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Übersetzen in Belarus

November 2021 - Januar 2022 

 

Übersetzen in Belarus: Disziplinierung oder Emanzipation?

Welche Bedeutung hat das Übersetzen heute in Minsk? Wie nehmen Übersetzerinnen und Übersetzer ihre Rolle in der belarussischen Gesellschaft war? Welchen Stellenwert haben Freude und Vergnügen im Übersetzungsprozess? Und welche ukrainischen Erfahrungswerte könnten die belarussische Übersetzergemeinschaft interessieren, wenn von Übersetzungen – als Disziplinierung oder Emanzipation – die Rede ist?

Am 22. Dezember 2021 wurden die Ergebnisse einer zuvor unter Übersetzerinnen und Übersetzern aus Minsk/Belarus durchgeführten Umfrage präsentiert. Eingeladen waren zu dem Treffen drei weitere Übersetzerinnen, die die Ergebnisse anschließend diskutierten.  

Die Präsentation der Umfrage übernahm Andrej Vazjanau - Anthropologe und Dozent an der Europäischen Humanistischen Universität (Vilnius).

Als Rednerinnen waren eingeladen:

Alena Talapila - übersetzt aus dem Deutschen und Englischen ins Belarussische. Ihre Übersetzung des Buches “Mein litauischer Führerschein: Ausflüge zum Ende der Europäischen Union” von Felix Ackermann erschien 2020.

Alena Piatrovič - Übersetzerin, Redakteurin, in der Vergangenheit auch Linguistin und Dozentin im Bereich der Sprachwissenschaften. Zu ihren Übersetzungen gehören Joanne K. Rowlings Werke über Harry Potter.

Nelya Vachouska - Übersetzerin, Mitglied der ukrainischen Initiative “Übersetzer in Aktion” (ukr. “Perekladachi v dji”), Co-Organisatorin der deutsch-ukrainischen Übersetzerwerkstatt ViceVersa, Co-Koordinatorin des Projekts “City of Translators Kyiv”.

Dass wir auf die Idee kamen, im Zusammenhang des Übersetzens von Emanzipation und Disziplinierung zu sprechen, hatte mehrere Hintergründe. Zum einen ein beispielloses Interesse an Belarus im Ausland, das als solches bereits die Aktualität von Fragen der Übersetzung und Repräsentation steigert. Zum anderen, dass in der belarussischen Gesellschaft selbst debattiert wird, was man in der derzeitigen Situation äußern darf und sollte und wie sich in der eigenen Arbeit akzentuieren lässt, wer, für wen und unter welchen Bedingungen übersetzt wird. Überdies zeigte sich das Minsk der beginnenden 2020er Jahre immer seltener als physische Landschaft und wurde immer häufiger als virtuelle, translokale Gesellschaft dargestellt, deren Menschen durch die Pandemie, die Repressionen und unweigerlich resultierende Auswanderungen voneinander getrennt wurden. Und dann waren da noch die stets aktuellen alten Debatten über Varianten der belarussischen Lexik und Orthografie, die Authentizität der belarussischen Sprache und die Zweisprachigkeit.

Trotz aller Besonderheiten des belarussischen Übersetzungskontexts – im sprachlichen und organisatorischen Sinne, in Anbetracht des historischen Moments – waren wir darauf bedacht, ihn nicht als Ausnahme zu konstruieren und suchten Parallelen zur ukrainischen Situation.

Die Umfrage spielte dabei eine unterstützende Rolle, mit Hilfe derer wir erste Einblicke in die Haltungen der Menschen erhielten, die in Belarus als Übersetzer tätig sind. Den Gästen wurde nahegelegt, sich mit den Ergebnissen vertraut zu machen und einzuschätzen, inwieweit diese mit ihren eigenen Erfahrungen übereinstimmen. 

Im Weiteren werden einige Ergebnissen der Umfrage neben den grundlegenden Thesen des Treffens, inklusive Videobotschaften, aufgeführt. Für uns ist dieser Text keine Zusammenfassung, sondern als Einladung zur Reflexion darüber zu verstehen, was die übersetzerische Tätigkeit in Minsk und Belarus in den 2020er Jahren ausmacht und welche Möglichkeiten zur Solidarisierung innerhalb der Übersetzergemeinschaft bestehen.

