Cities of translators Budapest Über die ungarische Übersetzung gefährdeter finnougrischer Literaturen | Lyrik als Übersetzung
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Über die ungarische Übersetzung gefährdeter finnougrischer Literaturen | Lyrik als Übersetzung

„Jede totgeborene Morgendämmerung warnt uns,
dass die den Kleinen zugeteilte Gegenwart die Zukunft der Großen ist.“
(Laura Iancu)

 

„Das ungarische Verlagswesen hat bei der Übersetzung der Literatur Europas und insbesondere der Literatur seiner Nachbarländer eine Vorreiterrolle gespielt. Mit dieser Tätigkeit hat es nicht nur in Europa, sondern auch weltweit ein Beispiel gesetzt. Ungarische Schriftsteller·innen, Literaturübersetzer·innen und Verleger·innen zeigen durch ihre gemeinsame Arbeit, dass kleine Nationen nicht unbedingt eine kleine Literatur haben, und dass auch zahlenmäßig kleine Nationen in der Lage sind, große und bemerkenswerte Werke zu schaffen“, so der Literaturkritiker Tamás Gajdó in den 1970er Jahren. Im Lichte dieser Aussage sollten wir unter anderem an die vielen ungarischen Anthologien denken, die nicht nur die Literatur unserer Nachbarn, sondern auch die von Minderheiten aus weiter Ferne präsentieren. Sicherlich ist es bespielhaft, wie die ungarische Literatur bis heute literarische Übersetzungen aus unzähligen Ausgangssprachen hervorbringt. Und zwar ohne einen bewussten Versuch, dies von oben aufzuerlegen: Es kommt aus dem Inneren des literarischen Lebens (bottom-up), wobei die spannendste Konstellation natürlich eine wäre, in der eine Anregung auch von oben käme (top-down).

Die ungarische Übersetzungsliteratur ist nicht nur in ihrer sprachlichen Vielfalt beispielhaft, sondern auch in der Anzahl der Literaturen, zu denen sie regelmäßig historische und zeitgenössische Studien erstellt. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt nicht nur dem Westen, sondern auch den anderen Richtungen, die wir hier gemeinsam als „den Osten“ bezeichnen werden. Der Blick nach Osten bedeutet, nach innen zu schauen, auf die Literaturen archaischer Zeiten, die zeitlosen Texte und großen Werke kleiner finnougrischer, türkischer, mongolischer oder sogar ozeanischer Völker. Die östlichen Winde, die die ungarische Literatur erreichen, eröffnen ihr einen meditativen und mystischen Raum, ein zeitloses, Stabilität bietendes Wissen. Dabei ist der Blick des Westens gefesselt von der sich verändernden Welt, was sich in den westlichen literarischen Werken widerspiegelt, die im Bann von hunderttausend verschiedenen Arten der ephemeren Materie entstanden sind.

In diesem Essay gehen wir den Spuren des Ostens nach, denn die ungarische Literatur wendet sich immer wieder den spirituellen und (volks)literarischen Werken uralischer, altaischer und anderer kleiner, oft vom Aussterben bedrohter Völker zu.

Die zeitgenössische ungarische Übersetzungsliteratur bildet zwar die Primärwelten weltsprachlicher Literaturen ab, dadurch schenkt sie aber den „kleinen“ Sprachen immer weniger Aufmerksamkeit als den „großen“, d. h. sie verliert an sprachlicher Vielfalt. Diese Tendenz wird ferner durch den Abbau bzw. Einschmelzen kleinsprachiger Universitätsabteilungen verstärkt. Trotz alledem gibt es dank der gegenwärtigen erfahrenen Übersetzer·innengeneration immer noch eine große Anzahl an ungarischen Übersetzungen gefährdeter Literaturen, z. B. aus den uralischen Sprachen Samisch, Komi, Wepsisch, Karelisch, Mansisch, Chantisch, Selkupisch, Nganasanisch und Udmurtisch sowie aus den Staatssprachen der von diesen Völkern bewohnten Länder (z. B. Russisch, Finnisch, Norwegisch). In der zweiten Hälfte des Essays berichte ich von meiner eigenen Praxis als Literaturübersetzerin und meiner Arbeit mit Studierenden im universitären Übersetzungslabor in Budapest und Bielefeld, um auf die Notlage gefährdeter Literaturen und die gegenseitige Notwendigkeit der literarischen Übersetzung aufmerksam zu machen, denn Letztere ermöglicht eine Demokratisierung und Diversifizierung des Literaturbetriebes. Es ist nämlich wichtig, dass das Feld der literarischen Übersetzung nicht die eigentliche Formel des hegemonialen Verhältnisses reproduziert, gegen das sich geschriebene und übersetzte literarische Werke stellen. Dies erfordert jedoch in erster Linie ein offenes, starkes literarisches Feld, zweitens einen Bildungsrahmen, der kleinen Dingen große Bedeutung beimisst, und letztlich eine Leserschaft, die sich eine literarische Vielfalt wünscht.

