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Die dritte Sprache | Lyrik als Übersetzung

Aranka Kemény, Museologin für Literatur und Redakteurin des Portals Lyrikline.org, spricht mit der Dichterin und literarischen Übersetzerin Orsolya Kalász über das Bekanntmachen ungarischer Lyrik im Ausland.

Aranka Kemény: Liebe Orsolya, du übersetzt seit zwanzig Jahren ungarische Lyrik und hast unlängst eine bedeutende Auszeichnung für deine Arbeit bekommen. Zusammen mit deiner Arbeitspartnerin, der Dichterin und Übersetzerin Monika Rinck, wurde euch der Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung auf dem 41. Erlanger Poetenfest Ende August 2021 zuerkannt. Dazu meine herzliche Gratulation! Ich zitiere aus der Begründung der Jury: „Orsolya Kalász und Monika Rinck haben ein Verfahren des dialogischen Übersetzens perfektioniert, das unterschiedliche poetische Positionen in einem vielstimmigen Gespräch miteinander verbindet.“

Orsolya Kalász: Wir bedanken uns sehr. Meines Erachtens ist die Übersetzung auch dann, wenn jemand allein übersetzt, ein Dialog mit dem Text. Das dialogische Übersetzen ist in unserem Fall eine mehrstimmige Kommunikation auf mehreren Stufen. Wir sitzen mit anderen kulturellen Hintergründen und poetischen Prioritäten gemeinsam an einem Tisch. Kurz gesagt, wenn ich mich mit Monika an die Übersetzung heranmache, dann teilen wir die Erfahrungen, die wir einzeln im Dialog mit dem Gedicht gemacht haben. So kommen viel mehr Fragen und Gesichtspunkte zum Vorschein. Zu dem gemeinsam geführten Gespräch braucht es Zeit, Vertrauen und natürlich auch das Gefühl, gern zusammen zu sein. Ich nenne das einen vielstimmigen Dialog, weil wir häufig die Autoren mit einbeziehen. Zum Beispiel, wenn das grammatische Geschlecht der deutschen Substantive die Vereindeutigung einer Textpassage verlangt. Und wenn es schon um die Interpretation und Vereindeutigung einer Stelle im Gedicht geht, dann ist es besser, das mit dem Autor zusammen zu machen.

AK: Ihr habt acht Bände und zahllose Übersetzungen zusammen gemacht. Du allein oder mit anderen zusammen noch viel mehr. Diese Zusammenarbeit mit Monika Rinck, dieses Tandem, das jetzt auch ausgezeichnet wurde, mag für euch selbst völlig evident sein. Was ist eure Methode bei der Übersetzung eines Gedichtes? László Lator, der ungarische Doyen des literarischen Übersetzens, sagt, „dass wir bei einer Übersetzung auf alle Baumaterialien eines Gedichtes zugleich achten müssen: auf inhaltliche–gedankliche, gefühlsmäßige, stimmungsbezogene, sprachliche–stilistische, strukturelle-grammatische, bildliche und in engem Sinne formale Elemente. Selbst die inhaltliche Formulierung an sich ist keine reine Übersetzung. Auch sie ist eine formale Frage. Bei Gedichten verfügt der Inhalt auch über eine Form, eine Struktur.“ Wie greift ihr zu einem Gedicht, was ist die Reihenfolge, bis ihr zu dem Punkt kommt, dass es „fertig“ ist?

