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Minsker Schule: Innere Übersetzung und Mission

Im sowjetischen Belarus der Zwischenkriegszeit war Jiddisch eine der vier Amtssprachen – das einzige Mal in der Geschichte. Auf Jiddisch erschienen diverse Zeitungen und Zeitschriften und wurde an Schulen unterrichtet; es gab ein berühmtes jüdisches Theater. Der Text im Wappen der BSSR wurde auch auf Jiddisch dargestellt. Das kam nicht von ungefähr – die belarussischen Städte und Ortschaften waren zur Hälfte von Juden bewohnt, von so schaffensfrohen und kreativen, wie wir sie auch heute kennen, wenn auch nicht unbedingt in Belarus.   

Wappen 1927

Wobei auffällt: Obwohl die jüdische Kultur sehr einflussreich war und über äußerst aktive gesellschaftliche und künstlerische Organisationen verfügte, wurden kaum Werke jiddischer Schriftsteller und Dichter in andere Sprachen der BSSR übersetzt.  

Heute kann man die sprachliche Polyphonie jener Zeit nur schwer rekonstruieren, doch es gibt Hinweise, dass Jiddisch die Verkehrssprache war und das ganze Alltagsleben durchdrang; und alle – Belarussen, Polen, Tataren, Russen – verstanden diese Sprache und konnten sich darin unterhalten. (Kinder aus slawischen Familien konnten auch in eine jüdische Schule mit Jiddisch als Unterrichtssprache gehen, wenn diese näher war.)

Vielleicht hätte sich die Situation mit der Zeit auf natürliche Weise zu mehr Aufmerksamkeit und Offenheit gegenüber der Sprache des Anderen entwickelt und es wären gegenseitige Übersetzungen entstanden, doch in den hehren Bauplänen des sowjetischen Sozialismus galten andere Prioritäten – der Kampf gegen bourgeoisen Nationalismus und religiöse Vorurteile: Ab Mitte der 1930er wurden in der BSSR alle allgemeinbildenden Schulen mit Unterrichtssprache Jiddisch geschlossen, alle jüdischen geistlichen Institutionen, fast alle jiddischen Zeitungen und Zeitschriften eingestellt, und die Autoren aus der jüdischen Sektion des Schriftstellerverbands der BSSR wurden hingerichtet oder in Gulags deportiert.     

„Von der Auflösung des Ghettos im Oktober 1943 bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde in Belarus nichts in einer jüdischen Sprache publiziert.“ (Aaron Skir, Die geistige Kultur des Judentums in Belarus.) 

Ich kam Anfang der 1980er Jahre zur Literatur und geriet sogleich in den Kreis um Kim Iwanowitsch Chadejew, einen großartigen Minsker Intellektuellen und Dissidenten. Seine erste Haftstrafe büßte Kim 1949 ab, als er sich als Philologie-Student während der Säuberungen und der Kampagne gegen „wurzellose Kosmopoliten“ an der Belarussischen Universität für eine jüdische Lehrperson einsetzte. 

Kim Chadejew 1986, Foto: A. Cechanowitsch

In Kim Iwanowitschs Haus kamen Menschen verschiedener kreativer Berufe zusammen, aber vor allem Dichter und Schriftsteller. Ich war 17, ein ganz normaler junger Mann aus einer sowjetischen Familie, ohne „schädliche religiöse Vorurteile“ oder irgendwelche nationalistische Neigungen. Mein Blick fiel sofort auf die Tora, die der Hausherr immer auf dem Tisch liegen hatte. Nach einer Weile begriff ich, dass Chadejews literarisches Umfeld überwiegend aus russischsprachigen und auch Russisch schreibenden Juden bestand. Doch erst viel später wurde mir die Tragik ihrer Situation bewusst. Das waren belarussische Juden, die in erster Generation Russisch sprachen und schrieben. Ihre Eltern waren noch Vertreter jener großen europäischen jüdischen Zivilisation gewesen, die von Faschismus und Stalinismus vernichtet worden war, ihre Eltern hatten noch auf Jiddisch gedacht und sich ihre Identität ohne Jiddisch nicht vorstellen können.  

ALPHABET

Mir wird allmählich bekannt die Sprache der Stummen.
Ich übe vorm Spiegel ihr Alphabet.
Einmal erlernt, als einer von ihnen, verstumme
Ich, sodann vielleicht meine Kränkung vergeht.

Sodann vielleicht meine Kränkung vergeht, meine Seele,
So Gott will, durch geschlossene Lippen erklingt ihr Bericht,
Von jedem, den Atem anhaltend, erhört auf der Stelle,
Nicht Hebräisch, nicht Russisch ist, was sie spricht.

Nicht Hebräisch, nicht Russisch, darf doch nicht fehlen
Ihr einzig verständlicher Rhythmus und Klang,
Was wir aus uns machen, wollen, verhehlen,
Vielleicht erschließt sie es einmal ganz.

Vielleicht erschließt sie es einmal ganz meinen Freunden,
Mir Unbekannte, die so zu nennen es mich verlangt,
Diesen Splitter des Seins und dem, was eigens
Mir wird allmählich bekannt …

 

von Leonid Schechtman
übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas

Diese russische Sprache meiner älteren Bekannten aus Kims Kreis fühlte sich immer seltsam und rätselhaft an. Sie schien mir wie eine Übersetzung, hinter der die Sprache des Originals atmete. Sie hatte eine ungewöhnliche phonetische Dichte, die die Sprache von Russlands Metropolen nicht hatte, eine Farbenpracht, die auf anderen Mineralien beruhte. Eine Eckigkeit, einen Passgang, die mir anfangs wie eine Unzulänglichkeit, ein Provinzialismus vorkamen, den es zu überwinden galt. Dann lernte ich das zu lieben.  

Bei Kim schrieben alle „für die Schublade“. Wer mit einer Publikation rechnete, hielt sich nicht lange bei ihm auf. Dieses Schreiben „für die Schublade“, ohne Selbstzensur und ohne sich um die ideologischen Ansprüche der sowjetischen Redaktionen zu kümmern, kam erst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre auf, als sich eine kulturelle „Opposition“ mit eigenen unabhängigen Qualitätskriterien herausbildete und eine nonkonformistische Schicht entstand, die einen Schriftsteller als solchen anzuerkennen bereit war, ohne dass sein Status durch offizielle Publikationen bestätigt werden musste.          

