Cities of translators Das Gefühl von Zuhause

WÖRTER, DIE FÜR ›ZUHAUSE‹ STEHEN

von Yauhen Papakul
übersetzt aus dem Belarussischen von Susanna Sophia Kołtun

 

Das Zuhausegefühl ist eine unbeständige Sache. Beeinflusst wird dieses Gefühl vom physischen Aufenthaltsort eines Menschen, aber auch von dessen Tätigkeit.

Ich wurde in Nawapolazk geboren. Und um ehrlich zu sein: Ich mochte die Stadt noch nie. Eine einzige endlos lange Straße aus grauen, gesichtslosen Paneelen, die zwischen westlicher Düna und Industriegebiet verläuft. Auch heute - und ich bin wohlgemerkt schon vor 5 Jahren nach Polazk gezogen - mag ich Nawapolazk nicht. Selbst Nostalgie habe ich kein einziges Mal verspürt. Ob die Stadt mein Zuhause war? Zweifellos! Aber doch ehester als Wohnort, nicht mein eigenes, behagliches - das Zuhause. 

Was ist mit Polazk1? Tja, auch hier ist die Situation in vielen Punkten ähnlich, denn wirklich zuhause fühle ich mich nur in meiner Wohnung. Hier verbringe ich Zeit mit meiner geliebten Frau und gehe einer meiner Lieblingsbeschäftigungen, dem Übersetzen, nach. In letzter Zeit ist das Leben in Polazk recht traurig und eintönig, denn abgesehen von einigen durchaus namhaften Plätzchen kann man nicht mal irgendwo richtig spazieren gehen - eine vollkommen gewöhnliche Kreisstadt. Von der einstigen Größe Palteskias, das vor über tausend Jahren sogar bei den Isländern bekannt war, ist bedauerlicherweise nichts mehr übrig. 

 

Palteskia (Altisländisch) - Polazk

 

Ich werde nicht selten gefragt, warum ich nicht nach Minsk ziehe. Klar, Minsk ist eine Stadt der Möglichkeiten, aber ich hatte schon immer eine pathologische Abneigung gegenüber großen, überfüllten Städten. Nach Minsk kann man wunderbar für ein Wochenende fahren, Gallerien besuchen, diverse Dinge erledigen - aber unterm Strich ist das auch alles.

Und überhaupt ist meine liebste Stadt in Belarus wahrscheinlich Braslau. Ein authentisches belarussisches Städtchen, das eine gewisse Ruhe ausstrahlt - ein echtes Zen-Gefühl. Zumal auch meine Vorfahren väterlicherseits aus der Region um Braslau stammen, weshalb ich jedes Jahr 4-6 Wochen genau dort verbringe. Ja und dann fühle ich mich zuhause. Ich gebe zu, dass meine Liebe zur Braslau-Region auch in meinen Übersetzungen reflektiert wird. Der Braslauer Dialekt ist nämlich sehr eigen und verfügt über eine Vielzahl besonders präziser Wörter. Und so kam “Snorri Sturlusons Edda” zu solchen Worten wie: “kirápla” (dt. tollpatschige Person; jemand, dem immerzu etwas runterfällt), “niedalenga” (dt. ein unfähiger Mensch; evtl. körperlich beeinträchtigt), “tsumberyc’” (dt. ‘beim Gehen stark, bzw. über längere Zeit fallen/stolpern’), und natürlich auch dem legendären, nordbelarussischen “malets” (Jüngling, junger Bursche).

 

hús (Altisländisch) - Haus

 

Mein Weg zu “den Skandinaviern” und als logische Konsequenz auch zum Übersetzen, begann recht spät - im fünften Studienjahr. Mir schoss durch den Kopf, dass es doch keine schlechte Idee sei, in meinem letzten Studienjahr noch eine dritte Fremdsprache zu lernen: Schwedisch. Als hätte ich mit Englisch und Deutsch, Staatsexamen und Diplom noch nicht genug um die Ohren. Aber die Entscheidung stellte sich als goldrichtig heraus. Denn noch während des Studiums wagte ich, mich für einen Sprachkurs in Schweden zu bewerben und bekam, et voilà, ein Stipendium. 

