Autor beraten, schreiben ihm und fragen nach den verschiedensten Details eines Textes. Natürlich antworte ich ihnen und befürworte solche Verhältnisse sogar - es entstehen gute Kontakte, wir haben lange Gespräche, fördern das Verständnis eines Satzes, den Sinn einer Metapher und ähnliches. Und dann gibt es die andere Art von Übersetzenden - freie Jäger·innen, die für sich bleiben und in einer Interaktion mit dem Autor keine Notwendigkeit sehen. Auch für den Preis, dass ihnen ein Fehler unterlaufen, oder sie etwas nicht vollständig verstehen könnten - die Verantwort dafür nehmen sie auf sich. Welcher der beiden besser ist, kann ich nicht entscheiden, denn in erster Linie zählt immer das Ergebnis. Übersetzer·innen sind für mich geheimnisvolle Personen, denn ich spreche nicht viele Sprachen und keine von ihnen gut genug, um einen Text aus ihr zu übersetzen, was mir daher fast wie ein magisches Talent erscheint und in mir Respekt und Bewunderung hervorruft. Ich sehe in Übersetzer·innen ein bemerkenswertes Talent, eine ganz besondere Gruppe von Menschen, die die zauberhafte Fähigkeit besitzen, einen Text nicht nur im sprachlichen Sinne umzuwandeln, sondern auch einen Satz an Metaphern und Zusammenhängen in einen anderen zu übertragen. Deshalb seid ihr - du und alle anderen Übersetzer·innen - für mich ganz außergewöhnliche Wesen. 

 

…. Durch den Geist der Übersetzer·innen verlaufen die Grenzen zwischen unterschiedlichen Welten, und ihre Gabe ermöglicht es ihnen, diese Grenzen zu überschreiten, zu verwischen und in den Alembiken ihrer Computer den Stein der Weisen unserer heutigen Zeit herzustellen - Universalität.

Bisweilen nehme ich gern eine panoptische Perspektive ein und schaue mir - wenigstens für einen Moment - alles von oben an. Dann kann man unsere menschliche Welt als eine Ansammlung von weit gestreuten Kolonien selbstzufriedener Organismen sehen, die sich leicht an wechselnde Gegebenheiten anpassen, einen ausgeprägten Ausbreitungsdrang besitzen und miteinander rivalisieren, jedoch ebenso fähig sind zu Selbsterkenntnis und Kooperation. Ein unersetzliches Element innerhalb dieser organischen Struktur sind Übersetzer von Büchern. Sie sind Teil einer Art leitenden Nervengewebes, eines Netzes, das Informationen von einer Stelle des Gebildes an eine andere übertragen hilft.

Kaum verwunderlich also, dass den Übersetzern seit Jahrhunderten der Gott Hermes als Patron und Beschützer gilt. Von geringem Wuchs, wieselflink, listig eilt “der kleinste und gerissenste aller Götter”, um es mit Plutarchs Worten zu sagen, über die Wege und Straßen dieser Welt. Flatterndes langes Haar, Flügelhelm, den Hermesstab in der Hand, ist er überall und nirgends. Eine Gottheit schwer bestimmbaren Geschlechts. Eine Gottheit der Synthese, der Verknüpfung des Fernliegenden, der Schläue, mit Sinn für Humor und einer Neigung zu List und Tücke. Der Gott der Händler, Kaufleute, Handwerker, Glücksspieler. Hermes ist es, der uns auf Reisen begleitet; seine Stimme spricht zu uns aus Reiseführern und Wörterbüchern. Er ist es, der uns durch unwegsames Gelände geleitet, der uns das Kartenlesen lehrt, uns über Grenzen führt. Vor allem aber ist er bei jeder Form der Kommunikation zur Stelle. Öffnen wir den Mund, um jemandem etwas mitzuteilen, ist Hermes da. Lesen wir Zeitung, surfen wir im Internet, versenden wir eine SMS - Hermes ist da. Ein Hermestempel der heutigen Zeit müsste mit Druckern, Telefonen und Kopierern ausgestattet sein.

Einer seiner Titel ist der des Hermeneutes - des Deuters und Übersetzers. Und die Hohepriesterinnen und Hohepriester in einem Hermestempel wären heute die Übersetzerinnen und Übersetzer, berührt ihre Arbeit doch das Wesen dieser Gottheit: Sie verbindet Menschen durch Sprachen, aber auch über Sprachgrenzen hinweg und überführt die menschliche Erfahrung von einer Kultur in die andere…

Maryna Shoda: Dieses Konzept ist mir schon aus unseren früheren Treffen ein Begriff - ich weiß, dass du Übersetzer·innen in solche einteilst, die den Autor mit Fragen überhäufen, und solche, die für sich im Stillen übersetzen und den Autor dann vor vollendete Tatsachen stellen. Mit welchem dieser Typen ist es für dich angenehmer zu arbeiten? 