(Möglicherweise lag es an dieser fehlenden unabhängigen Literaturszene, dass es in Belarus in den 1920er und 1930er Jahren kaum Übersetzungen aus dem Jiddischen gab. Einerseits herrschte strenge bolschewistische Zensur und ein stark reglementierter Veröffentlichungsprozess, der keine „inneren“ Übersetzungen vorsah, und andererseits war den Schriftstellern und Dichtern selbst nicht nach einer derart aussichtslosen und unbezahlten Arbeit. Und die Gesellschaft behielt ihre vorrevolutionäre Sichtweise bei und betrachtete nur jene als Literaten, die in Zeitschriften und Bücher publizierten.)

К. Хадеев Г. Трестман 1991 г. Фото А. Цеханович K. Chadejew ,G. Trestman 1991 Foto: A Cechanowitsch

    

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit von Belarus 1991 erfuhr die belarussische Literatur eine Renaissance. Die Beschränkungen der Zensur fielen weg, es entstanden Dutzende unabhängige Verlage. Doch erst Ende der 1990er Jahre wurde mir bewusst, dass die Werke der Minsker nonkonformistischen Lyriker noch immer unveröffentlicht und weitgehend unbekannt waren. Die jüdischen Dichter wanderten großteils nach Israel, in die USA und nach Kanada aus (Grigori Trestman, Leonid Schechtman, Michail Karpatschew, Mark Merman u. a.). Alles in den 70er, 80er Jahren „in die Schublade“ Geschriebene blieb der Literaturwissenschaft weiterhin verborgen, wurde nicht archiviert und konnte jederzeit spurlos verschwinden. Die einzige „glückliche“ Ausnahme war der Nachlass von Weniamin Blaschenny (echter Name: Eisenstadt), der in den Neunzigern nennenswerte Publikationen in den großen russischen Literaturzeitschriften verzeichnen konnte und von dem vier Bücher veröffentlicht wurden. Sein umfassendes literarisches Archiv konnte der Dichter noch zu Lebzeiten dem Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst in Moskau übergeben, und nach seinem Tod (1999) wurde ein Teil seines Nachlasses im Minsker Belarussischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst aufbewahrt. 

In den 2000er-Jahren begann ich ein Gedenk-Projekt mit dem Titel „Minsker Schule“. Mein ursprüngliches Ziel war es, die Minsker nonkonformistische Lyrik der 70er und 80er Jahre aufzubewahren – das Material zu sichten und zu publizieren. Daraus entstand die Lyrikreihe „Minsker Schule“ und später ein literarischer Almanach mit demselben Titel. Bald machten ein paar junge Leute mit: Diana Bulynko, Nadeschda Kochnowitsch, Olga Markitantowa, Tatjana Swetaschjowa und Sergej Tschernobaj.

Wir entschieden uns für Russisch als Projektsprache, vor allem, weil russischsprachige Autoren des sowjetischen Undergrounds in Minsk im Fokus standen und es logisch war, diese im Original zu veröffentlichen. Wichtig ist auch anzumerken, dass die Redaktion der „Minsker Schule“ ehrenamtlich erfolgte und uns von Anfang an bewusst war, wie begrenzt unsere Möglichkeiten angesichts der Dimensionen unserer Aufgabe waren.  

Die Reihe „Minsker Schule“ wurde 2002 mit einem Lyrikband von Jelena Koschkina eröffnet: „Na grani istschesnowenija/Am Rande des Verschwindens“. (Jelena hatte schon in den 1970er Jahren viel geschrieben, doch das war ihr erstes Buch.) Mehrere Jahre hindurch studierten wir den Nachlass von Weniamin Blaschenny, woraus ein umfassendes digitales Archiv seiner poetischen Texte entstand. Auch sein ikonisches Buch „Soraspjatje/Mitkreuzigung“ wurde redigiert und neu herausgegeben (Verlag Wremja, Moskau 2009). Im selben Jahr, 2009, erblickte auch die erste Ausgabe des Almanachs „Minsker Schule“ das Licht der Welt.    

альманах МШ1 обложка Minsker Schule, Almanach 1

Die Struktur der ersten Ausgabe der Minsker Schule verriet gleich einen wichtigen Aspekt ihres Konzepts – die russischsprachige Lyrik der Minsker Nonkonformisten aus der mehrsprachigen historischen Perspektive des belarussischen Zwischenraums heraus zu präsentieren. Zusammen mit Gedichten von Arik Krupp, Igor Schneerson-Poglasow, Alexej Schdanow und anderen russischsprachigen Autoren verschiedener Generationen wurden in dem Sammelband Verse jiddischer Dichter belarussischer Herkunft veröffentlicht – von Abraham Sutzkever und Jizchak Katzenelson in Übersetzung der Minsker Lyrikerin Alla Lewina, von der Dissidentin Larysa Henijuš in Übersetzung einer anderen Minskerin, Marina Kunowskaja. Auch der polnische Dichter Tadeusz Różewicz war darin vertreten, übersetzt von Nadeschda Kochnowitsch. Es begann eine literarische Rekonstruktion des belarussischen polylingualen Kosmos durch die Zusammenstellung von thematisch bedeutsamer Lyrik in Sprachen, die traditionell in unseren Breitengraden heimisch waren. Das Thema Holocaust in Versen, die Sutzkever und Katzenelson direkt im Ghetto verfasst hatten, das Thema des belarussischen nationalen Widerstands in Henijušs Lyrik, die in sowjetischer Verbannung entstand. Sehr bedeutend für den belarussischen Kontext war die polnische Stimme des Existenzialisten und Veteranen der Armia Krajowa im Zweiten Weltkrieg, Różewicz, wenn er auch biografisch mit Belarus nichts zu tun hatte. 

Л. Гениюш L. Heniusz


Kalt gewordene Hütten auf ausgebluteter Flur,
Die gierig nach Frühling verlangt.
Gedankt sei euch für den Sohnesschwur,
Für eure Herzen sei euch, Söhne, gedankt.

Diese Worte sind keine leeren Versprechen,
Taten folgen zu lassen immer bereit.
Als würdet ihr Gras der Maihitze riechen,
In jener Kälte und Dunkelheit.

Licht und Wärme spendet mir euer Gefühl,
Beflügelt treibt es die Taten hinauf,
Vom Frost war die Seele im Norden erfüllt,
nun taut mir das Herz wieder auf.

Nicht umsonst fast am Schneesturm zerschellt,
Raste Tod durch Traum und Gedanken.
Nicht umsonst mich schützend vor euch gestellt,
Für eure Herzen sei euch, Söhne, zu danken.

