Cities of translators Das Gefühl von Zuhause

SPUREN AUF BLÜTENBLÄTTERN

von Volha Hapeyeva 
übersetzt aus dem Belarussischen von Maria Weissenböck

 

Verletzlichkeit
Neugier
Einsamkeit
Körper
Raum
Sprache
Männer
Widerstand
Stadt

„Welches Wort wählen Sie jetzt?“, werde ich gefragt.

Verletzlichkeit.

Das Wort Verletzlichkeit hat etwas Zartes und Ergreifendes, nichts Negatives, Schlechtes oder Defizitäres. Meiner Meinung nach geht es bei Verletzlichkeit um die Feineinstellung und um Sorgsamkeit, darum, dass alles um uns und wir alle wirklich verletzlich sind und jeden Moment verschwinden oder Risse bekommen können, wegen eines gemeinen Wortes, eines bösen Blicks oder einer feindseligen Rempelei. Deshalb betrifft Verletzlichkeit in meinen Augen uns selbst und unser Leben.

Verletzlich bedeutet keineswegs schwach, verletzlich hat für mich sogar mehr mit unserer Verantwortung für das Universum und unsere Mitmenschen zu tun, und natürlich auch mit einer sorgsamen Haltung uns selbst gegenüber.

Minsk ist meine Heimatstadt (im direkten Sinne des Wortes), ich wurde dort geboren und habe viele Jahre dort gelebt. Aber habe ich mich in dieser Stadt wohlgefühlt?

Minsk, Zeichnung vom Foto, 2021.

Eher nicht. Minsk ist für mich in Vielem eine Stadt des Traumas und Schmerzes, die viele schlimme Erinnerungen birgt. Aber vor allem habe ich Minsk nie als „meine“ Stadt wahrgenommen, in dem Sinn, dass es mich von klein auf kennt und alles über mich weiß. Und wie es so ist, möchte man – wenn man älter ist – anders gesehen werden. Diese Stadt wurde Vilnius für mich. Dort empfand ich zum ersten Mal eine gewisse Freiheit, für Vilnius war ich ein unbeschriebenes Blatt, Vilnius wusste nichts über mich, dort konnte ich ich selbst sein und musste keine Angst haben, dass der Stadt etwas über meine Vergangenheit einfällt.

Oft habe ich Minsk später in anderen Städten erkannt. Und umgekehrt: In Minsk habe ich manchmal andere Städte gesehen, Gassen oder Winkel von Städten, in denen ich gewesen war. Ich erinnere mich, dass ich früher, wenn ich eine bestimmte Strecke fuhr und bei der Station Traktarni Sawod ausstieg, immer die Vorstellung hatte, hinter dem Traktor-Monument und der Fabrik läge das Meer. Oft waren die Färbung des Himmels und die Wolken dieser Vorstellung zuträglich und führten meine Wahrnehmung hinters Licht.

In meinem neuen Buch Paradox eines Neugeborenen, in dem es viel um Sprache und unsere Beziehung zur Sprache geht, vergleiche ich das Verweilen in einer bestimmten Sprache mit dem Verweilen in einer bestimmten Stadt. 

Der Wechsel in eine andere Sprache
ist wie das Wechseln der Straßenseite,
plötzlich bemerkst du andere Häuser,
andere Menschen und andere Bäume,
es ist sehr einfach,
denn gehst du auf der gewohnten Seite deiner Sprache,
siehst du sie nicht.
Und allein das Bewusstsein,
dass du all das gesehen hast,
verändert einen gewissen Teil von dir. 
[...]

Derzeit lebe ich in München. Bis November 2022 ist das mein Zuhause, darauf folgt eine andere Stadt, ein anderes Leben. Aber wenn ich darüber nachdenke, was mein Zuhause ist, komme ich zu dem Schluss, dass es wohl in mir selbst liegt. Das gibt mir die Möglichkeit, jeden beliebigen Ort, an dem ich einschlafe, mein Zuhause zu nennen.

Starnberger See bei München, 2021.

Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen. Früher ertappte ich mich oft dabei, mich als Vagabundin zu fühlen. Ein eigenes Plätzchen zu haben ist wichtig, einen Ort, an dem man sich sicher fühlt. 

Für mich ist es aber ebenso wichtig, alleine zu sein.

Wie vermutlich für viele, die künstlerisch oder intellektuell tätig sind. Man braucht Zeit zur Selbstbeobachtung und am besten gelingt dies, wenn um einen herum Ruhe herrscht. Oft sind Schriftsteller- und Übersetzerresidenzen für mich zu solchen Orten geworden. Dort hatte ich immer mein Zimmer und meine Ruhe. 