Olga Tokarczuk: Mit dem zweiten Typ, dem freien Jäger, arbeitet es sich leichter, denn er behelligt den Schriftsteller nicht und stellt keine Fragen - dazu kommt vielleicht die ein oder andere Fußnote, in der er den Autor berichtigt und das war’s. Sympathischer ist mir allerdings die erste Gruppe, weil ich mich bei der gemeinsamen Arbeit mit meinen Übersetzern·innen anfreunde und dank dieser Kontakte viele neue Dinge erfahre. Zum Beispiel sind Übersetzer·innen sehr aufmerksame Leser und es ist schier unmöglich, einen Redakteur mit dem gleichen wunderbaren Textverständnis zu finden. Auch übe ich mich dank meiner Übersetzer·innen darin, die Existenz verschiedener Text- und Kommunikationskulturen zu verinnerlichen und zu verstehen, dass die Kultur, zu der ich selbst gehöre, weder universell noch einzigartig ist. Der Übersetzende ist für mich somit etwas wie ein Bindeglied zu einer anderen Welt. Unglaublich lehrreich waren beispielsweise die Diskussionen und Gespräche über die “Jakobsbücher”, weil mir bewusst wurde, dass ich gewissermaßen in den Grenzen meiner Welt, meiner Kultur, aus der ich stamme, verbleibe. 

Mit dem Übersetzer teilen

In letzter Zeit habe ich oft, Hand in Hand mit den jeweiligen Übersetzer·innen, meine Bücher in anderen Ländern vorgestellt.

Die Erleichterung, sich die Autorinnenschaft mit jemandem teilen zu können, lässt sich schwer in Worte fassen. Ich freue mich immer, wenn ich wenigstens einen Teil der Verantwortung für einen Text abgeben kann - im Guten wie im Schlechten. Wenn ich nicht mehr allein dastehe, Auge in Auge mit dem aufgebrachten Kritiker, der mimosenhaften Rezensentin, dem literarisch unbewanderten Journalisten, dem arroganten Moderator. Wie schön, wenn nicht mehr alle Fragen nur an mich gerichtet sind, wenn dieser bedruckte und gebundene Papierstapel nicht mehr allein meine Sache ist! Dieses Gefühl kennen sicherlich viele Schriftsteller·innen.

Am erstaunlichsten ist jedoch, dass die Anwesenheit einer Übersetzerin, eines Übersetzers Sphären eröffnet, die mir bereits nicht mehr zugänglich sind, dass sie oder er sich unabhängig von mir in Debatten begibt, die ich nicht einmal ganz verstehe, die mir fremd, ja mysteriös erscheinen. Mein Text befreit sich von mir - oder bin ich es, die sich von ihm löst? Er wird selbstständig wie ein aufsässiger Teenager, der von zu Hause ausreißt, um zum ersten Mal auf ein Musikfestival zu fahren. Die Übersetzerin, der Übersetzer hat meinen Text an die Hand genommen und ihm andere Seiten dieser Welt gezeigt, hat hinter ihm gestanden, sich für ihn eingesetzt. Welch ein Glück für mich! Plötzlich bin ich frei von der tiefen Einsamkeit, die so fest zur schriftstellerischen Tätigkeit gehört - Stunden, Tage, Wochen, sogar Jahre verbringt man in seinem eigenen Kosmos, allein mit seinen Gedanken, inneren Dialogen und Vorstellungen. Die Übersetzer·innen kommen auf uns Schriftsteller·innen zu und sagen: “Auch ich war dort. Ich bin deinen Spuren gefolgt - und jetzt überschreiten wir gemeinsam eine Grenze.” Hier wird der Übersetzernde buchstäblich zum Hermes: Er nimmt mich an die Hand und führt mich über die Grenzen von Ländern, von Sprache und Kultur.

Maryna Shoda: Meine nächste Frage ist dann sozusagen eine buchhalterische. In wie viele Sprachen wurden deine Bücher bereits übersetzt, hast du noch den Überblick? Wie viele Übersetzer·innen haben an ihnen gearbeitet und wie viele von ihnen kennst du persönlich?

Olga Tokarczuk: Die meisten meiner Übersetzer·innen kenne ich persönlich. Ich würde sagen, um die 90 Prozent. Es gibt vielleicht zwei oder drei Personen, mit denen ich mich noch nie getroffen und nicht ein Wort gewechselt habe. Sie gehören zu denen, die ich freie Jäger getauft habe. Nach den letzten Schätzungen wurden meine Bücher in über 40 Sprachen übersetzt. Dazu kommt, dass an einem Werk manchmal auch mehrere Personen arbeiten. Insgesamt kommt da eine große Gruppe von ungefähr 150 Personen zusammen, die an der Übersetzung meiner Bücher beteiligt sind…

Maryna Shoda: Darf ich also zusammenfassen: über 40 Sprachen, um die 150 Personen und die meisten davon kennst du persönlich?!...

Olga Tokarczuk: Ja, die Möglichkeit zum persönlichen Kennenlernen bietet, wie du weißt, der Kongress für Übersetzer der Polnischen Literatur, der alle vier Jahre in Krakau stattfindet. Mit vielen Übersetzer·innen bleibe ich auch über E-Mail in Kontakt. 

Ich freue mich immer sehr, wenn ich dich bei unseren Treffen in Polen sehen kann. Denn in letzter Zeit treffen wir uns meistens in Polen. Ich fühle mich dir sehr nah und hoffe, dass wir Freundinnen sind. Und ich sehe dich in erster Linie auch gar nicht als meine Übersetzerin, so als wäre das deine wesentliche Rolle. Du bist auch nicht meine “Freundin aus Belarus”, sondern einfach meine Freundin… Und nebenbei übersetzt du auch noch meine Bücher. Und das ist wunderbar. 