 

von Larysa Henijuš
übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas

In den folgenden Ausgaben des Almanachs trat die belarussische Vielsprachigkeit noch stärker hervor. Jede Ausgabe wurden mit einer Gedenkpublikation eines jiddischsprachigen Minsker Dichters eröffnet, dessen Name in den aktuellen literarischen Kontext zurückkehren sollte. Dabei stießen wir auch auf den Umstand, dass jüdische Dichter, die in den 1920er, 1930er Jahren der Zwischenkriegszeit aktiv auf Jiddisch schrieben und publizierten, von ihren Zeitgenossen kaum in andere Sprachen der BSSR übersetzt wurden. Übersetzungen aus dem Jiddischen ins Russische fanden wir in Sammelbänden, die Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger in der RSFSR verlegt wurden, wo nach Stalins Tod der Kampf gegen die „wurzellosen Kosmopoliten“ verebbte und die Namen verfolgter und erschossener Dichter nicht mit dem Genozid an den Juden in Belarus in direkten Zusammenhang gesetzt wurden.  

Da wir in Minsk keine Übersetzer finden konnten, die bereit und befähigt gewesen wären, große Volumina lyrischer Texte aus dem Jiddischen zu übersetzen, beschlossen wir, im Almanach die alten Übersetzungen aus den russischen Sammelbänden zu publizieren. Die Rückkehr der Namen stand im Vordergrund.

Die Publikation russischer Übersetzungen vergessener jüdischer Lyriker in der Minsker Schule legte eine nicht auf den ersten Blick erkennbare Verbindung zwischen der Minsker jüdischen Lyrik der Zwischenkriegszeit und jener der 1970er, 1980er Jahre frei, die von Nonkonformisten einer Generation verfasst wurde, die zwangsläufig zum Russischen gewechselt hatte.  

альманах МШ2 обложка Alnanach Minsker Schule 2 Cover

Die zweite Ausgabe der Minsker Schule (2013) eröffnen Übersetzungen jiddischer Texte des Dichters Moyshe Teyf  (1904-1966). Teyf lebte und arbeitete in Minsk, hier entstand sein erster Gedichtband auf Jiddisch (1933). 1938 wurde er wegen Beteiligung an „organisierter jüdischer nationalistischer Spionage“ verhaftet und kam in ein stalinistisches Lager. Seine Gedichte sind dem Schicksal der Juden in Belarus, dem Holocaust und den Erfahrungen im Lager gewidmet. Nach seiner zweiten Gefangenschaft (1951-1956 wegen Kooperation mit dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee) lebte und arbeitete Teyf in Moskau, wo Publikationen auf Jiddisch erhalten blieben, die es in der BSSR nicht mehr gab – im belarussischen literarischen Kontext war der Name des Dichters in Vergessenheit geraten; Übersetzungen seiner Verse entstanden in der RSFSR und in Israel (Junna Moriz, Lew Oserow, Moyshe Ratner).  

М. Тейф M. Tejf

KALI LASKA …1



In vergangenen Zeiten, lang ist’s her,
Weder für Gold, versteht sich, noch für Brot,
Ist mein bärtiger Ahnherr,
Mit seinen vielen Kindern nach Belarus gekommen.

Ob aus Spanien vertrieben, ob aus Preußen,
Mit einem Gebet zu Ihm: Hoschia-Na!2
Ist das Gespann gefahren bis nach Rajsn3
Und hielt neben dem Fluss Beresina.

Man sagt, ein Bär ist erschrocken,
Beim Hafer-Naschen an der Schenke,
Als mein Ahnherr abstieg, weiße Socken,
In Schwarz gehüllt, mit langen Schläfenlocken.

Dieser erste belarus’sche Jid4 klopfte
Bei einem alten Bauern an die Pforte:
„Dobry vetschar, tschelavetsche!5
Mach auf, weißt doch,
heut ist Schabbes, darf ich ruh‘n an diesem Orte?”

„Vetschar dobry, tschelavetsche! Kali laska!
Kali Laska, komm herein zu mir…”
Meinem Ahnherrn schien, er hört die Stimme Gottes, den Baskol!
Und den Propheten Elijahu an der Tür.

„Was ist Kali Laska? Wer ist Kali Laska?
Ein Bibelvers? Ein Spruch aufs Glück?“
Alle Kiefern Vaysruslands antworteten wie ein Baskol6:
„Freu dich des Lebens! Bo ja – muschyk7.”

Hier gelebt. Weder Pocken noch Masern erlegen.
Töchter mit honigsüßem Busen erzogen.
Oh Vaysrusland, meine Wiege, mein Segen,
Auf meine Beschneidung wurde in Minsk angestoßen.

Vom Schtetl hinterm Wald ist meine Braut, meine Kalla,
Wie ein Lied in mein Herz herein,
Ihr Vater schmiedet die Schabbes-Challa
Und den Pessach-Becher für den Wein.

Oy Vaysrusland, meine Liavonicha8, mein Diesseits!
Junge Bäuerin mit Händen, die Mühlensteine drehen!
Wie viele reiche Kinder von einst gewesenen Lyceen
Hast mit deiner Milch du großgezogen!

Oy Vaysrusland, tote Schtetl, verlassene Gräber,
Vielleicht ist’s gar ein Wunder, dass ich lebe?
Oy, wo sind die Herrn Salmens, die Herrn Kalmens,
Alle meine Goldas mit schwarzen Zöpfen?

Leichter wär‘s für mich einfach in Tränen auszubrechen,
Als dass meine Tränen Reime bilden in einem Lied,
An den Gräbern, wo Blumen tote Knochen küssen,
Steh ich Wache – ein lebendiger Jid.

Aber von allen Kiefern Rajsns ertönt wie ein Baskol,
Ein Bibelvers? Oder ein Spruch aufs Glück?
„Wein nicht, tschelavetsche! Ich bitte dich – kali laska!
Bo ja – muschik.”

 

von Moyshe Teyf
übersetzt aus dem Jiddischen von Yelizaveta Landenberger

Neben den Übersetzungen von M. Teyfs Lyrik stehen ausgewählte Gedichte von Alik Riwin (1914-1941). Riwin lebte bis ins Alter von 15 Jahren in Minsk, dann zog er nach Leningrad, wo er Philologie studierte und seine bekannten Werke verfasste. Riwin gilt als Urvater des sowjetischen literarischen Undergrounds, da er seine Texte auf russisch mit Elementen des aus Minsk mitgebrachten jiddischen Argo schrieb (ohne Rücksicht auf die sowjetische Zensur), bei Freunden zu Hause seine Verse vorlas und keine offiziellen Publikationen anstrebte. Unter den in der Minsker Schule veröffentlichten Texten befindet sich auch ein jiddisches Gedicht des Minsker Lyrikers Moyshe Kulbak auf Russisch – vielleicht seine früheste Übersetzung ins Russische. Das Werk des Dichters und Übersetzers A. Riwin betrachten wir als Brücke von der jiddischen Lyrik der BSSR der Zwischenkriegszeit zu den russischsprachigen jüdischen Nonkonformisten der Siebziger und Achtziger. 