OK: An der Universität war ich Studentin von Herrn Lator und weiß aus eigener Erfahrung, welch strenge formale Regeln er stellt. Ich möchte zwei Autoren zitieren, die sich über die Übersetzbarkeit bzw. Unübersetzbarkeit ungarischer Gedichte Gedanken gemacht haben: Ágnes Nemes Nagy sah die ungarische Sprache weltliterarisch zum Tode verurteilt. In ihrem Text Ein Vorwort zu einem Gedichtband erörtert sie, dass sich die Unübersetzbarkeit aus der wuchernden Natur der ungarischen Inselsprache ergibt. Ihr Reichtum an Reimen wegen ihrer agglutinierenden Art sowie die Tatsache, dass sie zugleich zu verschiedensten Formen der Poesie geeignet ist, ob diese nun mit Betonungen, gereimten oder klassischen Versmaßen arbeitet, das stellt die ungarische Dichtung auf die höchste Ebene der Unübersetzbarkeit. Schriftsteller und Übersetzer Franz Fühmann, der den ersten Band von Ágnes Nemes Nagy ins Deutsche übersetzt hatte, beschreibt die Lage in seinem Tagebuchroman, welcher bei seinem Ungarnaufenthalt entstanden ist, deutlich optimistischer, er behauptet, die Übersetzung eines Gedichtes entstehe durch die Einbeziehung dreier Sprachen. Neben der Ausgangssprache und der Zielsprache müsse das Werk auch auf der universalen Sprache der Poesie erklingen. Fühmann konnte zwar kein Ungarisch, hatte aber ein gutes Verständnis für die ungarische Lyrik als universale poetische Sprache. Zusammen mit dem Übersetzer Paul Kárpáti machte er der deutschen Leserschaft Gedichte bedeutender ungarischer Lyriker wie Attila József, Miklós Radnóti und Mihály Vörösmarty zugänglich. Um auf deine Frage konkreter einzugehen: Die formale Treue, wie es die ungarische Übersetzungstradition wegen der sprachlichen Möglichkeiten verlangen mag, kann man im Deutschen nicht verlangen, im Gegenteil, bei einem Gedicht kann sie tatsächlich zum Todesverursacher werden. Deshalb beginnt die Übersetzung bei mir bei der Auswahl. An unübersetzbare Gedichte glaube ich nicht, ich denke jedoch, dass sich ab einem bestimmten Punkt nicht jedes Gedicht in jede Sprache übersetzen lässt. Bei der Arbeit mit Monika reflektieren wir nur selten darüber, welche Übersetzungstraditionen und -methoden es gibt, wir treffen unsere Entscheidungen jedoch stets im Sinne dieser – z. B. bezüglich des Verzichts auf Reime –, was ich am Anfang meiner Laufbahn alleine nicht hätte umsetzen können, weil ich die ungarische Übersetzungspraxis kannte und an einen unbestreitbaren Vorrang formaler Treue glaubte. In Deutschland habe ich das literarische Übersetzen neu erlernt.   

AK: Und du wurdest zum Boten der ungarischen Lyrik. Bist du mit dieser Bezeichnung einverstanden?

OK: Insofern stimme ich ihr zu, dass man in Deutschland zweifellos eine Vermittlerrolle einnimmt, wenn man zeitgenössische Lyrik übersetzt, indem man zeitgenössischen Lyriker·innen neben den Aufträgen von Literaturverlagen, Zeitschriften und Institutionen auch in Eigeninitiative Publikations- und Auftrittsmöglichkeiten schafft. Unter anderem durch die Herausgabe und das Redigieren von Anthologien. In der 2019 erschienenen Anthologie Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts, die ich mit dem Literaturorganisator Peter Holland unter Einbeziehung mehrerer Übersetzer·innen zusammenstellte, präsentierten wir dreißig ungarische Lyriker·innen, die nach 1980 geboren wurden. Aber auch davor, 1999 hatte ich gemeinsam mit dem deutschen Lyriker Gerhard Falkner bereits eine ähnliche Lyrikanthologie redigiert, und zwar mit Werken ungarischer Lyriker·innen, die in den 1960er und 70er Jahren geboren sind.

AK: Das war der Band Budapester Szenen – Junge Ungarische Lyrik, welcher auch dreißig ungarische Autor·innen umfasste, mit einer Fotomontage von András Bozsó auf dem Titelblatt. Diese beiden − mit anderen in Zusammenarbeit erstellten − Anthologien bilden den Rahmen deiner Laufbahn. „1999 und auch heute interessiert mich das, was gerade in der Entwicklung ist, keine fertigen Lebenswerke oder eine Bestätigung des anerkannten Kanons, hast du in einem Interview mit Szilárd Podmaniczky betont.