Maryna Shoda: Ich danke dir, dass ich diese Möglichkeit habe und deine Werke übersetzen kann! Ich träume wirklich davon, dass einmal alle von dir geschriebenen Bücher auf Belarussisch Gehör finden können. Erinnerst du dich noch, als du mit einem Vortrag zum Übersetzerseminar bei Breslau eingeladen warst, und mir dann, als du erfuhrst, dass ich auch da sein würde, ein Paket mitbrachtest und dazu sagtest: “Hier hast du alles, was ein Übersetzer zum Arbeiten braucht”. Erinnerst du dich noch, was sich darin befand?

Olga Tokarczuk: Nein, das weiß ich nicht mehr. Was befand sich darin? 

Maryna Shoda: Kaffee, Pralinen, ein Fläschchen einer seltsamen Nalewka mit der Aufschrift “Denelewka” (wie du erzähltest, aus eigener Herstellung deines Freundes und bekannten Autors Jacek Denel) und dazu deine neue Erzählung “Die grünen Kinder”, die später auf Belarussisch in der Zeitschrift “Dziejaslou” gedruckt wurde. Für mich ist das eine unglaublich glückliche Erinnerung, das allerschönste Geschenk einer Autorin an ihre Übersetzerin - nicht nur die Möglichkeit, sie zu übersetzen,  sondern auch einen solchen Kontakt mit ihr zu haben.
Ist es schon mal passiert, dass deine Bücher in bestimmten Ländern gerade dank der Übersetzer·innen besonders warm und herzlich aufgenommen wurden?

Olga Tokarczuk:  Sehr vieles hängt hier vom Übersetzenden ab, aber nicht nur von dessen Arbeit am Text selbst, sondern auch davon, wie er seiner Autorin “verbreitet”. Denn Übersetzende werden zu Gärtnern, Managern, wenden sich an Verleger, erzählen, betreiben Werbekampagnen auf Facebook und in anderen sozialen Netzwerken, wenden sich an die Medien. Das aktuellste, für mich sehr wichtige Beispiel dafür erlebe ich zur Zeit mit den “Jakobsbüchern” auf Englisch. Die amerikanische Übersetzerin Jennifer Croft hat diesem Buch sehr viel Zeit gewidmet und ist so nicht nur zu seiner Übersetzerin und Agentin geworden, sondern hat sich seiner in solcher Weise angenommen, als wäre es ihr eigenes. In den Staaten und in Großbritannien kommen die “Jakobsbücher” eben darum so gut an, weil es für Jennifer unerlässlich war, dass sie im englischsprachigen Literaturraum bemerkt werden. Dieses Buch hat sehr viel von ihr bekommen - von ihrer Zeit, ihrem Leben.
Aber ich weiß nicht, inwieweit es sich immer um ein Problem des Übersetzenden handelt, oder ob einige Sprachen meine Prosa vielleicht wirklich besser aufnehmen. Wovon das genau abhängt, kann ich nicht sagen.

Maryna Shoda: Gibt es Sprachen, von denen du sagen würdest, dass sie deine Werke zurückweisen?

Olga Tokarczuk: Mir scheint, als hätte es in Frankreich nie eine besondere Begeisterung für sie gegeben. Die Übersetzerin, Maryla Laurent, und ich schreiben uns von Zeit zu Zeit. Sie stellt mir viele unterschiedliche Fragen und schreibt: “Der französische Lesende ist sehr rationalistisch, Olga. Kannst du erklären, was dieser oder jener Satz genau bedeutet?” Und wie du weißt, gibt es bei mir diese besonders gewundenen, poetischen Sätze. Diese soll ich ihr erklären, aber Erläuterungen dieser Art bedeuten für mich in gewisser Weise, dass meine Worte vereinfacht, oder gar geglättet werden.
Die Polnische Sprache gibt dem Autor, der Autorin die wunderbare Möglichkeit, eine gewisse poetische Unklarheit zu hinterlassen. Damit der Lesende nicht sofort, nicht zu hundert Prozent versteht und damit Raum zur Interpretation bestehen bleibt. Und Maryla ist immer bemüht, aufzuklären und zu erläutern. Vielleicht ist meine Art zu schreiben, wie in einem offenen Brief, dem zentraleuropäischen Lesenden vertrauter und für den französischen etwas zu komplex. Vielleicht ist ihnen unverständlich, dass sie es mit Poesie oder poetischer Prosa zu tun haben. Und auf der anderen Seite werden meine Bücher in durchaus rationalen Ländern, wie den skandinavischen, sehr positiv aufgefasst. Vielleicht weiß ich auch einfach zu wenig, weil ich mich bei meinem Urteil nur auf die Rezensionen stütze. 

…Einmal traf ich mich mit einer Bekannten aus Frankreich, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Beim Kaffee unterhielten wir uns über unsere Lieblingsbücher, empfahlen einander die Werke, die wir für lesenswert hielten, und tauschten unsere Meinungen zu anderen aus, die im Allgemeinen als bemerkenswert gelten. Ich sagte ihr, dass ich sehr gern Montaigne lese, aber nicht in einem Zug von vorne bis hinten, sondern von Zeit zu Zeit, indem ich seine Essais an einer beliebigen Stelle aufschlage und seinen Ausführungen folge, zum reinen Vergnügen und um meine eigenen Gedanken zu klären. Das verwunderte meine Freundin sehr; skeptisch fragte sie mich, ob ich Montaigne auf Französisch läse. Auf Polnisch, erwiderte ich; die vermittelnde Arbeit des Übersetzers schien mir eine weiter nicht erwähnenswerte Selbstverständlichkeit.