Kapitän, Kapitän, bitte lächeln,
Kush in toches lautet unser Gebot.
Ohne Flagge und Führung in hohe See stechend,
Unsre Erde im All wie ein Boot.

Volle Fahrt, Sterne stieben vom Bug,
Mit Kometen zum Ruder die Wolken wir jagen.
Nicht geschafft auf den Schicksalszug,
Bleibt zurück das Schiff unserer Tage.

Über Leben, Gefechte und Wellen hinweg,
Über Perlenkiemen des Sternengeleits,
Kapitän, Kapitän, lächle auf deinem Deck,
Greif den Sternen beherzt nach dem Schweif.

Vor dem Anstieg fängst du keinen Wellenkamm,
Vor dem Licht erleuchtet kein Stern,
Kapitän, Kapitän, hast du erkannt,
Vor Durchlebtem scheint das Schicksal uns fern.

Über Leben, Tod und Gefecht
Über Sterne, gespiegelt und weit,
Der Unsterblichkeit lach beherzt ins Gesicht,
Steig ihr doch, Kamerad, auf den Schweif.


von Alik Riwin
übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas

Neben Übersetzungen jiddischer Lyrik enthält die zweite Ausgabe der Minsker Schule auch Übersetzungen aus dem Belarussischen. Vorgestellt werden drei zeitgenössische belarussische Lyriker verschiedener Generationen: Ales Rasanau, Galina Dubianezkaja und Maryjka Martyssewitsch.     

Während die Publikation jiddischer Dichtung zu ihrer Verankerung im belarussischen literarischen Kontext beiträgt, ist die Publikation belarussischer Autoren in Belarus in russischer Übersetzung erklärungsbedürftig.    

Im heutigen Belarus ist Belarussisch eine der beiden Amtssprachen (neben Russisch); auf Belarussisch erscheinen Zeitungen und Zeitschriften, wird an Schulen und Universitäten unterrichtet. Der Text der Landeshymne ist belarussisch, die Schilder in den öffentlichen Verkehrsmitteln und im Straßenverkehr auch. Belarussischsprachige Schriftsteller erfahren bei der Veröffentlichung ihrer Texte keine sprachliche Zensur. Wozu dann diese „innere“ Übersetzung ins Russische?   

Belarussische Dichter werden in viele Sprachen der Welt übersetzt, unter anderem ins Russische. Doch häufig beherrschen Übersetzer die belarussische Sprache nicht oder nicht ausreichend und arbeiten mit Interlinearübersetzungen oder sogar Zwischenübersetzungen ins Russische oder Englische. In solchen Fällen kommt es zu „ungefähren“ Übersetzungen, die sich auf Mutmaßungen und sprachliche Bilder aus anderen nationalen Literaturen stützen, zu Übersetzungen, die bereits existierenden Formen ähneln und als „verspätete“ Äußerungen verstanden werden. Die Neuheit und Besonderheit des belarussischen Wortes dringen nicht durch die Übersetzung durch.     

Die futuristischen Wort- und Formschöpfungen, die „asketische“ Aufmerksamkeit für „Dinge“ der belarussischen Welt bei Ales Rasanau, der flammende „Mythos“, die phonetischen Tiefen bei Galina Dubianezkaja, die Neologismen und die urbane Expressivität bei M. Martyssewitsch. All das soll in der Sprache der Übersetzung weder verloren gehen, noch überzeichnet werden, und all das kann übertragen werden, wenn die Übersetzer und Lyriker selbst Teil des belarussischen literarischen Grenzgebiets/Randes sind (Gleb Artchanow, Alexej Schdanow), wenn sie ihren Alltag inmitten der belarussischen Sprache leben und fließend belarussisch sprechen und schreiben (Tatjana Swetaschjowa). 

Bemerkenswert sind die in der Minsker Schule veröffentlichten Gedichte von Ales Rasanau, die der nonkonformistische Lyriker Alexej Schdanow in den 1980er Jahren übersetzt hat. Zu Sowjetzeiten konnte Ales Rasanau trotz seines für die offizielle Literatur unbequemen Innovationsgeistes und trotz seines öffentlichen Engagements für die belarussische Sprache mehrere Sammelbände publizieren. Der Minsker A. Schdanow wurde nicht gedruckt, fiel der Zensur zum Opfer (sein erster Gedichtband erschien nach seinem Tod, 1993 im unabhängigen Belarus). Rasanau hatte Kontakt zu Schdanow und war mit seinen Übersetzungen einverstanden, doch konnten diese aufgrund der Schdanow betreffenden Zensur nicht veröffentlicht werden. Die Redaktion der Minsker Schule erhielt die Manuskripte seiner Übersetzungen aus Alexej Schdanows Privatarchiv. Die Publikation zeigt, wie Vertreter verschiedener literarischer Gruppierungen der späten BSSR zueinander in Beziehung standen, erzählt vom Dialog des Undergrounds mit der „genehmigten“ Literatur und vom Beginn der „inneren“, belarussisch-russischen Übersetzung.   

A. Rasanau, N. Kudasava, 10.06.2017 Foto  G. Lichtarowitsch  А. Рязанов, Н. Кудасова 10.06.2017. Фото Г. Лихтаровича

А. Жданов A. Schdanow

AUF DIESER ERDE

Der eine fragt mich, wo es nach Osten geht,
der andere, wo es nach Westen geht …

Wie ein Wegkreuz sage ich allen, wohin
sie müssen, aber selber bleibe ich da --
auf dieser Erde, unter diesem Himmel,

zu leicht für die Tiefe,
zu schwer für die Höhe,
zu ganz, um zu sinken
auf irgendjemandes Seite …

Hier meine linke Hand, hier meine rechte …
Ich lege ein Korn ins Tal – und es wächst
zu einem Baum:

auf einem Ast hat er die Sonne,
auf dem anderen – den Mond,
vielstimmige Vögel aus aller Welt
singen darin ihre Lieder und bauen
Nester …

Hier ist mein Westen, und hier – Osten.


von Ales Rasanau
übersetzt aus dem Belarussischen von Ruth Altenhofer

альманах МШ3 обложка Minsker Schule Almanach 3

Die dritte Ausgabe der Minsker Schule (2014) eröffnen Gedichte von Moyshe Kulbak (1896-1937), dem vielleicht bedeutendsten jiddischen Dichter von Belarus. Für die Minsker Schule wurden Verse aus dem Poem Rajsn [jiddisches Wort für Belarus – Anm. d. Ü.] ausgewählt, die 1922 in Berlin verfasst und in den Sechzigern vom Moskauer Lyriker und Übersetzer Semjon Lipkin und von Juli Telessin (Israel) übersetzt wurden.