Drei Wochen Unterricht in Fränsta haben meine Weltanschauung drastisch verändert, denn wie sich herausstellte gibt’s auch “hinter Homel’ noch Menschen”2. Auch wenn Schweden für mich etwas von einer völlig fremden Welt hatte, fühlte ich mich dort unglaublich wohl und als der Kulturschock nach ein paar Tagen verflogen war, konnte ich mir selbst ehrlich eingestehen: “Hier gefällt’s mir”. Unter den schwedischen Städten habe ich auch einen ganz klaren Favoriten (und ich bin einmal komplett durch Schweden gereist - vom Süden fast bis in den höchsten Norden, weit hinter den Polarkreis), nämlich Uppsala. Landschaft, Architektur und historischer Geist - für mich die perfekte Stadt. Auch, dass sie für mich irgendwann einmal heimisch sein wird, möchte ich nicht ausschließen.

 

mál (Altisländisch) - Sprache

 

Aber mit Schweden und der schwedische Sprache war es für mich noch nicht getan. Auch nicht mit meinem Interesse für Kultur und Geschichte. Allmählich stellte ich fest, dass ich immer mehr zum “Nordmenschen” wurde. Und das sage ich als jemand, der sein ganzes Leben in der Wizebskaja Woblasz verbracht hat - nicht gerade dem südlichsten oder wärmsten Teil von Belarus. Ich mochte den Sommer nicht mehr, verabscheute die Hitze zutiefst und der Winter mit Schnee und langen Nächten wurde meine große Liebe. Ich liebe den skandinavischen Lebensstil: Ohne viel Tumult und auch wenn ich die Kunst der Skandinavier - sich nicht in Probleme hineinzusteigern - nicht erlernt habe. Hoffentlich kommt das noch.

Und auch das war noch nicht alles. Ich fing an, mich auch mit der altisländischen Sprache zu beschäftigen (ehrlich gesagt hatte ich auch Erfahrung mit Färöisch und Norn - allerdings nur experimenteller Natur). Dass ich die Sache länger und ernsthaft angehen würde, hätte ich nie gedacht, aber auch nach der Übersetzung der “Völuspá” hörte ich nicht auf, wie ich es mir anfangs unter Tränen selbst versprochen hatte. Denn ich möchte meiner Frau einen Wunsch erfüllen und “Edda” ins Belarussische übertragen. Zwei von drei geplanten Büchern sind schon erschienen und das ist gar keine schlechte Bilanz, denke ich.

 

norðr (Altisländisch) - Norden 

 

Altisländisch ist eine ungemein poetische Sprache, mit einer reichen Auswahl an Homonymen. Manchmal kann ein und dasselbe Wort gleich mehrere, in nichts miteinander verbundene und grundsätzlich unterschiedlichen Bedeutungen haben. Das Wort lið zum Beispiel. Übersetzt kann es Gelenk, Schiff, Wiege, Sarg, Militär, Unterstützung oder auch Bier heißen, was einen reichen Nährboden für Wortspiele bedeutet. In “Snorri Sturlusons Edda” basieren manchmal ganze Kapitel auf solchen Wortspielen. 

Aber so poetisch sie auch ist - der altisländischen Sprache mangelt es am Pathos, das man als Leser von “Götterliedern” und “Heldenliedern” erwarten könnte. Teilweise ist sie so frei von jeglichem Pathos, dass sich die Skalden der damaligen Zeit häufig erlaubten, sie mit deftigem Vokabular und derben Schimpfereien anzureichern. Daher kann auch ich mittlerweile meisterhaft auf Altisländisch fluchen. 