Da sagte sie mir, dass es für sie und die meisten Franzosen kein Vergnügen, sondern im Gegenteil fast eine Qual sei, Montaigne zu lesen. Sein Französisch sei veraltet, archaisch, und zu verstehen, was er schreibt, erfordere große Konzentration. So sei es kaum möglich, sich an seinem Stil zu erfreuen. Montaignes Essais, in Frankreich Schullektüre, werden dort im Original so gelesen, wie bei uns in Polen die Werke des Renaissancedichters Mikołaj Rej - voller Hochachtung, aber auch unter einigen Mühen. Und so stießen wir rein zufällig auf folgendes Paradoxon: Dank der Vermittlung durch den Übersetzenden ist ein französischer Autor aus dem 16. Jahrhundert wundersamerweise leichter verständlich für mich als für meine Freundin, die sein Werk im Original lesen kann! Denn Wörter veralten, und der Übersetzende verjüngt sie; aus alten Trieben wachsen neue empor. Übersetzen ist demnach nicht nur die Übertragung von Sprache zu Sprache, von Kultur zu Kultur - es erinnert auch an eine Technik in der Gärtnerei, bei der man die Triebe eines Gewächses einem anderen aufpfropft, wodurch sie neue Kraft gewinnen und zum vollwertigen Zweig werden.

(Dabei fällt mir ein, dass Hermes nicht nur die Wörter, Wörterbücher, Ziffern, die Astronomie, die Musik, die Lyra erfand, sondern den Menschen auch den Anbau und die Pflege von Olivenbäumen zeigte.)

Meine Generation in Polen - und wahrscheinlich nicht nur meine - kennt die klassische französische Literatur durch die Übersetzungen des polnischen Dichters und Kritikers Tadeusz Boy-Żeleński. Er war ein sehr produktiver Übersetzer mit einer starken Persönlichkeit und fand eine Ausdrucksweise im Polnischen, die das geordnete und ordnungsliebende Französische überaus treffend wiedergibt. Wenn ich also Montaigne lese, dann lese ich ihn vermittelt durch Boy-Żeleńskis geistige Vorarbeit. Jeder Satz der Essais hat einen kürzeren oder längeren Moment in Boy-Żeleńskis Geist verweilt, bevor er zu Papier gebracht und schließlich gedruckt wurde, Daher wage ich die kühne These, dass ich die französische Literatur so kenne, wie ihr Übersetzer sie erlebte und verstand. Der Übersetzer ist anwesend in jedem einzelnen Satz. Was wohl Montaigne dazu sagen würde? …

Maryna Shoda: Über Belarus kann ich nur sagen, dass deine Bücher bei uns mit großem Interesse gelesen werden. Als du den Nobelpreis erhieltst, haben sich die belarussischen Leser·innen alle schrecklich gefreut. Und ich für meinen Teil träume weiter davon, dass es irgendwann nicht nur die von mir übersetzten “Ur und andere Zeiten” und “Der Gesang der Fledermäuse”, sondern wirklich alle deine Bücher auf Belarussisch  geben wird.
Wir unterhalten uns heute dank des Projektes Cities of Translators, das im Rahmen des TOLEDO-Programms stattfindet. Für Gewöhnlich sind es Literat·innen - Schriftsteller·innen und Poet·innen -, die den genius loci, den Geist des Ortes, prägen. Die Organisatoren dieses Projektes versuchen, die Natur der Stadt als Stadt der Übersetzer·innen zu enthüllen. In Folge einer Einladung zur Präsentation deines Buches “Ur und andere Zeiten” kam es 2011 zu deiner ersten Begegnung mit der Stadt Minsk. Auch, wenn seitdem eine lange Zeit vergangen ist, mit vielen neuen Übersetzungen und Präsentationen, möchte ich dich fragen, ob du von deinen ersten Eindrücken in Minsk erzählen kannst. 

Olga Tokarczuk: Minsk schien mir sehr nah und vertraut - man spürte diesen Geist, den genius loci, wie du sagst. Vor allem erinnere ich mich an die Menschen. Ich weiß noch, dass ich mich sehr sicher fühlte. Ich weiß noch, wie unfassbar sauber und reinlich es in dieser Stadt war. Ich erinnere mich auch an die Herzlichkeit und eine fast buddhistische Ruhe, die den Belarussen gegeben ist - ihre Sänfte, Kontaktfreudigkeit und kindliche Neugier haben mich oft tief berührt. Ich weiß nicht, vielleicht treffen dich meine Worte, aber in gewisser Weise hat die Stadt - mit ihrer Sauberkeit, ihrer Reinlichkeit, der Wärme, Offenheit und Sänfte der Menschen - auf mich den Eindruck gemacht, als käme sie aus einer anderen Zeit und als wäre ich in eine andere Welt gereist. Auch deswegen habe ich mit den belarussischen Protesten mitgefiebert und gelitten - bis heute bin ich erschüttert, wenn ich davon spreche. Denn wenn man politische Proteste einander gegenüberstellen wollte, wären da auf der einen Seite Proteste voller Gewalt und Wahnsinn und auf der anderen stünden die Belarussen, mit ihrer ganz besonderen politischen Kultur. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ein Bild durchs Netz ging, auf dem zu sehen war, wie die Belarussen ihre Schuhe auszogen, bevor sie sich zum Protest auf eine Bank stellten. Das bringt einen wirklich zum Staunen. Und dann erinnere ich mich noch an unseren Guide in Hrodna - einen herzensguten, offenen Menschen, der uns nach Möglichkeit alles zeigen wollte. Ich war im positivsten Sinne einfach schockiert, was für tolle Menschen die Belarussen sind. Ich habe also nur positive und warme Gefühle für Belarus, weshalb mich die aktuelle politische Situation besonders schmerzt.