Moyshe Kulbaks Schicksal und Schaffen ist eng mit Belarus verknüpft. Er wurde in Smorgon/Smarhon geboren, studierte an der Jeschiwa von Waloschyn, verbrachte einige Jahre in Litauen und Deutschland, um 1928 nach Minsk zurückzukehren, wo er sich in Literatur und Gesellschaft einbrachte, mit belarussischen Schriftstellern (Janka Kupala u. a.) befreundet war und seine zentralen Werke dem Drama der Juden in Belarus widmete. Im September 1937 wurde er aufgrund einer fingierten Anklage wegen Spionage verhaftet und in der Nacht von 29. auf 30. Oktober zusammen mit 132 anderen belarussischen Schriftstellern und Intellektuellen im Minsker NKWD-Gefängnis hingerichtet. Vermutlich wurde er in einem Gemeinschaftsgrab im Waldgebiet Kurapaty bei Minsk begraben. 1956 wurde Moyshe Kulbak nach Stalins Tod von den sowjetischen Behörden rehabilitiert.

М. Кульбак M. Kulbak

М. Кульбак. Стихотворения 1917-1928 (1929). M. Kulbak. Gedichte 1917 - 1928 (1929)

RAJSN

O, mein Großvater aus Kobylnik ist ein einfacher Jude, 
Ein Bauer mit Beil, Pelz und Gaul…
Meine sechzehn Onkel und mein Vater – 
Schlichte Juden, Juden wie Erdklumpen,
Man treibt Flöße aufs Wasser, schleppt Holz aus Wäldern, gekleidet in Lumpen…
Und schuftet den ganzen Tag wie die Ochsen,   
Man isst zusammen Abendbrot aus einer Schüssel,
Und man fällt ins Bett wie Garben.
Großvater, O, Großvater kommt kaum hoch auf den Ofen,
Er, der Alte, ist schon am Tisch eingeschlafen,
Nur seine Beine – sie kennen den Weg, führen ihn zum Ofen…  
Die guten Beine meines Großvaters, die ihm schon lange Jahre dienen… 


von Moyshe Kulbak
übersetzt aus dem Jiddischen von Yelizaveta Landenberger
 

Trotz des in letzter Zeit wachsenden Interesses an Moyshe Kulbaks Nachlass – es entstehen neue Übersetzungen ins Belarussische (Andrej Chadanowitsch und Siarhiej Schupa) und Russische (Igor Bulatowski, St. Petersburg) – bleibt das Werk des Dichters weitgehend unerforscht und dem belarussischen Leser größtenteils verborgen. Moyshe Kulbaks vielschichtige Poesie verbindet eine Hinwendung zur traditionellen jüdischen Mystik mit für die damalige Zeit innovativen poetischen Praktiken (beeinflusst vom deutschen Expressionismus) und würde eine systematische wissenschaftliche Analyse und eine hochprofessionelle Übersetzung erfordern, was aber aufgrund des fehlenden Interesses seitens der staatlichen Kulturinstitutionen in Belarus und des Mangels an interessierten Übersetzern aus dem Jiddischen ausbleibt.

Auch Übersetzungen aus dem Belarussischen befinden sich in der dritten Ausgabe der Minsker Schule. Er ist vier Lyrikern gewidmet: Adam Hlobus, Vital Ryshkou, Viktar Schybul und Zmicier Vischniou. Während man A. Globus schon zur alten Generation zählen kann, sind Vital Ryschkou, Viktar Schybul und Zmicier Vischniou Vertreter der mittleren Generation der modernen belarussischen Lyrik.  

In der Publikation spiegelt sich eine für die Minsker Schule wichtige Tendenz. In der Auswahl von A. Hlobus überwiegen noch Übersetzungen durch russische Dichter aus verschiedenen Jahren (Swetlana Bunina, Alexej Parschikow, Dmitri Misgulin, Alexander Jermenko), doch die Übersetzungen der mittleren Generation wurden schon eigens für die Minsker Schule von russischsprachigen Lyrikern derselben Generation aus Belarus angefertigt – von Mitarbeitern der Minsker Schule (T. Swetaschjowa, S. Tschernobaj, N. Kochnowitsch) und einem zusätzlichen Übersetzer (Pawel Antipow). (A. Hlobus‘ späte Gedichte übersetzte ebenfalls eine Lyrikerin und Übersetzerin aus dem Kreis der Minsker Schule, O. Markitantowa.)

В. Жибуль. Wiktar Schybul

Н. Кохнович. N. Kochnowitsch


Ich hätte so gerne, dass
der zentrale städtische Park
für Kultur und Erholung
dreimal so dicht mit Bäumen bewachsen wäre.
Oder besser gar viermal.
Dann wär es kein Park mehr,
sondern ein verwunschener Wald.
Dunkel und wild.
Moorlandschaft.
Mit undurchdringlichem Sumpf inmitten des Dickichts,
das niemals betreten wurde
und niemals betreten wird von einer Menschenseele.
Niemals.


von Viktar Schybul
übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas

Seit Mitte der 2000er-Jahre sind belarussisch- und russischsprachige Autoren in einen gemeinsamen bilingualen literarischen Prozess integriert; Lyriker und Schriftsteller der jüngeren Generation trafen auf eine Literaturszene, in der sich dieser bilinguale Charakter bereits ausgebildet hatte, und können sich die belarussische Literatur gar nicht mehr anders vorstellen. Die Teilnahme an gemeinsamen Festivals („Lyrik auf Asphalt“, „Festival eines Gedichts“, „Sprava“ [dt. etwa: Sache, Werk]), an gemeinsamen Clubs („Grafo“) stimuliert die gegenseitigen „inneren“ Übersetzungen als Gesten einer interessierten Aufmerksamkeit und Freundschaft. 