Berlin, Lavigny, Ventspils, Feldafing, Krems an der Donau. Seit September 2020 war es nicht einfach, denn ich wusste nicht, wo ich in zwei Monaten leben würde. Von Graz zog ich in die Villa Waldberta (Feldafing, in der Nähe von München), und zum Glück wurden aus zwei Monaten vier. Dort konnte ich die Arbeit am Buch von Kobayashi Issa abschließen. Dann tauchte überraschend Krems an der Donau auf, wo ich anfing, an meinen neuen Übersetzungen der japanischen Dichterin Kaneko Misuzu zu arbeiten.

Krems an der Donau, 2021.

Ich begann relativ früh mit dem Übersetzen. Bereits im zweiten Studienjahr bekam ich den Auftrag, Gedichte für ein Buch zu übersetzen. Ich erinnere mich nur dunkel daran, was genau das war. Aber ich weiß noch, dass ich die Übersetzung auf der Schreibmaschine tippte. Fremdsprachen hatten mich schon immer interessiert. Bereits als Kind, wenn ich die Ferien bei meinen Großeltern verbrachte, war ich umgeben von Büchern, nicht nur von belarusischen und russischen, sondern auch von französischen und deutschen, und schon damals versuchte ich, etwas davon mitzunehmen.

Das Übersetzen bot mir immer wunderbare Möglichkeiten, an schöne Orte zu kommen, interessante Kollegen zu treffen und neue Freundschaften zu schließen. Lustigerweise hatte ich zuerst als Übersetzerin ein Kurzstipendium in Berlin, im Jahr darauf wurde ich bereits als Schriftstellerin dorthin eingeladen. Ebenso war ich beim Internationalen Literaturfestival Leukerbad (Schweiz) zuerst als Übersetzerin von Nora Gomringer eingeladen (dort lernte ich übrigens Annie Rutherford kennen, die meine Übersetzerin ins Englische wurde), und diesen Sommer war ich als Autorin dort.

Leukerbad, 2021.

Den Großteil der Autoren, die ich bisher übersetzen durfte, lernte ich auf Literaturfestivals oder im Zuge von Autorenresidenzen kennen. Mit der Freundschaft kam auch der Wunsch ihre Gedichte zu übersetzen. So war es bei Linda Klakken, Krystyna Dąbrowska, Nora Gomringer, Matthias Göritz, Mari Konno, Maira Asare, Semyon Khanin, Sergej Timofejev und anderen. Jene, die schon tot sind, fanden ihren Weg über das Kino oder geschenkte Bücher zu mir. So entschied ich etwa, nachdem ich den Film Sylvia gesehen hatte, mich mit der Lyrik von Sylvia Plath zu beschäftigen. Der eine oder andere kam natürlich „auf Bestellung“, wenn man so will, etwa wurde ich gebeten für eine Zeitschrift Friederike Mayröcker zu übersetzen. Nach solchen Begegnungen entstanden nicht nur Übersetzungen, sondern auch menschliche Beziehungen, romantische Geschichten und Freundschaften, eine gewisse Seelenverwandtschaft wurde spürbar. So war es mit Linda Klakken, die Gedichte für mich schrieb und ich für sie. 

Verbindung.

Wahrscheinlich kommt alles, was im Leben geschieht und bei dem etwas gelingt, im richtigen Moment, sonst würde nichts gelingen.

Natürlich bringen manche Phasen gewisse Umstände und Interessen mit sich. So war es bei meinen Übersetzungen aus dem Chinesischen. Ich spürte ein gewisses Defizit in Bezug auf das Chinesische (ich erhielt kein Zeugnis, weil ich den Kurs ein paar Monate vor dem Ende hinschmiss, - und meine Romanze mit dem Chinesischen war dahin), deshalb beschloss ich dieses Kapitel mit dem Übersetzen von Gedichten, die in einer Zeitschrift erscheinen würden, abzuschließen. Man könnte sagen, dass mich das Übersetzen vor dem Gefühl der Sinnlosigkeit rettete – wozu sonst hatte ich diese Sprache gelernt.