Übersetzen als Rettung

Als der neugeborene Hermes noch in seiner Wiege lag, erwartete keiner, dass der Säugling über besondere Fähigkeiten verfügte, wenn er auch das Kind des Zeus selbst war. Doch schon bald schlüpfte der kleine Gott selbstständig aus dem Haus und stahl die Kuhherde seines Bruders Apollon. Um eine drohende Verfolgungsjagd zu vermeiden, wickelte er Felle um die Hufe der Tiere, damit sie keine Spuren hinterließen. Als es ihm gelungen war, die gestohlene Herde zu verstecken, kehrte er in seine Wiege zurück. 

Die schöne Geschichte, die ich nun erzählen möchte, sollten alle Übersetzer·innen in ihrem mythologischen Dossier aufbewahren - beweist sie doch, dass sie es waren, die die zivilisierte Welt gerettet haben.

Nach dem Niedergang des Römischen Reiches, unter dem Ansturm plündernder Barbaren auf Europa schien es, als sollte der ganze intellektuelle Reichtum der Antike verloren gehen. Und tatsächlich verschwand vieles unwiederbringlich - dass dennoch einiges gerettet werden konnte, ist vor allem den arabischen Kalifen aus der Abbasiden-Dynastie zu verdanken, die ab dem 8. Jahrhundert weite Landstriche im Mittelmeerraum und im Nahen Osten beherrschten. In ihrer Hauptstadt Bagdad gründeten sie eine große, auf Übersetzungen spezialisierte Akademie. In jenem berühmten Haus der Weisheit (Beit al-Hikma) übertrugen Scharen von Übersetzern nahezu alles in die arabische Sprache, was aus dem Römischen Reich stammte und ihnen in die Hände fiel. Besonders die Griechen hatten es ihnen angetan - Archimedes, Theophrast, Ptolemäus, Hippokrates, Euklid. Und Aristoteles. Ihr Interesse weckten wissenschaftliche Arbeiten aus Geographie, Astronomie, Medizin, aber auch aus Astrologie und Magie. Sie übersetzten nicht nur griechische Werke, sondern ebenso Texte aus Ägypten, Indien und Persien. Manch einer mag bedauern, dass sie sich nicht auch für historische Werke begeisterten oder für Lyrik, Epik oder das Drama. Die pragmatischen Bewohner des Ostens befassten sich weder mit Herodot noch mit Homer, Thukydides oder Aristophanes - ihr Interesse galt der Sprachwissenschaft, der Grammatik, der Stilkunde. Höchstwahrscheinlich beabsichtigten sie, auf dieser Grundlage eigene, noch bessere Werke zu schaffen. Während also über Europa die Rauchschwaden von den verbrannten Überresten seiner untergegangenen Zivilisation aufstiegen, überdauerten deren wichtigste Texte des Frühmittelalter in anderer Sprache in den Regalen der Bagdader und weiterer arabischer Bibliotheken - verborgen wie die von Hermes entführten Rinder des Apollon. All das in einer Zeit, die bekanntermaßen zu den düstersten Kapiteln der europäischen Geschichte zählt - Binnenkriege und Raubzüge von Barbaren machten Städte dem Erdboden gleich und zerstörten Ackerland, Gewalt und Krankheiten forderten scharenweise Menschenleben. Es war eindeutig nicht die Zeit der Bibliotheken.

Die Mühlen der Geschichte mahlen langsam und nach unergründlichen Regeln - und so kehrte die Situation sich um: Nun kam es auf der anderen Seite des Mittelmeerbeckens zu einem ähnlichen Geschehen wie dem oben geschilderten. Die Reconquista - der bewaffnete Kampf der Christen gegen die Mauren auf der Iberischen Halbinsel - wurde erbitterter; zur selben Zeit fanden die Kreuzzüge statt, und eifernde Prediger entfachten die Phantasie mit ihren Geschichten über die Rückeroberung des Heiligen Landes und der arabischen Reichtümer im Nahen Osten. Die Araber, zurückgedrängt bis in den Süden des heutigen Spaniens, hinterließen reiche, schöne Städte, ihre außergewöhnliche Musik und hochentwickelte Kultur. Und ihre Bibliotheken. Den Heeren der Eroberer folgten Mönche und andere Büchermenschen, die kein anderer Reichtum begeisterte als Schriftrollen und Kodizes. Nun wurden - umgekehrt - Übersetzer vom Arabischen in die christlichen Sprachen benötigt.