Я. Пробштейн, Ч. Бернстин. Probstein, Bernstin

Abgesehen von Übersetzungen aus dem Jiddischen und dem Belarussischen finden sich in der dritten Ausgabe der Minsker Schule Jan Probschtejns Übersetzungen der neuesten amerikanischen Lyrik von Charles Bernstein. Der Dichter und Übersetzer Jan Probschtejn wurde 1953 in Minsk geboren und lebt seit Ende der Achtziger in New York. In den 1970er Jahren gehörte Probschtejn zu dem Kreis um Kim Chadejew, verkehrte mit nonkonformistischen Lyrikern wie G. Trestman und A. Schdanow. Er übersetzte Ales Rasanau. Rasanau hielt Probschtejn für den besten Übersetzer ins Russische und wollte seine Gedichte nur von ihm übersetzen lassen. Eine von Probschtejns wichtigsten Arbeiten war die Übersetzung „Gedichte und ausgewählte Cantos“ von Ezra Pound (2003), die sehr gute Kritiken bekam. Heute übersetzt Probschtejn späte Texte von A. Rasanau ins Russische und Werke von W. Blaschenny ins Englische. In der Lyrikreihe „Minsker Schule“ erschien 2019 ein Sammelband von Jan Probschtejn: „Moroka/Rackerei“. Für die Redaktion der Minsker Schule ist die Zusammenarbeit mit Jan Probschtejn und anderen Autoren, die aus verschiedenen Gründen ihr Land verlassen haben, sehr wichtig, um den „kulturellen Körper“ der Minsker Schule zusammenzuführen und ihre bedeutsamen Projektionen im Ausland aufzuspüren.   

альманах МШ4 обложка Minsker Schule Almanach 4

Die vierte Ausgabe der Minsker Schule (2018) eröffnet eine Publikation zum Gedenken an den jiddischen Dichter Selik Axelrod (1904-1941). Übersetzungen ins Russische wurden zu verschiedenen Zeiten von Jelena Axelrod gemacht, einer Nichte des Dichters, sowie von anderen Übersetzern (Ossip Kolytschew, Alexander Rewitsch, L. Rust, Michail Swetlow).

Selik Axelrod wurde in Molodetschno geboren und erhielt in Moskau eine literarische Ausbildung. Ab Beginn der 1920er lebte und arbeitete er in Minsk. Er veröffentlichte vier Lyrikbände. Einer davon wurde in der Übersetzung von M. Swetlow 1937 in der RSFSR auf Russisch veröffentlicht. Er setzte sich gegen die Schließung von Schulen mit Unterricht auf Jiddisch ein; am 18. Juni 1941 wurde er der Zugehörigkeit zu einer „nationalistischen Schriftstellerorganisation“ beschuldigt und verhaftet. Am 26. Juni 1941 führte die Rote Armee bei ihrem Rückzug aus Minsk eine Gruppe von Häftlingen in den Wald und erschoss die „politischen“ – einschließlich Axelrod. 1957 wurde er rehabilitiert.  

З. Аксельрод. Akselrod

Der Name des Dichters und Redakteurs S. Axelrod soll vor allem durch neue Übersetzungen ins Belarussische und Russische in den belarussischen literarischen Kontext zurückkehren. 

Der belarussische Block in der vierten Minsker Schule besteht aus Übersetzungen dreier Lyriker der mittleren Generation – Vera Burlak (1977), Andrej Chadanowitsch (1973) und Nasta Kudassawa (1984). Im Almanach finden sich neue Übersetzungen von belarussischen und russischen Übersetzern (Uljana Werina, Sergej Iwkin, Tatjana Swetaschjowa, Margarita Nowosselowa, Andrej Famizki), die von den Autoren überprüft und abgesegnet wurden.

А. Хаданович A. Chadanowitsch

Т. Светашёва T. Swetaschjowa Foto: Dirk Skiba

PLEINAIR
PALANGA


Belarusische Übersetzer
arbeiten morgens,
lesen sorgfältig,
lesen Worte auf,
die nachts verstreut wurden
von betrunkenen georgischen Dichtern.


von Andrej Chadanowitsch
übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas

Einen besonderen Platz in der vierten Minsker Schule nehmen Übersetzungen von Maxim Tanks (1912-1995) freien Versen ein, eines Klassikers der belarussischen Literatur. Die Übersetzungen stammen aus den 1990er Jahren, von Weniamin Blaschenny (Eisenstadt). Blaschenny war eigentlich kein Übersetzer, und dass er sich im Alter von 75 Jahren dem Übersetzen zuwandte, lässt sich nur dadurch erklären, dass er freie Verse übersetzte. M. Tank war nämlich sein ganzes Schaffen hindurch, seit den 1940er Jahren, ein Meister des freien Verses und unterschied sich damit von vielen belarussischen Kollegen und Zeitgenossen, die vorwiegend traditionellen Formen folgten. In den Neunzigern schrieb  Blaschenny eine umfangreiche Serie von Gedichten, und seine Übersetzungen von M. Tank kann man als eine Art Dialog mit einem Gleichgesinnten verstehen.    

М. Танк M. Tank

В. Блаженный, Москва, 1980-е. W. Blaschenny, Moskau, 1980er Jahre

 


Wahrscheinlich kannten Sie Kljotzkin,
Der zu sagen pflegte:
Wo es Bücher gibt, ist kein Schwert,
Wo ein Schwert ist, gibt es keine Bücher.
Wer war er denn für Sie?
Anscheinend Pate, denn in seiner Druckerei
Bekam ich, wie viele andere auch,
Einen Passierschein in den Parnassus des Untergrunds.
Wo ist er jetzt?
In Ponary, leider.
Nur weiß ich nicht, unter welcher Fichte,
Dort sind ihrer hunderte.

 

von Maxim Tank
übersetzt aus dem Russischen von Irina Bondas

Eine neue Rubrik in der vierten Ausgabe besteht aus zweisprachigen Gedichten – belarussisch und russisch. Das Phänomen der zweisprachigen Texte kommt daher, dass Autoren ihren Alltag in einem bilingualen Umfeld verbringen, beide Sprachen beherrschen und ihren künstlerischen Ausdruck je nach Kontext in der einen oder anderen Sprache finden. Dieses reichhaltige bilinguale Feld birgt Möglichkeiten zum inneren Dialog in zwei Sprachen. Den Block eröffnet ein Gedicht von Pjotr Koschel (1946) aus den Siebzigern. Pjotr Koschel wurde in Sluzk geboren, lebte in den 1970er Jahren zwischen Minsk und Moskau und ging in Kim Chadejews Haus ein und aus. Das Gedicht ist dank seiner Originalität – seiner Zugehörigkeit zu zwei Literaturen gleichzeitig – längst bekannt und beliebt.   