Einige Umfrageergebnisse

Durchgeführt wurde die Umfrage im November 2021. Ein Aufruf zur Teilnahme erfolgte über Facebook – darunter gezielt auch in der Gruppe “Translators and Interpreters of Belarus”. Wir erhielten 44 Fragebögen (nach Maßstäben der quantitativen Soziologie eine unbedeutende Zahl, jedoch legten wir großen Wert auf freie Antworten, für die der Fragebogen reichlich Raum bot). Es folgen nun einige Zahlen und Kommentare hinsichtlich der Antworten. Die quantitativen Ergebnisse wurden dabei nicht prozentual angegeben, sondern entsprechen jeweils der Summe der Fragebögen.

An der Umfrage nahmen hauptsächlich Frauen teil (die Frage nach Geschlecht/Gender wurde von 31 mit “weiblich” und 12 mit “männlich” beantwortet). Sechs Personen gaben an, unter 30 Jahre alt zu sein; 19 - zwischen 31 und 40; 14 - zwischen 41 und 50; 4 - über 51.

Für 12 Personen betrug die Berufserfahrung als Übersetzer weniger als 10 Jahre. Die Hälfte (22 Personen)  gab an, zwischen 10 und 20 Jahren zu übersetzen. Bei 8 Personen waren es über 20 Jahre. Ganze 10 von 44 Personen waren in Bereichen ausgebildet, die nicht direkt mit dem Übersetzen in Verbindung stehen: Im Einzelnen fanden sich Chemie, Biologie und Wirtschaft unter den Antworten. Fast alle verbleibenden Personen (32) waren in den Bereichen Philologie, Linguistik, Pädagogik oder Übersetzung/Translatologie ausgebildet.

Arbeitssprachen

Von den 44 befragten Personen übersetzten 41 ins Belarussische (diese Zahl ist keinesfalls repräsentativ für die belarussische Norm, wo doch die russische Sprache in den meisten Bereichen überwiegt; vielmehr charakterisiert eine solche Beliebtheit offenbar die Personen, die die berufliche Gemeinschaft ausmachen und sich für das Thema der Umfrage interessieren). Auch das Russische zeigte Beliebtheit als Zielsprache für 33 Personen, also drei Viertel der Befragten (einige betonten, sie würden seltener ins Russische übersetzen). 

Zugleich gaben 13 Personen an, aus dem Belarussischen zu übersetzen und 28 aus dem Russischen.

Unter den genannten Arbeitssprachen dominierten neben dem Belarussischen und Russischen deutlich die europäischen Sprachen (man könnte sie in diesem Fall auch EU-Sprachen nennen); einmal wurden jeweils Japanisch, Chinesisch, Hebräisch und Sanskrit genannt.

Als übersetzerisches Fachgebiet nannte die Hälfte der Befragten die schöngeistige Literatur. Wohl hat dies jedoch nicht zu bedeuten, dass die Hälfte aller Übersetzer und Übersetzerinnen in Belarus Prosa und Poesie übersetzt; die meisten übersetzen in gleich mehreren Bereichen und der Facebook-Gruppe nach zu urteilen stellen Übersetzungen in der Sparte Business/Kommerz statistisch die größte Teilgruppe dar. Andererseits folgten der Teilnahmeaufforderung auch viele Übersetzer, die nicht im Bereich der Literatur tätig sind.

In der Umfrage baten wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch darum, bis zu drei Personen zu nennen, die sie im Bereich der Literatur und privat beim Übersetzen beeinflussen. Die Antworten interessierten uns dabei weniger im einzelnen als vielmehr im Verhältnis zueinander. Ein Name dominierte (mit 12 Erwähnungen) deutlich unter den Antworten, während die auf dem zweiten und dritten Platz jeweils sieben und dreimal genannt wurden. Weitere Personen wurden jeweils nicht mehr als einmal erwähnt (Chadanovič - 12, Sjomucha - 7, Gal’- 3).

Eine weitere Frage bezog sich auf Wörterbücher und andere Übersetzungswerkzeuge. Am häufigsten wurden digitale Übersetzungstools, wie Internetseiten und Plattformen genannt – darunter auch solche, die als Wörterbücher dienen. Auch wenn man die Digitalisierung des Übersetzens allgemein als globalen Trend bezeichnen kann, verwies eine Antwort doch gezielt auf die belarussische Situation: Wer ins Ausland flüchtet, muss sich teilweise von seinem physischen Bücherbestand trennen. 