Es kam auch vor, dass mir eine Übersetzung nicht von der Hand ging, als hinderte mich etwas daran, mich mit einem bestimmten Text auseinanderzusetzen. So war es mit Sylvia Plaths Buch, ich hatte vor längerer Zeit ein paar ihrer Gedichte für eine Zeitschrift übersetzt. Und dann kam das Angebot, einen Band mit ihren Gedichten zu veröffentlichen; ich hatte sogar schon Gedichte ausgewählt, konnte mich aber nicht und nicht an die Arbeit machen. Irgendetwas hinderte mich daran. So ging es eine Weile, bis ich begriff, dass die Texte nicht meins waren, dass ich diese Lyrik noch nicht gut genug spürte, um ein ganzes Buch daraus zu machen. In Sylvia Plaths Lyrik steckt viel Schmerz und Sorge hinsichtlich des eigenen Platzes im Leben, vielleicht deshalb? Vielleicht musste ich zuerst meine eigenen Probleme und meinen eigenen Schmerz begreifen?

Bäume, 2021.

Oft verfolge ich das Leben von Schriftstellerinnen und Schriftstellern (oder lese darüber, wenn sie bereits verstorben sind), um die Besonderheiten ihres Weltbildes zu verstehen. Denn so verstehe ich auch ihre Lyrik besser, erkenne, wie sich ihr Weltbilde in ihren Gedichten widerspiegelt. Deshalb lerne ich bei jedem Autor und jeder Autorin etwas Neues, zum Beispiel Lakonie bei Linda Klakken und Kobayashi Issa, oder Narrativität bei Shota Iatashvili (auch wenn ich von seinen Gedichten nur Rohübersetzungen anfertigte).

Die Lyrik des erwähnten Kobayashi Issa zog mich durch ihren Fokus auf die Verletzlichkeit an, durch seine unglaubliche Empathie gegenüber allem Lebendigen, trotz seines tragischen Lebens. Sein Haiku über die Fliege zum Beispiel.

Erschlag sie doch nicht:
Sieh, wie die Fliege die Hände,
wie sie die Füße ringt.

Und obwohl sich Kobayashi Issa auch unter Kindern großer Beliebtheit erfreut, ist das natürlich eine Vereinfachung. Zuerst übersetzte ich einige seiner Haikus für eine Zeitschrift, dann wurde daraus ein Buchprojekt mit Essay und kulturologischem Kommentar. 

Hummel, 2021.

Der Hajku, der am Anfang meiner Bekanntschaft mit Issa stand, handelt von einer Nachtigall, die sich quasi ihre Füße an den Blüten eines Pflaumenbaums abputzt. Die Hinwendung zu diesem unbedeutenden Detail (die winzigen Spuren des Vogels auf den Blütenblättern) löste einen lebhaften Widerhall in mir aus und berührte etwas Schwer-zu-Beschreibendes in mir, ich erlebte die Szene mit. Ich spürte auch deshalb eine Nähe zu diesem Haiku, weil sich auf unserem Balkon oft Meisen auf die Wäsche gesetzt hatten, die dort zum Trocknen aufgehängt war. Und meine Mutter schalt sie dafür, dass sie ihre Füße an der frisch gewaschenen Wäsche „abputzten“. Da denkt man, es handelt sich um eine einfache, alltägliche Sache, und dann steckt so viel Poesie in ihr. Das Bild des Vogels, der Spuren auf Blütenblättern hinterlässt, ist für mich rührend und ironisch zugleich, wie das Leben an sich.

Eine weitere wichtige Eigenart, für die ich Issa liebe, sind wohl seine Ironie und Selbstironie, denn ist ein Dichter allzu ernst (nimmt er sich also zu wichtig), ist das traurig und pathetisch. Die Fähigkeit zu lachen, schmälert das Pathos und macht das Gedicht „menschlich“.

Katze, 2021.

Ich würde mir wünschen, dass mehr japanische Literatur ins Belarusische übersetzt wird, denn es gibt sie bei uns gar nicht. Und mehr Literatur unserer nahen Nachbarn: litauische, lettische, estnische Literatur und Literatur vom Balkan – diese Sprachen verstehen wir im Prinzip, aber wir wissen ganz wenig über ihre Literaturen. Ebenso sollten mehr philosophische Texte erscheinen (von „klassischen“ bis zu zeitgenössischen Autoren), und mehr geisteswissenschaftliche Texte. Mir scheint, dass bestimmte Werke dabei helfen können, schwierige Phasen, in denen sich ein Land oder ein Mensch befindet, zu überwinden, sie helfen diese besser zu verstehen und sich nicht zu isolieren, denn sie erinnern daran, dass es Menschen gibt oder gab, die Ähnliches bereits erlebt haben.