Die Tür geht auf, der Vater fragt:
Wo ist die Mutter?
Die Tür geht auf, die Mutter fragt:
Wo ist der Vater?

Und so suchen sie einer den anderen,
und der Schnee stürmt ringsum und pfeift,
(und) die Wände des Hauses zittern im Wind.
Ich bin Jewgenijs und Veras Kind.

Die Tür geht auf, der Vater fragt:
- Wo ist die Mutter?
Die Tür geht auf, die Mutter fragt:
- Wo ist der Vater?

In dieser kalten, so herben Welt,
als einer, der nichts für unsterblich hält,
späte Tränen der Bitterkeit weggewischt,
höre ich wie jeder vom anderen spricht:

- Wo ist die Mutter?
- Wo ist der Vater?

 

von Pjotr Koschel
übersetzt aus dem Russischen und Belarussischen von Michael Pietrucha

Die in der Minsker Schule publizierten zweisprachigen Verse von Felix Axjonzew (1964) entstanden in den 1990er Jahren, als der Dichter, der in den 1980ern russische Verse und belarussische Texte für bekannte Minsker Rockbands schrieb, nach Kanada emigrierte. Diese Gedichte wenden sich an die beiden Sprachwelten, denen Axjonzew in Belarus angehörte.

Ф. Аксенцев F. Aksenzew

  


Poesie -
Das ist, wenn dich Sprache zerreißt
Wie ein Fall
Wie ein Flug

 

von Felix Axjonzew
übersetzt aus dem Belarussischen und Russischen von Michael Pietrucha

Die russischsprachige Lyrikerin Natalja Golowaja (geb. 1977, Pseudonym: Anna Avota) schrieb ihr Gedicht 2016: Es entstand im Gespräch mit einem belarussischsprachigen Freund, aus der Verwebung verschiedener Sprachen zu einem organischen, bilingualen Statement über ihre Freundschaft und ihre Begegnung, die nur im belarussischen Zwischenraum möglich war. 

DAS RAD DER SONNENWENDEN

Wir gingen dieselben Straßen / seit Jahren /
zu unterschiedlichen Zeiten/
tranken an denselben Orten Tee in Cafés /
zu unterschiedlichen Zeiten/
atmeten dieselbe Luft fuhren im Zug
schauten gen Himmel warteten auf Gewitter/

liebten dasselbe Meer / liebten irgendwen /
zu unterschiedlichen Zeiten/
und heute ist Schnee gefallen /
als hätte Jemand
die Erde mit einer gnädigen Hand gestreichelt/
dem Blick einer Nordischen Fürstin gleich
die niemals verzeiht
die ihre Gefühle unter langen Rockschößen
ihres schicken Eismantels
auf dem Grund ihres eisigen Herzens verbirgt
und heute nach der Absage an die adeligen Verehrer
drückte sie den Plüschbären an sich
und ihr Blick leuchtete auf/
dieser zauberhafte Lichtstrahl spiegelte sich in deinen Augen/
und wenn du mich jetzt in dem kleinen Zimmer zurücklässt
wo bald die Wachskerze erlischt
fällt warmer Schnee von der Decke auf meine Wimpern
mit deinen zärtlichen Küssen
und gibt alle Jahrhunderte zur Gänze zurück, in denen wir

uns bisher aus irgendeinem Grund nicht begegnet sind
Geliebter/

 

von Anna Avota
übersetzt aus dem Belarussischen und Russischen von Michael Pietrucha

Bilinguale belarussisch-russische Texte müssen für belarussische Leser nicht übersetzt werden, werden aber gleich zum Problem, wenn es um ihre Übersetzung in eine andere Sprache geht. Bei einer solchen Übersetzung „nach außen“ gehen mit großer Wahrscheinlichkeit Zauber und Spannung der Texte verloren, die durch das Zusammenspiel zweier Sprachwelten in einem Werk entstehen.   

In der Gästerubrik der vierten Ausgabe steht eine Auswahl von Gedichten der schwedischen Lyrikerin Marie Lundquist (1950), übersetzt von Dmitri Plax (1970). M. Lundquist ist eine der wichtigsten Vertreterinnen der zeitgenössischen schwedischen Dichtkunst – eine feinsinnige Lyrikerin, Metaphysikerin, sehr aufmerksam Belarus gegenüber, war auch schon in Minsk. D. Plax leistet einen wichtigen Beitrag zum belarussisch-schwedischen Kulturdialog.  


buchstaben wählen nicht
wovon sie sprechen
farblos, blass
warten sie auf den klang
deiner stimme
verschwunden
in jener nacht
in der die weiße rose leuchtete im regen
und Gott wandte sich um
und rammte sein messer
in die weichste aller schwellen

 

von Marie Lundquist
übersetzt aus dem Schwedischen von Dmitri Plax, aus dem Russischen von Irina Bondas

D. Plax wurde in Minsk geboren, stand dem Kreis um Kim Chadejew nahe und wanderte in den Neunzigern nach Schweden aus. Heute ist Plax in der belarussischen Diaspora aktiv, übersetzt aus dem Belarussischen und Russischen ins Schwedische und zurück, ist Filmproduzent und Regisseur, Musiker und auch als schwedischer Schriftsteller anerkannt. Er schreibt Lyrik und lyrische Prosa auf Belarussisch und Russisch. Russische Gedichte von D. Plax sind im Sammelband „Snaki prepinanija/Satzzeichen“ (2005) publiziert sowie in der Lyrikreihe der Minsker Schule. D. Plax‘ Fähigkeiten als Übersetzer, seine einzigartige Beherrschung dreier Schlüsselsprachen, sein Engagement für die belarussische und schwedische Literatur machen ihn vom Schriftsteller und Übersetzer zum Kulturmissionar.    

Д. Плакс, Фото Elisabeth Lagerstedt. Dmitri Plax, Foto: Elisabeth Lagerstedt

Im ersten Halbjahr 2020 bereitete die Minsker Schule zwei Ausgaben gleichzeitig vor – den fünften Band des Almanachs und eine Sammlung von Übersetzungen zeitgenössischer belarussischer Lyrik in der Lyrikreihe Minsker Schule. Angesichts der Ereignisse der zweiten Hälfte 2020 mussten die Konzepte beider Projekte überdacht werden. Ohne Texte, die auf den belarussischen Volksaufstand, den Terror der illegitimen Machthaber und die neue Solidarität der Belarussen Bezug nehmen, sind Ausgaben der Minsker Schule in Zukunft undenkbar.  