Ein weiterer Themenblock bedurfte der Reflexion zu Themen wie dem Stellenwert des Übersetzens im Leben der Befragten, die Bedeutung von Übersetzern und Übersetzerinnen in der Gesellschaft, die Bestimmung des Übersetzens usw. Mit der Methode des Thematischen Kodierens ließen sich anhand der Antworten einige Schlüsselkategorien erstellen. Thematisches Kodieren am freien Text kann als offener Prozess verstanden werden, bei dem das Element der Subjektivität unausweichlich ist – sowohl während der Erstellung der Kategorien, als auch bei der anschließenden Unterteilung der Antworten in diese. Dessen ungeachtet erlaubt einem die Prozedur zu verstehen, wie Bedeutung und Wert der eigenen Arbeit innerhalb der Übersetzergemeinschaft definiert werden.

Welche Rolle spielt das Übersetzen in Ihrem Leben? 

Kategorien für den Stellenwert des Übersetzens in der Lebensplanung der Befragten: Einkommen, Hobbys, berufliche Tätigkeit. 

Kategorien bezüglich geistiger Tätigkeit: intellektuelle Befriedigung; Mittel zur Wissenserweiterung, Selbstbildung; Antrieb für stete Weiterentwicklung; "Das interessanteste Spiel der Welt." 

Für einige ist das Übersetzen in Belarus eine Möglichkeit, sich öffentlich zu positionieren. 

Ein Weg, etwas nützliches für die Kultur zu tun.

“Warum glauben Sie, dass Übersetzungen gebraucht werden?” – Auch für die Auswertung der Antworten auf diese Frage wurde die Methode des Thematischen Kodierens genutzt. (Den Befragten wurde nahegelegt, die Antworten in Bezug auf bestimmte Arbeitssprachen zu konkretisieren.) Im Weiteren aufgeführt werden ausschließlich Teilantworten, die sich direkt auf Sinn und Zweck des Übersetzens beziehen; Antworten aus unterschiedlichen Fragebögen wurden durch “\\\” voneinander getrennt; Tippfehler wurden behoben.

Hier verwiesen die Antworten größtenteils auf die Bereiche Kommunikation, gegenseitiges Verständnis und Informationsaustausch der verschiedenen Seiten des Übersetzungsprozesses. Des Weiteren sahen die Befragten die Rolle des (nicht literarischen) Übersetzens vorwiegend darin, anderen “Menschen” – einem Publikum oder Klienten – zu helfen; den Bedürfnissen des Lesers nachzukommen. Nicht wenige Antworten enthielten auch abstraktere Vorstellungen ohne pragmatische Motive, wie die “Bereicherung” von Sprache, Intellekt und Kultur.

Die Teilantworten wurden farblich entsprechend ihrer jeweiligen Schlüsselkategorie hervorgehoben:

Mehrwert für ein Auditorium, eine Leserschaft
Mehrwert für die jeweilige Zielsprache und deren Kultur
Mehrwert für Kommunikation und gegenseitiges Verständnis
Universeller Mehrwert für die Menschheit, Zivilisation
Eigene Zufriedenheit
Ausbau der Branche