OK: Zum Erfolg einer Anthologie, welche eine jüngere Generation vorstellt, gehört dazu, dass sie auf möglichst viele Autoren aufmerksam macht. Das war auch im Falle von Budapester Szenen so. Fast alle, die wir in die Anthologie aufgenommen hatten, waren in Deutschland damals noch unbekannt. Im deutschen Sprachraum zum ersten Mal erschienen hier die Gedichte von unter anderem István Kemény, János Térey, István Vörös und Krisztina Tóth, von denen seitdem mehrere Bücher auf Deutsch veröffentlicht worden sind. Im Gegensatz dazu verfügten mehrere der Autoren von Dies wird die Hypnose... bereits über selbständige Gedichtbände. So z. B. Petra Szőcs, Kinga Tóth, Márió Nemes Z. oder Dénes Krusovszky. Worauf ich aber sehr stolz bin, ist, dass die deutschsprachige Ausgabe des Buches Tote Frauen (Origintaltitel: Halott nők) von Anna Terék dank der Anthologie zustande kommen konnte. Diese habe ich zusammen mit Eva Zador übersetzt.

AK: 1999 galt für dich als ein großer Anfang, zum einen, weil damals Ungarn Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, und zum anderen war dein erster zweisprachiger Band Babymonster und die Gärtner / Babarém és a kertészek 1997 erschienen.  

OK: Ja, das war für mich der Anfang. Für Babymonster und die Gärtner habe ich meine eigenen Gedichte selbst übersetzt – das waren meine ersten Gedichtübersetzungen ins Deutsche. Direkt danach kam Budapester Szenen, eine besonders große Arbeit: Ich habe zu 300 Gedichten interlineare Übersetzungen erstellt und jedes einzelne Gedicht mit den jeweiligen Autoren besprochen, die dann die Nachdichtungen erstellt haben.  

AK: Gerhard Falkner war dein Mitredakteur und Mitübersetzer. Von wem stammte die Idee zum Buch?

OK: Von ihm. Ich bin 1996 nach Deutschland gezogen, war unerfahren, Gerhard dagegen war ein „routinierter Fuchs“ mit Redaktionserfahrung von unter anderem der amerikanischen Lyrikanthologie AM LIT, in der auch ein Text von einer meiner Lieblingsautoren, Kathy Acker, enthalten ist. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist eine zweiwöchige Tour mit Lesungen im September 1999, an der ich zusammen mit Vera Filó, András Imreh, István Kemény und János Térey teilgenommen habe. Es war ein großes Abenteuer. Zwei Wochen vor der Frankfurter Buchmesse waren wir mit zwei Autos in Berlin losgefahren und hatten in fünf oder sechs Städten Lesungen gehalten, bevor wir das Buch auf der Buchmesse vorstellten.

AK: Hat euch jemand bei der Zusammenstellung des Buches geholfen?

OK: Ja, bei der Auswahl der Texte haben István Kemény und János Térey mitgewirkt. Es ist interessant, dass ich das ungarische literarische Leben erst über sie kennengelernt habe, nachdem ich nach Berlin gezogen war.  

AK: Einen Teil deiner Kindheit hast du in Deutschland verbracht, wo du auch in die Grundschule gegangen bist. Neben dem Ungarischen wurde also Deutsch deine Zweitsprache. Danach seid ihr nach Ungarn zurückgekommen, du hast in Pécs das Gymnasium absolviert, anschließend an der ELTE in Budapest studiert, und bist 1520 Jahre später wieder nach Deutschland gezogen. Du hast also auch deinen Wohnort mehrmals gewechselt. Welche Wirkung hatte das auf dich und auf deine Kontakte zu anderen ungarischen Lyrikern?  

OK: Als ich als sechsjähriges Kind nach Berlin kam, hatte ich unheimliches Heimweh. Dies hielt auch an, bis wir wieder nach Hause zogen. Dann fühlte ich mich aber in dieser Welt, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte, fremd. Dieses widersprüchliche Gefühl lässt sich bei mir bis heute nur in der Arbeit auflösen. Als es entschieden war, dass ich in Deutschland leben werde, habe ich mir überlegt, wie ich es von Berlin aus vermeiden kann, mich von meinem ungarischen Leben, der ungarischen Sprache zu entfernen. Nach der Herausgabe von Budapester Szenen war es klar: Wenn ich etwas tun kann, dann ist es die Übersetzung zeitgenössischer ungarischer Lyrik ins Deutsche. Es gab und gibt zahlreiche hervorragende Prosaübersetzer, die ins Deutsche arbeiten, zu der Zeit haben sich aber nur wenige explizit mit zeitgenössischer Lyrik befasst. Heute ist die Lage besser.