Am 9. August 2020 begannen die belarussischen Lyriker, „den einen Text“ des dokumentarischen Zeugnisses über die nationale Tragödie und den spirituellen Widerstand gegen die gewaltsame Niederschlagung gleich in zwei Sprachen – russisch und belarussisch – zu schreiben. Täglich erschienen Dutzende Texte in Sozialen Medien und wurden sofort in viele Sprachen der Welt übersetzt. So zeigte sich eine neue Eigenschaft der Lyrikübersetzung als unmittelbarer Verstärker einer künstlerischen Äußerung, anhand dessen ein maximal vielsprachiges Publikum synchron erreicht werden kann.   

Беларусь-опрокинута_обложка Strozew, das umgekippte Belarus Cover

Anfang 2021 erschien in der Serie Minsker Schule ein lyrischer Sammelband „Belarus oprokinuta/Belarus gekippt“, das Texte von mir auf Russisch enthält: eine Serie poetischer Reportagen über die Ereignisse von Sommer bis Herbst 2020, sowie eine Übersetzung der gesamten Serie ins Belarussische von Andrej Chadanowitsch und einzelne Übersetzungen ins Ukrainische, Polnische und Litauische (von Ija Kiwa, Boris Chersonski, Natalija Beltschenko, Natalia Rusiecka, Joanna Bernatowicz, Aleksander Raspopov, Tomas Čepaitis). Außerdem wurde „Belarus oprokinuta“ vollständig ins Schwedische übersetzt (Dmitri Plax) und erschien in Schweden als Einzelausgabe („Belarus omkullkastat, 2021). Die Texte der gleichzeitigen Übersetzungen werden ein integraler Bestandteil eines vielsprachigen poetischen Werkes und Zeugnisses.          

Im Oktober 2021 wurde zum 100. Geburtstag von Weniamin Blaschenny (15.10.1921 – 31.7.1999) eine dreibändige Werksammlung veröffentlicht, darunter ein Band mit Übersetzungen seiner Gedichte in sechs Sprachen – englisch, belarussisch, italienisch, polnisch, ukrainisch und französisch. Die Ausgabe wurde zwar dank der vereinten Kräfte der „Minsker Schule“ ermöglicht, für die Redaktion ist es aber wichtig zu betonen, dass die Übersetzungen nicht von uns initiiert wurden, sondern die Übersetzer und Übersetzerinnen (Valschyna Mort, Jan Probschtejn, Maryja Martyssewitsch, Nasta Kudassawa, Maya Halavanava, Tomasz Pierzchała, Julija Scheket, Ija Kiwa, Natalija Beltschenko, Henri Abril) diesen besonderen belarussischen Lyriker selbst entdeckt haben und ihm dem Publikum ihrer Sprache nahebringen wollten. Die Sammlung „Weniamin Blaschenny in Übersetzung“ zeigt, wie aufgeschlossen die weltweite literarische Gemeinschaft gegenüber der belarussischen Dichtkunst ist.

В. Блаженный переводы обложка Blashenny in Übersetzungen

 

Heute, da in Belarus durch rechtswidriges Vorgehen der Behörden der belarussische Schriftstellerverband (einer der ältesten Autorenverbände) und das belarussische PEN-Zentrum, das die Rechte von Schriftstellern vertritt, aufgelöst wurden und regierungstreue literarische Strukturen ideologische Zensur üben, da angesehene Autoren demokratischer Gesinnung (Swetlana Alexijewitsch, Uladzimir Arlou, Alhierd Bacharewitsch, Andrej Chadanowitsch et al.) aufgrund des Risikos, verhaftet und mit fingierten Anschuldigungen ins Gefängnis geworfen zu werden, ausreisen müssen, da in Belarus verbleibende Schriftsteller sich an den literarischen Underground der 1970er-1980er-Jahre erinnert sehen, wird die „innere“ belarussisch-russische Übersetzung eine neue Notwendigkeit, eine Aufgabe des zivilen Dialogs, ein Mittel zur ethischen Solidarität und zur Bewahrung eines bedeutenden kulturellen Gedächtnisses. Wenn die Werke belarussischer Autoren willkürlich für „extremistisch“ erklärt werden, wenn ihre Bücher aus den Bibliotheken genommen werden und deren Verbreitung verboten wird, dann sind die gegenseitigen „inneren“ Übersetzungen zusätzliche Aufbewahrungsorte, ein Schutz vor dem Vergessen und der Zerstörung. 

 

16.02.2022 

 

Quellen, Bibliografie

Источники, библиография:
Скир А. Я. Еврейская духовная культура в Беларуси. – Минск: Маст. літ., 1995.
Елена Кошкина. На грани исчезновения. – Минск: Новые мехи, 2002.
Знаки препинания: коллективный сборник. – Минск: Новые мехи, 2005.
Минская школа, выпуск 1. – Минск: Новые мехи, 2009.
Минская школа, выпуск 2. – Минск: Новые мехи, 2013.
Минская школа, выпуск 3. – Минск: Новые мехи, 2014.
Минская школа, выпуск 4. – Минск: Новые мехи, 2018.
Беларусь опрокинута / Беларусь перакуленая. – Минск: Новые мехи, 2021.
Belarus omkullkastat. – Malmö: Rámus förlag, 2021.
Вениамин Блаженный в переводах. – Минск: Новые мехи, 2021.

Fußnoten
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PDF

Dmitri Strozew, Foto: © Polina Sawelskaja

Dmitri Strozew, belarussischer Lyriker, schreibt auf Russisch.

Geboren 1963 in Minsk. Von Beruf Architekt. Autor von 16 Gedichtbänden. Leiter des Literatur- und Verlagsprojekts Nowyje Mechi (Neue Pelze), Herausgeber des Almanachs und der Lyrikreihe Minskaja schkola (Minsker Schule). Mitglied des Belarussischen PEN-Zentrums. Ausgezeichnet mit der Russkaja premija (2007), dem Norwegian Authors’ Union’s Freedom of Speech Award (2020), dem Ciampi – Valigie Rosse Preis (Italien 2020), dem Grand Prix des Metajournal 2020, dem Disturbing the Peace Award der Václav Havel Library Foundation (2021) sowie dem Tucholsky Award des schwedischen PEN-Clubs (2021). Seine Gedichte wurden ins Englische, Belarussische, Georgische, Italienische, Litauische, Deutsche, Polnische, Ukrainische, Französische, Schwedische, Tschechische, Estnische und in andere Sprachen übersetzt. Er lebt in Minsk.  

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