die Leser machen sich mit Sachverhalten aus dem Ausland vertraut <...> Erweiterung des Wortschatzes der Sprache \\\ Kommunikation von verschiedenen Völkern und Kulturen, Verbreitung nützlicher Informationen, Weitergabe von neuem Wissen, gegenseitiges Verständnis. \\\ erweitern den Horizont, bereichern Sprache und Denken mit neuen Werkzeugen, geben der Welt Schönheit und Verstand \\\ damit die ganze Welt auf einem Stand ist \\\ literarische Übersetzungen <...> sind ein Mittel des kulturellen und literarischen Dialogs <...> Bereicherung der eigenen Literatur durch die Texte einer anderen <...>  bringen unseren Lesern die Werke einer fremden Kultur näher \\\ eine Sache der Verständigung zwischen Menschen und Kulturen \\\ damit sich die Menschheit weiterentwickeln kann, müssen wir einander verstehen können und einen schnellen Austausch von neuen Technologien und Ideen sicherstellen \\\ Übersetzungen werden zur Verständigung zwischen verschiedenen Völkern und Kulturen, den Austausch von Informationen und Erfahrungen in den unterschiedlichsten Gebieten und Bereichen des Lebens gebraucht  \\\ ich brauche sie für mich persönlich \\\ Bereicherung und Ausbau von Sprache und Literatur; um Diskurse der verschiedensten Kulturräume einander anzunähern \\\ Übersetzungen werden dafür gebraucht, um die Literatur der Zielsprache zu bereichern und das Repertoire der Sprache aufzuzeigen \\\ Übersetzungen sollen den Menschen die Verständigung erleichtern \\\ Übersetzungen schaffen Zugänge zu Ideen von außerhalb der Sprachgrenzen, zu Gesellschaften oder einzelnen Personen \\\ um Wissen und Informationen zu erweitern  \\\ im globalen Sinne zur Sicherung einer besseren Verständigung zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten; lokal <...> dazu, um optimale Kommunikation zu ermöglichen und Auftraggeber dabei zu unterstützen \\\ Kommunikation für den Zugang zu Wissen und Technologien \\\ wie sollten Menschen, die keine Fremdsprachen sprechen, anders Bücher lesen oder Gebrauchsanweisungen verstehen… um belarussischsprachigen Kindern den Zugang zum Erbe der Welt zu ermöglichen, zur Völkerverständigung, das Verlangen danach, die Kunst eines anderen mit eigenen Worten auszudrücken (aneignen, umwandeln, übernehmen), eine “red rose” im eigenen Garten zu pflanzen \\\ Integrieren der Weltliteratur in die belarussische Kultur, interkulturelle Beziehungen, Bereicherung der Literatursprache, Weiterentwicklung der belarussischen Literatur, Förderung der belarussischen Schriftsprache \\\ Steigerung der Beliebtheit <...> poetischer Werke in der belarussischen Literaturlandschaft, um die Zielsprache in der Entwicklung zu fördern und die Kultur mit neuen Bedeutungen zu bereichern \\\ um andere Kulturen zu studieren und Brücken zu bauen. Um etwas aus einer fremden kulturellen Praxis in die eigene Kultur zu bringen  \\\ um die Grenzen der eigenen Welt zu erweitern  \\\ abgesehen davon, dass die Übersetzung eines ausländischen Werkes uns eine fremde Kultur erschließt, bereichert sie auch die Kultur, in der sie vermittelt wird. Der Informations- und Kulturraum des Landes erweitert sich. In Belarus ist das wichtig, weil wir weiterhin in einem russischsprachigen kulturellen und medialen Paradigma leben und je mehr Texte auf Belarussisch erscheinen, desto besser und freier wird man sich in diesem Raum fühlen. \\\ um die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Vertretern der Nationen zu verbessern \\\ eine Methode, um mit den Menschen anderer Länder und Kulturen in Verbindung zu treten, emotionale Fähigkeiten auf globalem Niveau auszubauen sowie Erfahrungen auszutauschen \\\ damit die Menschen das lesen können, was mir selbst (auf Italienisch) gefällt \\\ zur Weiterentwicklung der eigenen Sprache, um neue Muster in den kulturellen Kontext zu integrieren und natürlich, damit die Leser sich damit vertraut machen können, was in anderen Ländern herausgegeben wird \\\ Übersetzen als Branche. Na und zum “Sterne vom Himmel holen” \\\ Übersetzen <...> hilft Menschen aus verschiedenen Ländern dabei, sich zu verständigen, erlaubt es uns, die Erfahrungen einer Nation zum Allgemeingut der Menschheit zu machen, zerstört Barrieren, die das gegenseitige Verständnis behindern. Sogesehen bereichern literarische Übersetzungen die Literatur und Kultur der Zielsprache. Übersetzte Klassiker der Weltliteratur werden Teil der belarussischen Kultur. \\\ um die Verfügbarkeit von Texten zu erhöhen \\\ wenn ein Belarusse und  ein Engländer/Deutscher/Pole/… denselben Text in ihrer Muttersprache lesen, ist es wichtig, dass sie dabei die gleichen Dinge erleben und die gleiche emotionale Kraft spüren, denn wenn sie grundsätzlich dieselben (oder zumindest sehr ähnliche) Erfahrungen machen, können sie sich am ehesten einem Dialog hingeben und einander besser verstehen \\\ eine Brücke zwischen den Kulturen \\\ für die zwischenmenschliche Kommunikation, um den Kapitalismus voran zu treiben und neue Märkte zu erobern, um Ideen und Lehren zu verbreiten \\\ um Menschen bei der Verständigung zu unterstützen (beispielsweise bei Verhandlungen), konkrete Aufgaben zu erfüllen (zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung im Ausland, mit der Übersetzung von Dokumenten und Dolmetschen); die Möglichkeit, Teil von etwas wunderbarem zu sein (Übersetzen von Literatur) \\\ um über Geschehnisse zu informieren, Gedanken auszutauschen, damit Menschen nicht den Zugang zu globalen Zusammenhängen verlieren. Damit die Gedanken fremdsprachiger Autoren bei uns verbreitet werden und die Gedanken unserer Autoren in der Literatur im Ausland zugänglich sind \\\ um Intellekt und Kultur zu bereichern \\\ beim Ausfüllen von amtlichen Dokumenten in einem anderen Land und um die damit verbundene Verfahren besser zu verstehen \\\ Inhalt und Sprache des Originals können nicht von allen Menschen verstanden werden – um ihnen den Inhalt nahezubringen muss dieser an ihre Sprache angepasst werden