 

Miðgarðr (Altisländisch) - Midgard (die von Menschen bevölkerte Welt in der nordischen Mythologie) 

 

Die Arbeit mit einer toten Sprache beeinflusst das eigene Weltbild sehr. Aber den isländischen Einfluss spürte ich schon 2018 während eines Ausflugs nach Island. Drei wundersame Tage zwischen Bergen, Geysiren, Vulkanen, Wasserfällen, bei fürchterlichem Wind und gruseliger Kälte, gingen nicht spurlos an mir vorbei. Wenn ich jetzt Gedichte aus dem berühmten Nibelungenzyklus übersetze, bin ich manchmal gar nicht mehr in Polazk, sondern in irgendeinem Fjord, in einem kleinen Häuschen. Irgendwie beruhigt mich dieses Gefühl. Ehrlich gesagt würde ich liebend gerne irgendwo in Island oder auf den Färöer Inseln leben, aber dass das für mich im Bereich der Fiktion liegt, verstehe ich nur zu gut.

 

sær (Altisländisch) - Meer

 

Meine Tätigkeit als Übersetzer beeinflusst auch meinen Alltag. Als ich alle dreihundertfünfzig poetischen Einschübe von “Snorri Sturlusons Edda” mit ihren unzähligen Kenningar überwunden hatte, konnte ich manchmal selbst nur noch in Kenningar sprechen. Wie gut, dass meine Frau solche Gespräche auch unterstützt und  Sätze wie “Ich habe den Kessel auf den Tempelwolf gestellt” oder “Das Boden-Pferd muss bezogen werden” in unserem Haus völlig normal klingen. Und überhaupt habe ich mich riesig gefreut, dass meine Frau mir nach der Veröffentlichung von “Snorri Sturlusons Edda” ein Armband schenkte – ein Geschenk, das talentierte Skalden früher von Königen (Konungar) oder Grafen (Jarls) erhielten. Ein bisschen steht mir der Titel eines Skalden also schon zu. Und ich arbeite mit Vorsatz. Und das gar nicht schlecht. 

 

skáldskapr  (Altisländisch) - Poesie, Dichtung

 

Womit wir uns beschäftigen, verändert auch unser Zeitverständnis. Mir ist jedenfalls bewusst, dass ich in der falschen Zeit geboren wurde und mein Platz irgendwo in der Vergangenheit liegen müsste. Wie weit, das kann ich nicht sagen - aber sicher nicht hier und jetzt. Vielleicht liegt ja auch mein Zuhause in einer früheren Zeit.

Auch wenn ich noch lange kein alter Mann bin, kann ich mich nicht wirklich mit der heutigen Technik anfreunden. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch ein einfaches Tastentelefon. Ich benutze weder Viber, noch Instagram oder Telegramm und wenn ich im Sommer in mein Dorf fahre, lebe ich in der Regel für über einen Monat ohne Mobilfunk und ohne Netz. Wie ein richtiger Skalde. Und dabei geht es mir wunderbar.

 

ró (Altisländisch) - Stille 

 

Letztendlich kann ich also nur eine eindeutige Antwort geben, wenn man mich fragt, wo mein Zuhause liegt: Ich weiß es nicht. Möglicherweise ist die Suche danach ein Teil der berühmten Suche nach dem Sinn des Lebens. Und auch wenn ich nicht weiß wo, so weiß ich doch mit wem ich zuhause bin. Mit meiner Familie, meiner Frau und meinen Eltern. Das weiß ich genau.  

 

ást (Altisländisch) - Liebe

 

© Margaryta Latyshkevich

Yauhen Papakul wurde 1988 im belarussischen Nawapolazk geboren. Der promovierte Philologe unterrichtet Mythologie und Schwedisch an der Staatlichen Universität Polazk. Während der Arbeit an der Dissertation begann er schwedische Volksballaden ins Belarussische zu übertragen.

Aktuell arbeitet Yauhen Papakul an der belarussischen Komplettübersetzung der altisländischen Lieder-Edda. Er übersetzt aus dem Schwedischen und Altisländischen, aber auch aus dem Färöischen und der (ausgestorbenen) Sprache Norn.

Fußnoten
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