Der Erzbischof des rückeroberten Toledo rief die berühmte Übersetzerschule von Toledo ins Leben, deren Übersetzer, akribisch wie Archäologen, Werk um Werk für den Westen wieder zutage förderten. Häufig wurde zunächst vom Arabischen ins Kastilische und erst danach vom Kastilischen ins Lateinische übersetzt. Latein gefiel den neuen Übersetzern nicht, es erschien ihnen wie eine durch und durch veraltete Sprache, marode wie die Aquädukte des untergegangenen Römischen Reiches. Die Ausbildung der Schüler zu exzellenten, vertrauenswürdigen Übersetzern nahm viele Jahre in Anspruch. Ich weiß, dass es schwerfällt, all diese Namen im Gedächtnis zu behalten - nach denen eigentlich die Straßen im heutigen Europa benannt sein müssten: Adelard von Bath, Robert von Chester, Alfred von Sareshel, Daniel von Morley, Gerhard von Cremona, Plato von Tivoli, Burgundio von Pisa, Jakob von Venedig, Eugenius von Palermo, Michael Scotus, Hermann von Carinthia, Wilhelm von Moerbeke, Abraham bar Chija. Bevor diese großen Gelehrten ihre Übersetzungen anfertigten, kannte der Westen neben einigen kleineren Schriften verschiedener Autoren nur zwei (!) philosophische Werke von Aristoteles und ein einziges Werk von Porphyrios; ebenso verhielt es sich mit Platon (bekannt war der Timaios). Die Übersetzung des gesamten Aristoteles, zusammen mit den altrömischen und altgriechischen, byzantinischen und islamischen Kommentaren, die Übersetzung Hunderter anderer griechischer und arabischer Bücher läutete eine absolute Wende in der mittelalterlichen Wissenschaft und Philosophie ein. Es war eine Revolution, nach der die Zivilisation des Westens wieder auf die Beine kam.

Wie umfangreich diese Arbeit gewesen sein muss, kann man sich kaum vorstellen. Das Arabische ist überaus plastisch und bedient sich einer Vielzahl von Synonymen. Angeblich hat allein das Wort “Schlange” 500 davon! In einer solchen Sprache ist der Sinn oftmals mehrdeutig und hängt vom Kontext ab. Die Übersetzer versuchten, so gut es ging, damit zurechtzukommen. War ein Ausdruck ihnen unbekannt und fanden sie ihn nicht in ihren wertvollen Wörterbüchern, die sie einander ausliehen und unentwegt vervollständigten, beließen sie die arabischen Wörter und schrieben sie mit lateinischen Buchstaben. So führten sie ganz nebenbei - wie Segler, die Pflanzensamen als blinde Passagiere von fremden Kontinenten mitbringen - Begriffe ein, die der Westen zuvor nicht kannte:

Alembik, Algebra, Algorithmus, Alkali, Artischocke, Azur, Borax, Elixier, Jasmin, Kaffee, Kampfer, Laute, Nadir, Ries, Safran, Sorbet, Talkum, Zenit, Ziffer, Zirkon - und Hunderte andere.

Ein unerwarteter Reichtum, dessen Gottheit, wohlgemerkt, ebenfalls Hermes ist.

Maryna Shoda: Weißt du, die Proteste hatten anfangs etwas von Karneval - mit Liedern und humorvollen Parolen -, nun herrschen wirklich dunkle Zeiten und wir befinden uns in einer Emigrationswelle. Kürzlich habe ich die Biographie von Cyprian Kamil Norwid übersetzt und die heutige Situation in Belarus erinnert sehr stark an die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts in Polen, als viele Kulturschaffenden auswanderten. Eben jene, die den genius loci geschaffen hatten - den Geist des Ortes und des Landes.
Kannst du vielleicht etwas darüber sagen, wie deine Worte auf Belarussisch klingen? Du hast deine Texte ja schon auf Belarussisch gehört.

Olga Tokarczuk: Stimmt, gehört schon, aber ich spreche ja kein Belarussisch. Wie für viele andere Polen ist die belarussische Sprache auch für mich quasi ein falscher Freund. Erst bekommt man den Eindruck, man könne alles verstehen, und dann stellt sich heraus, dass man sich getäuscht hat. Daher kann ich nicht viel dazu sagen. Ich habe dich meine Texte lesen hören und sie klingen wunderbar, machen einen fast märchenhaften Eindruck. Und auch das ist Teil der Beziehung zwischen Autor und Übersetzer, oder in unserem Fall zwischen Autorin und Übersetzerin - ich vertraue dir meinen Text an und weiß, dass du ihm keinen Schaden zufügst und ihn so gut machst, wie du nur kannst. Mein Vertrauen ist in gewisser Weise auch eine Last für dich. Leider bin ich meistens nicht in der Lage, die Qualität einer Übersetzung zu bewerten. Nur anhand der Reaktionen seiner Leser kann ich darauf schließen, ob ein übersetzter Text Wirkung zeigt. Wenn bei den Lesern im Ausland die gleichen Fragen aufkommen, wie bei denen in Polen, zeugt das für mich von der Qualität der Übersetzung.

Maryna Shoda: Dann meine letzte Frage: Was würdest du den belarussischen Leser·innen gerne sagen? 