Ich erinnere mich daran, wie ich das Angebot bekam, mich auf einen Spaziergang mit Robert Walser zu begeben: die Übersetzung seines „Spaziergangs“. Ich konnte nicht ablehnen. Er ist nicht der einfachste Autor und sein Text verlangte mir viel ab, aber heute bin ich froh, dass ich die Möglichkeit hatte, mich mit Walsers Texten zu beschäftigen.

Und wiederum ist es schade, dass ihn in Belarus so wenige Menschen kennen, er gilt als Autor für Autorinnen und Autoren, ich jedoch empfinde seine Prosa als überaus poetisch und raffiniert. Die Atmosphäre von Robert Walsers Texten wurde meiner Meinung nach von den Quay Brothers in ihrem Film „Institute Benjamenta, or This Dream People Call Human Life“ sehr gelungen eingefangen (dem Walsers Roman „Jakob von Gunten“ zugrunde liegt).

Passanten, 2021.

Je älter ich werde, desto skeptischer betrachte ich die Auffassung von Sprache als Phänomen. Als Lyrikerin glaube ich natürlich an die Macht des Wortes, aber es ist nicht das isolierte Wort, hinter ihm müssen eine Persönlichkeit oder eine Idee stehen, die das Wort mit jener Macht erfüllen, über die so oft geschrieben wird. Diese Macht kann sowohl nützlich und heilsam sein, als auch zerstörerisch (abhängig davon, wer das Wort „aufgeladen“ hat und womit). Ich weiß nicht, vielleicht bringt der Körper das Wort hervor und kommt dem Wort in diesem Sinne zuvor, obwohl es doch heißt: „Am Anfang war das Wort.“ Wie ist damit umzugehen?

Wir befinden uns in einer Art Sprachgefängnis, deshalb haben wir manchmal das Gefühl, als fehlten uns die Worte, als passten sie nicht, als wollte das richtige Wort einfach nicht kommen. Für mich geht es dabei um das unbewusste Gefühl einer Verbindung oder eines Verständnisses zwischen uns allen und anderen Geschöpfen, das jenseits der Sprache liegt (der menschlichen, versteht sich). In diesem Zusammenhang vermag der Körper deutlich mehr.

Einsamkeit, 2021.

Sprachen sind relativ starre Konstrukte, aber in der Lyrik ist alles möglich und Experimentieren erlaubt. Ich weiß nicht, wie meine eigene Lyrik aussehen würde, beherrschte ich nur das Belarusische. 

In Minsk bin ich seit Oktober 2019 nicht gewesen. Werde ich gefragt, was sich 2020 und 2021 in Belarus ereignet hat, fällt es mir schwer, die nötigen Worte zu finden. Zuerst will ich meine Gefühle wahrnehmen und denke, dass die Worte von selbst kommen, sobald ich die Situation erspürt habe.

In so einem Fall kann die Erfahrung anderer Autorinnen, die Ähnliches erlebt haben, nützlich sein, wie die von Hannah Arendt etwa, deren Texte mir sehr helfen, mich selbst und meinen Platz in dem, was mit meinem Land gerade geschieht, zu verstehen. Es mag seltsam klingen, aber bittet man mich über Belarus nach 2020 erzählen, spreche ich eher über seine Vergangenheit, denn dafür finde ich Worte.

Verletzlichkeit
Neugier
Einsamkeit
Körper
Raum
Sprache
Männer
Widerstand
Stadt

„Welches Wort wählen Sie jetzt?“, werde ich gefragt.

Liebe.

 

Volha Hapeyeva, Foto: © Samu Bergson


Volha Hapeyeva (Вольга Гапеева) ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Volha Hapeyeva schreibt Gedichte, Prosa und Dramen. Sie tritt ebenso als Kinderbuchautorin wie als Übersetzerin hervor. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen, sie wurden in den USA, Österreich, Deutschland, Polen, Georgien, Litauen und anderen Ländern veröffentlicht. Von ihr erschienen vierzehn Bücher auf Belarussisch, zuletzt die Gedichtbände „Die Grammatik des Schnees“, „Schwarzer Mohn“, „Die Worte die mir passierten“ und die Romane „Camel-Travel“ und „Auf der anderen Seite des Flurs wohnt die Einsamkeit“. Auf Deutsch erschienen der Lyrikband „Mutantengarten“ (Edition Thanhäuser, 2020) und der Roman „Camel-Travel“ (Droschl Verlag, 2021). Sie ist häufig Gast auf internationalen Festivals. 2019/2020 war Volha Hapeyeva für ein Jahr Stadtschreiberin in Graz. 2021/2022 war sie Stipendiatin des PEN-Zentrum Deutschland, 2022 DAAD Fellow. Webseite https://hapeyeva.org

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