“Was denken Sie, worin die Rolle von Übersetzerinnen und Übersetzern in der belarussischen Gesellschaft und im minsker Alltag besteht?” fragten wir weiter. Anstatt die Bedeutung der Rolle zu umschreiben, verwiesen einige Antworten (an die Hälfte) auf die Stellung von Übersetzern. Die Rolle an sich wurde in den Antworten am häufigsten im Sinne einer Hilfeleistung für den Leser erklärt – in einem breiten Spektrum zwischen größerer Mission (um eine “Teilhabe am kulturellen Leben” zu fördern) und der rein pragmatischen Funktion der Informationsvermittlung. In vielerlei Hinsicht ergänzen diese Themenblöcke die Überlegungen zu Sinn und Zweck von Übersetzungen, wobei der soziale Aspekt der Vermittlung an dieser Stelle unterstrichen wurde. Die folgenden Schlüsselkategorien konnten herausgestellt werden:

kulturelle Bildung
Kommunikationsförderung
“unsere” Stellvertreter im Ausland
Verbreitung von Inhalten
Kontakte und Bekanntschaften herstellen
Lebensqualität verbessern

\\\ Übersetzer prägen die Literaturgeschmäcker der Epoche :) \\\ Förderung von Kommunikation, Leselust, Verbreitung klassischer und zeitgenössischer literarischer Werke auf Belarussisch (ins Russische wird ohnehin vieles übersetzt) \\\ Übersetzern wird verdankt, dass wichtige Treffen und Feierlichkeiten stattfinden können, Übersetzer helfen dabei, Neuigkeiten in unserem sozialen Umfeld zu etablieren und unsere Talente im Ausland zu vertreten \\\ Menschen im Ausland wahrheitsgetreu und verständlich über das Leben und die Geschichte Belarus’ zu informieren. Auch um belarussische Kreise in verschiedenen Bereichen dabei zu unterstützen, Kontakte und Beziehungen zu anderen Ländern herzustellen und die Menschen in Belarus mit Leben, Geschichte und Kultur anderer Nationen vertraut zu machen. Übersetzerinnen und Übersetzer sind ein ganz besonderes Puzzleteil in der interkulturellen Kommunikation \\\ Gegenseitiges Verständnis \\\ die Rolle besteht mehr darin, die Literatur zu popularisieren, als für eigene Werke zu  werben \\\ das Leben abwechslungsreicher und vielfältiger zu machen \\\ Aufbau des politischen, kulturellen und technischen Dialogs zwischen Ländern \\\ sie legen den Grundstein für die zukünftige Identität der belarussischen Gesellschaft \\\ Belarus eröffnen sie den Rest der Welt und der Welt das Land Belarus \\\ Übersetzer sind heutzutage praktisch zu Dienstleistern des sprachlichen Handwerks geworden, das nicht von Maschinen ausgeführt werden kann und erfüllen als Teil der Intelligenz eine Bildungs- und Bezugsfunktion in der Gesellschaft und setzen neben der sprachlichen auch eine allgemeinkulturelle Messlatte im Zeitalter des orthografischen Massenanalphabetismus und einem verhältnissmäßig geringen Prestige der Philologien. \\\ anderen die Welt näher zu bringen, gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, den Schatz eines anderen von Herzen zu vermitteln \\\ Agenten für interkulturelle Beziehungen und Literatur, Botschafter für fremdsprachige Literaturen in Belarus \\\ Menschen, die die Belarussen dabei unterstützen, am globalen kulturellen Kontext teilzuhaben \\\ Übersetzer unterstützen den Aufbau der belarussischen Realität, in erster Linie für die Zukunft unserer Kinder \\\ die Praxis zeigt, dass viele Menschen eine Fremdsprache verstehen, aber nicht sprechen können und ohne Übersetzer geht da gar nichts \\\ Horizonte erweitern, Neues entdecken; Grundsätzlich: Freude vermitteln, weil sie Menschen den Zugang zu Texten ermöglichen, die sie sonst nicht lesen könnten \\\ auch Übersetzer haben die belarussische Sprache und Literatur in gewisser Weise populär gemacht. Sie sind ein wichtiger Teil des Fundaments in diesem Prozess  \\\ [Übersetzer] schaffen Zugang zu Wissen und Fakten, die der Gesellschaft aufgrund von Sprachbarrieren verwehrt waren <...> bei internationalen Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen werden Übersetzer gebraucht \\\ die Zuschauer/Leser wollen sich mit Originalinhalten vertraut machen und wenn diese bereits an den belarussischen Kontext angepasst sind, fällt es ihnen leichter sich in diesem weiterzuentwickeln \\\ Kulturträger \\\ Übersetzungen helfen den Belarussen dabei, sich frei in der Welt zu bewegen/auszuwandern, ermöglichen die Existenz und Informationsverbreitung von NGOs, neue Bücher lesen zu können \\\ den kulturellen und wirtschaftlichen Raum zu erweitern \\\ kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen zwischen den Menschen ganzer Länder können dank Übersetzungen entstehen <...> In den letzten Jahren wurden dutzende Bücher in erster Linie ins Belarussische übersetzt. Diese unterstützen die steigende Popularität der belarussischen Sprache \\\ sie bringen die Entwicklung der Sprache voran, fördern die Beliebtheit von guter Literatur \\\

Diese Antworten werfen eine Menge neuer Fragen auf. Zum Beispiel: Wer wird wann zum Nutznießer des Übersetzens? Sind es konkrete Personen, die belarussische Kultur, die gesamte “Menschheitskultur”? Wie drücken sich die Autorität und Verantwortung der Übersetzergemeinschaft aus? Angesichts unseres thematischen Schwerpunkts konzentrierten wir uns an dieser Stelle auf folgendes: Viele Übersetzer und Übersetzerinnen arbeiten “für sich” in einem Zustand, der von einigen sogar als “Askese” bezeichnet wird; jedoch ist das Übersetzen von literarischen Texten weniger professionalisiert als andere Bereiche, obwohl erstere ein breites Spektrum an Funktionen erfüllen.

Auch daraus ergeben sich Fragen: Was ist die eigentliche Motivation beim Übersetzen? Wie problematisch ist es, wenn Übersetzungen oder andere “Schreibtischarbeit” nicht bezahlt werden?

Diskussion

In ihren Beiträgen gaben die Übersetzerinnen Feedback zu den Ergebnissen der Umfrage und machten auf Spannungen und Dilemmata ihrer Berufspraxis sowie die Umstände der letzten zwei Jahre aufmerksam. So erkannte Alena Talapila in den Antworten die Besonderheiten ihrer eigenen Wahrnehmung beruflicher Herausforderungen unterschiedlicher Karriereabschnitte und bemerkte außerdem, dass beim Übersetzen solche Motive wie Spaß, Freude und Eigennutzen immer häufiger von Vorstellungen wie Selbstlosigkeit, Absicht, aber Sicherheitsbedenken überschattet werden.