Olga Tokarczuk: Ich würde ihnen gerne sagen, dass meine Bücher auch belarussisch, d.h. im Original ebenso gut auf Belarussisch verfasst, sein könnten. In unserem Kreis, dem zentraleuropäischen Kontext, sind sie so universell, dass ich überglücklich wäre, wenn die Belarussen sie wie ihre eigenen Geschichten lesen könnten - wie Geschichten, die von ihnen selbst handeln. 

Literatur als Kommunikationsakt beginnt damit, dass wir einen Text mit unserem Vor- und Nachnamen unterschreiben und uns als Autorin oder Autor hinter ihn stellen. Damit, dass wir unsere tiefste, innerste Erfahrung, das Verletzlichste an uns, in Worte fassen und dabei das Risiko auf uns nehmen, nicht verstanden zu werden, mit unserer Geschichte Wut oder Abfälligkeit auszulösen. Literatur beginnt also mit jenem speziellen Moment, in dem unsere individuelle, einzigartige Sprache mit der Sprache anderer Menschen zusammentrifft. Literatur ist der Raum, in dem das Private öffentlich wird.

Es wird angenommen, dass das erste menschliche Wesen, das seinen Namen unter einen eigenen literarischen Text setzte und damit zur frühesten Schriftstellerin wurde, En-hedu-anna war, eine sumerische Hohepriesterin der Göttin Inanna. In einer finsteren Zeit gesellschaftlicher Unruhen und brutaler Machtkämpfe, einer Zeit der Enttäuschungen und Zweifel schrieb sie einen Hymnus an Ianna - es ist die berührende Klage eines Menschen, der sich von Gott verlassen glaubt. Dank der Übersetzung, die einen Text naturgemäß in die Gegenwartssprache versetzt, ist dieser Hymnus für die heutige Leserschaft sprachlich gut verständlich - und auch der Inhalt bleibt ihr nicht verschlossen, erzählt der Hymnus doch von einer zutiefst persönlichen, dabei aber zeitlosen und universellen Erfahrung. Das bedeutet, dass En-hedu-annas vor rund 4500 (!) Jahren geschriebenes intimes Bekenntnis der Verzweiflung und Trauer, der Verlassenheit, Einsamkeit, Enttäuschung auch heute von Leser·innen in einer völlig anderen Welt nachempfunden werden kann - und das, obwohl die Sprachen der damaligen Zeit bereits vor Ewigkeiten im wahrsten Sinne des Wortes zu Staub zerfallen sind.

Unsere private Sprache bildet sich während unseres Lebens heraus; sie leitet sich ab von der Sprache unserer Eltern, von unserer Umgebung, unseren Lektüren und von unserer individuellen Persönlichkeit. Manchmal ist sie eine intime Sprache, in der wir mit uns selbst reden und die natürlich nicht immer aufgezeichnet wird - schließlich hat nicht jeder die Angewohnheit, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Diese Sprache ist etwas ebenso Einzigartiges wie die Papillarlinien, anhand derer ein Mensch sich identifizieren lässt.

Ich denke, Kultur ist ein kompliziertes Austarieren zwischen privaten und kollektiven Sprachen. Kollektive Sprachen sind breite ausgetretene Wege, individuelle Sprachen sind einzelne schmale Pfade. Kollektive Sprachen sind gesellschaftlich vereinbarte Methoden einer möglichst verständlichen Kommunikation, bei der vor allem ein solcher Inhalt übermittelt werden soll, der ein für alle übereinstimmendes Bild der Realität entstehen lässt. In der so erzeugten gemeinsamen Realität beziehen sich die Wörter auf konkrete Phänomene und auf existierende oder als existent geltende Dinge. Von da an stützen die gemeinsame Sprache und das Realitätsbild sich gegenseitig. Paradox ist, dass wir uns durch diese gegenseitige Bedingtheit von kollektiver Sprache und Realitätsbild bisweilen beengt fühlen, da die Sprache die Realität vorantreibt und die Realität die Sprache. Das beste Beispiel hierfür sind totalitäre Gesellschaften, in denen die regierungstreuen Medien eine postulierte, vorhersehbare und entsprechend benannte Realität verbreiten. Die kollektive Sprache dient der Aufrechterhaltung einer bestimmten politischen Ideologie und wird von der Propaganda auf zynische Weise eingesetzt. In solchen Fällen kommt die gesamte Kommunikation zum Erliegen, ja wird sogar zur Unmöglichkeit.

Unter diesen Bedingungen wird es zum mutigen Akt, einen Begriff von außerhalb des Systems zu verwenden oder eine offensichtliche, innerhalb des Systems aber nicht akzeptierte Wahrheit laut auszusprechen. In der Gruppe der Systemtreuen wiederum wird die kollektive Sprache mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit und darum zusehends unreflektiert verwendet; die Wörter verlieren ihre Bedeutung, Kontexte scheinen vorgestanzt und zu abgenutzt, um noch schöpferische Wirkung zu entfalten. Eine solche Sprache besteht aus abgedroschenen Phrasen, sie hört auf, irgendwas zu kommunizieren, und wird zum reinen Ritual, zum Slogan. Die konturlosen Begriffe eignen sich höchstens noch, um sie zu skandieren.