AK: Budapester Szenen hat in erster Linie deine Generation vorgestellt, du musst also die anderen Lyriker·innen ganz gut gekannt haben, aber in Dies wird die Hypnose sind die Zwanzig-Dreißigjährigen von heute vertreten.  Inwieweit war diese Auswahl schwieriger oder anders als die vor zwanzig Jahren?

OK: Auch diesmal habe ich Hilfe bekommen, und zwar vom Lyriker und Ästheten Márió Z. Nemes, der auch ein wunderschönes Nachwort zur Anthologie geschrieben hat.  Zum Glück publizieren heute sehr viele junge Lyriker in Online-Zeitschriften wie Prae, Kulter und Litera bzw. den Online-Ausgaben von Új Forrás und Alföld. Die digitalen Möglichkeiten weiten in vieler Hinsicht das literarische Leben aus, durch sie wird es unabhängiger, so war es auch für mich einfacher, mich aus Berlin vor dem Computer sitzend zu orientieren. Mit meinem Redaktionspartner Peter Holland durften wir mit einem Stipendium der Stiftung Ungarisches Übersetzerhaus (Magyar Fordítóház Alapítvány) zwei Wochen lang in Balatonfüred arbeiten. Auch das hat viel geholfen. Während ich mich mit allen Beitragenden der Anthologie Budapester Szenen persönlich getroffen hatte, war es diesmal anders, ich stehe nur mit zwei oder drei Autoren in Kontakt. Einen Großteil der Freiexemplare habe ich in dem Buchladen Írók Boltja in Budapest abgegeben − ich hoffe, dass sie alle abgeholt worden sind.

AK: Gibt es schon Rückmeldungen zum Band? 1999 war Ungarn vielleicht etwas mehr im Fokus, wie sieht die Rezeption der aktuellen Anthologie im Vergleich aus?

OK: Eine so konzentrierte Aufmerksamkeit für die ungarische Literatur wie 1999 gibt es heute nicht, das kann man aber auch gar nicht erwarten. Es gibt allerdings keinen Grund zur Klage, die ungarische Literatur wird im deutschsprachigen Raum neben Deutschland auch in Österreich und der Schweiz geachtet, wir haben es also mit einer deutlich breiteren Leserschaft zu tun als nur Deutschland. Die Rezeption war positiv. Insa Wilke, eine der Lyrik verpflichtete Kritikerin, hat sich im Radio sehr anerkennend über das Buch geäußert, und es wurde auch in vielen Kritiken gewürdigt. Der Werdegang einer Anthologie ist jedoch immer eine langsame Geschichte. Ich glaube und hoffe, dass Dies wird die Hypnose... auch nach zehn Jahren ein Orientierungspunkt sein wird, auch dann wird man in der Sammlung Lyriker finden können, die man nachschlagen möchte. Zum Glück ist es heute deutlich einfacher, jemanden zu finden, bei einer Suche im Internet findet man eine mehrsprachige Präsenz und eigene Seiten, was 1999 noch nicht der Fall war.  

AK: Was denkst du, inwieweit ähneln die Themen des Bandes denen der gleichaltrigen deutschen Autoren? Wie von Márió Nemes Z. beschrieben und auch von Szilárd Podmaniczky betont sind die Gedichte dieser Generation durch Folgendes geprägt: „…das fordert, den Glauben an die Verantwortung der Poesie wieder herzustellen, ohne sie der deformierenden Wirkung gesellschaftspolitischer Ideologien auszusetzen. Im Spannungsfeld der Gegensätze zwischen Rückzug und Teilnahme, der Erschaffung und Überwindung von Ideologien, entsteht eine neue Literatur.“

OK: Ich halte das für sehr treffend. Ich stimme Márió zu, dass wir in einer Periode der Erschaffung und Überwindung von Ideologien leben. Dabei bin ich der Überzeugung, dass die ideologieverwerfende bzw. ideologieschaffende Absicht im deutschsprachigen Raum auf andere Dinge zurückzuführen ist als in Ungarn, dennoch gibt es auch globale Themen, auf welche die Lyrik synchron reagiert. In der Haltung zur Frage der Ausbeutung der Natur durch den Menschen sehe ich zum Beispiel keinen großen Unterschied zwischen jungen deutschen und ungarischen Lyrikern.