Alena Piatrovič wies darauf hin, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Hobby beim Übersetzen, im Gegensatz zu anderen Berufen, oft verschmelzen; sie habe in ihrer Freizeit schon übersetzt, um zu prokrastinieren (in der weiteren Diskussion nannte sie das Übersetzen auch therapeutisch); beim Thema Sichtbarkeit sprach sie in Hinblick auf das Verlagswesen davon, dass die Namen von Übersetzerinnen und Übersetzern noch oft im Schatten von Autor und Verlag verbleiben.

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Nelya Vachouska verwies auf die Gemeinsamkeiten von Eigenschaften (wie Alter und Geschlecht) der ukrainischen und belarussischen Übersetzergemeinschaften und teilte einige Details aus dem ukrainischen Kontext: darunter den Schritt zur Professionalisierung, den Bücher-Boom und die Dezentralisierung des kulturellen Lebens der letzten zehn Jahre. Nelya sprach außerdem über die Ergebnisse von Studien, die in der Ukraine zum Thema Übersetzung durchgeführt wurden (nachzulesen beispielsweise unter: TIA-Research 2021 - Summary [EN]: https://bit.ly/3r3Ch6h).

Als im Publikum die Frage aufkam, welche perspektivischen Solidaritätsformen innerhalb der Gemeinschaft existieren, betonte Nelya, dass es sehr schwierig sei, sich im vielschichtigen Bestand von Übersetzerinnen und Übersetzern zusammenzuschließen oder zu organisieren und auch die Prekarisierung des Übersetzens dieses Unterfangen nicht erleichtern würde.

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Alena Talapila erinnerte daran, dass die gegenwärtigen Repressionen in Belarus auch die Übersetzergemeinschaft betreffen – auf direktem Wege, oder durch Schließungen von Institutionen zur Übersetzungsförderung, fehlende öffentliche Auftritte und den daraus resultierenden Bruch mit der Leserschaft. Andererseits, sagte Alena, würden den belarussischen Übersetzerinnen und Übersetzern seit eineinhalb Jahren neue Aufenthaltsorte offen stehen und auch das Interesse an Belarus sei gestiegen. Somit könne selbst die Vertreibung von Verlegern und Übersetzern aus dem physischen Gebiet von Belarus zu einem Impuls für neue Projekte – und zur Emanzipation – werden.

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Während aktuelle Themen der Sicherheit, des Kontakts zur Leserschaft und der Solidarität in Anbetracht der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen eingehend diskutiert wurden, blieben andere, in gewisser Weise traditionellere Fragen unbehandelt. Inwieweit charakterisiert sich der belarussische Raum durch den Kampf um die Authentizität seiner Sprache(n) (Nelya sprach diesbezüglich kurz vom ukrainischen Kontext)? Wie relevant sind Debatten über eine sprachliche Norm des Belarussischen wirklich, wenn die Sprache selbst doch für viele nicht die Norm darstellt? Sollte man beim Übersetzen darauf achten, das Belarussische zu “normalisieren” (und wie)? Und wie würde sich der Status des Russischen unter neuen Verhältnissen verändern? Es ist bezeichnend, dass sich diese “rein sprachlichen” Fragen heutzutage nicht von sozialen, juristischen und politischen Themen trennen lassen. Disziplinierung und Emanzipation entstehen vorrangig als direkte Auswirkungen des Übersetzens auf Leben, Projekte und Gemeinschaften der Menschen – nicht auf der Ebene abstrakter linguistischer Theorien oder (politischer) Ideologien.

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Andrei Vazyanau, Foto: © Maria Matjaschowa

Andrei Vazyanau promovierte in Sozialanthropologie an der Universität Regensburg. Seit 2018 ist er Dozent am Fakultät für Sozialwissenschaften, European Humanitites University, Vilnius, und Researcher bei Miensk Urban Platform (Belarus/Litauen). Seine Feldforschungserfahrung umfasst urbane und kollaborative Ethnographien im Donbass, der Ukraine (2011–2013), Rumänien (2015–2016) und Belarus (2017–2021) mit Schwerpunkt auf Mobilität, Zeitnutzung und Klanglandschaften. Seine neuesten Publikationen berührten Themen der Fürsorge und der Nutzung neuer Medien während der Massenrepressionen in Belarus.

Andrei ist Autor und Übersetzer von Publikationen in englischer, belarussischer, ukrainischer, litauischer, russischer und deutscher Sprache.

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