Geschichte und Gegenwart lehren uns, dass es bei der Schaffung derartiger politisch gefärbter kollektiver Sprachen zu Wortdiebstählen, Wortentführungen kommt. Beliebige neutrale, leicht angestaubte, bereits fast archaische Wörter gelangen plötzlich wieder auf Banner und in Wahlprogramme. Einer dieser Begriffe ist etwa “die Nation”. Es zeigt sich, dass dieses Wort, wenn man es von seinem historischen Kontext befreit und ein wenig abstaubt, vorzüglich geeignet ist, um eine neue Ordnung zu etablieren. So besetzt ist es inzwischen, dass diejenigen, die sich nicht zu den Anhängern der neuen Ordnung zählen, dieses einst unschuldige Wort nicht mehr in den Mund nehmen können, ist es doch so aufgeladen mit neuen Bedeutungen, dass es zum Kampfbegriff geworden ist.

Natürlich bedarf es einer kollektiven Sprache, damit wir uns in einer stets wieder neu vereinbarten Realität überhaupt verständigen können. Es muss eine gewisse sprachliche Dimension der sozialen Verbundenheit geben; häufig vermitteln etwa bereits einfachste Redewendungen und Idiome ein Gemeinschaftsgefühl.

Der Kampf, bei dem anderen eine kollektive Sprache aufgezwungen werden soll, findet nicht nur in den Parlamenten und in den Medien statt, sondern auch in den Universitäten. Dort treten in Wellen intellektuelle Moden auf, die jeweils ihre eigene kollektive Sprache entwickeln - deren Implementierung zwar ein wenig dauert, die aber, wenn sie einmal etabliert ist, nicht nur dazu dient, ein bestimmtes Weltbild zu zeichnen, sondern auch dazu, Bündnisse zu schaffen, in die andere ein- oder von denen sie ausgeschlossen werden können. Jede Generation hat ihre eigene Sprache zur Beschreibung der Welt, ja, vielleicht hat heute sogar jedes Jahrzehnt seine eigene Sprache - und wir Sprecher sind uns häufig ihrer Kurzlebigkeit und Eingeschränktheit, ihrer ausschließlichen Fähigkeit zur Artikulierung dessen, was sich innerhalb ihrer Grenzen befindet, nicht einmal bewusst.

Es gibt keine schlimmere Krankheit als den Verlust der individuellen Sprache, wenn ein Mensch eine kollektive Sprache gänzlich zu seiner privaten macht. An dieser Krankheit leiden Beamte, Politiker, Akademiker und auch Geistliche. Die einzig mögliche Therapie ist die Literatur - der Umgang mit schöpferischer Sprache wirkt wie eine Impfung gegen eilends zusammengezimmerte und rein instrumental behandelte Weltsichten. Dies ist ein gewichtiges Argument für das Lesen von Literatur - auch klassische -, denn die Literaturgeschichte zeigt, dass kollektive Sprachen einmal anders funktionierten, dass sie auch andere Weltsichten eröffneten. Eben darum ist es so wichtig zu lesen: um diese anderen Sichtweisen zu entdecken und sich zu vergewissern, dass unsere Welt nur eine von vielen möglichen Welten ist - und uns ganz sicher nicht für immer gegeben.

Übersetzerinnen und Übersetzer tragen eine ebensolche Verantwortung wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Die einen wie die anderen sind die Hüter eines der erhabensten Phänomene der menschlichen Zivilisation - der Möglichkeit, anderen Menschen die intimste individuelle Erfahrung des Einzelnen zu übermitteln und diese Erfahrung in einem erstaunlichen kulturschaffenden Akt zu einer gemeinsamen zu machen. Und dabei steht ihnen Hermes zur Seite - der Gott der Kommunikation, der Beziehungen knüpft und Verbindungen schafft.

 


Dieser Beitrag wurde durch Auszüge aus Olga Tokarczuks Essay “Wie Übersetzer die Welt retten” ergänzt, der in deutscher Übersetzung bereits 2020 in “Der liebevolle Erzähler” im Kampa Verlag erschien. Die hier zitierten Auszüge wurden von Lisa Palmes aus dem Polnischen übersetzt.
Das Interview wurde von Maryna Shoda ins Belarussische und von Susanna Sophia Koltun anschließend ins Deutsche übertragen.

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Maryna Shoda wurde 1973 im belarussischen Pruzhany geboren. Sie studierte an der Fakultät für Philologie der Belarussischen staatlichen Universität in Minsk, wo sie inzwischen auch unterrichtet. Ihre Forschungsinteressen umfassen Mythologie, Literatur- und Kulturgeschichte sowie Kultursemiotik. 2019 promovierte sie zum Thema „Mythos im künstlerischen System von William Butler Yeats“. 2000 bis 2005 nahm Maryna Shoda an der internationalen Übersetzerschule Translatorium teil, 2012 bis 2016 war sie an Treffen und Werkstätten des internationalen Übersetzerseminars Übersetzer ohne Grenzen beteiligt. 2015 wurde sie für die Übersetzung des Romans „Weiser Dawidek” von Paweł Huelle mit dem Preis des belarussischen Internet-Magazins Prajdzisvet ausgezeichnet. Maryna Shoda übersetzt aus dem Polnischen. Sie übersetzte unter anderem Janusz Korczak, Jarosław Iwaszkiewicz, Czesław Miłosz, Sławomir Mrożek, Zbigniew Herbert, Olga Tokarczuk ins Belarussische.