AK: Wir können also behaupten, dass die Themen und der Ton verwandt sind. Inwieweit ist die Ironie für aktuelle deutsche Lyriker charakteristisch?

OK: Es gibt sicherlich Unterschiede in den Eigenheiten. Wegen der gesellschaftlichen Lage nimmt die Ironie in der ungarischen Lyrik einen anderen Platz ein. Der amerikanische Autor Elbert Green Hubbard sagt: „Die Ironie ist die Kaktuspflanze, die über dem Grab unserer toten Illusionen wuchert.“ Seit der Wende hat man in Ungarn sehr viele Illusionen begraben. Die Stacheligkeit der Gedichte – um bei dem Bild zu bleiben – liegt auch darin, wie die lyrische Sprache durch die Mittel definiert wird. Sowohl bezüglich der Wortwahl als auch der bildlichen Welt bedient sich diese Generation häufig mit großer Freude drastischer Gattungen, welche nicht der sogenannten hohen Kunst zugehörig sind, wie zum Beispiel Horror oder auch Splatter, stellenweise mit der Symbolik des romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts vermischt. Daraus ergibt sich eine eigenartige Spannung in den Texten, welche sich nur durch Ironie auflösen lässt. Man kann allerdings nicht von einem bestimmten Ton sprechen. Es sind dreißig eigene, selbstständige Stimmen im Band, es wäre schade, diese in einen Topf zu werfen. Eines der redaktionellen Konzepte war es tatsächlich, sofort erkennbare Themen zu bringen, wie das Posthumane oder die Körperlyrik, das Anthropozän, doch es sollte sich auch herausstellen, was diese Generation von der aktuell herrschenden Politik hält. Ich finde es interessant, dass die historische Erinnerung weiterhin maßgeblich präsent ist, dass die Familiengeschichte für viele Autoren ein wichtiges Thema bildet.  

AK: Und abschließend: Wie sehen nach deiner Ansicht die Möglichkeiten der deutschen und der fremdsprachigen Lyrik in Ungarn aus?

OK: In den letzten Jahren hat sich das Interesse für zeitgenössische Lyrik auch in Ungarn gestärkt, es gibt deutlich mehr Lyrikübersetzungen, die aktuelle fremdsprachige Publikationen vorstellen. Dabei, dass die Gedichte die ungarischen Leser und Übersetzer erreichen, erfüllt die vom Berliner Haus für Poesie gegründete internationale Plattform für Lyrik Lyrikline.org eine besonders wichtige Rolle. Was ungarische Literaturportale betrifft, möchte ich zwei erwähnen: Versum und 1749, auf denen fast täglich neue fremdsprachige zeitgenössische Gedichte erscheinen, um nur einige deutsche Lyriker zu erwähnen, zum Beispiel von Monika Rinck, Daniel Falb oder Anja Kampmann. Damit auch die gedruckten Medien nicht zu kurz kommen, soll hier der Name der Zeitschrift Alföld fallen, in der im Sommer 2021 Gedichte von einem meiner Lieblingslyriker, Farhad Showghi, in der ungarischen Übersetzung von meinem Vater Márton Kalász erschienen sind.

 

06.09.2022
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© privat

Orsolya Kalász wuchs zweisprachig auf. Sie studierte Germanistik, ungarische Literatur und Sprachwissenschaft an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest. Im Jahr 1984 begann sie zu veröffentlichen. Seit 1995 hat sie ihren Wohn- und Arbeitsort in Berlin. Die eigene Lyrik schreibt sie mal in ungarischer, mal in deutscher Sprache. Sie überträgt die eigenen Texte selbst in die zweite Sprache, was ihr eher als eine Variation gerät.

Als Übersetzerin bearbeitet sie neue ungarischsprachige Lyrik, seit 2000 häufig in Zusammenarbeit mit der deutschen Lyrikerin Monika Rinck. Für diese Arbeit erhielten sie 2021 den Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung.

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