SPRACHLICHE UND LITERARISCHE VIELFALT

Wann kann eine Literatur als gefährdet angesehen werden? Wie lange bewahrt eine Literatur ihre ethnische Sprache? Was ändert sich, wenn sich ihre Form, ihr sprachliches Medium ändert? Und welche konkrete Rolle kann die Übersetzung bei alledem spielen? Im Folgenden werden die „großen”, „kleinen”, „gefährdeten” und „transponierten” Literaturkategorien kurz umrissen sowie durch Beispiele über die Bedeutung ihrer literarischen Übersetzung nachgedacht. 

So wie der Oberbegriff „gefährdete Sprachen“ alle Gefährdungsgrade von endgültig, ernsthaft oder kritisch bis hin zum Aussterben umfasst, kann sich „gefährdete Literatur“ auf all die literarischen Bereiche beziehen, in denen einer der vier Gefährdungsgrade festgestellt werden kann. Von einer kritischen Lage kann man im Falle der Literaturen der in Russland lebenden Udmurten oder sich rasch assimilierenden Komis sprechen, die einige Hunderttausend zählen (namhafte ungarische Übersetzer dieser Literaturen sind z. B. Gábor Tillinger und István Kozmács); eine ernsthafte Bedrohung besteht bei der Literatur der Nenzen und der nordischen Sami, deren Zahl in die Zehntausende geht, obwohl hier auch eine starke Zähigkeit, ein bewusster Aktivismus und ein hohes literarisches Niveau zu beobachten sind (ihre ungarischen Übersetzer·innen sind z. B. Katalin Nagy, János Pusztay, Ildikó Tamás); als endgültig bedroht gilt die Literatur der Chanten, der einzigen Minderheitenvolksgruppe in ganz Russland, die in den 1930er Jahren den Kampf gegen den stalinistischen Terror kollektiv aufnahm (ihre ungarischen Übersetzer·innen sind z. B. Katalin Nagy, Anna Vándor, Márta Csepregi) − von dieser Zeit erzählen die Romane des chantischen Schriftstellers Eremei Aipin, die in der ungarischen Übersetzung von Katalin Nagy − teilweise sogar vor der originalsprachlichen Veröffentlichung − erschienen sind, wobei der Autor vom Ungarischen Schriftstellerverband für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde (auf den Vorschlag von Katalin Nagy). Was die ausgestorbenen Sprachen angeht, sind die oralen und literarischen Werke vieler ausgestorbener „kleiner“ Sprachen in linguistischen Aufzeichnungen erhalten, sie werden aber in schriftlicher Form nicht mehr praktiziert (z. B. Kemi-, Ter- oder Akkala-Samisch bzw. verschiedene indigene amerikanische Sprachen). Diese Gruppen sind entweder im Nebel der Zeit verschwunden, oder ihre ästhetischen Werke werden in anderen Sprachen geschrieben.

DAS BEISPIEL DER NENZEN

In The Read Book of the People of the Russian Empire, also dem Roten Buch der Völker des Russischen Reiches (2001) haben die Autor·innen nicht nur das Territorium, die Geschichte, die sprachliche und demografische Situation der rund hundert ethnischen Gruppen, deren Sprachen in Russland gefährdet sind, zusammengefasst, sondern auch einen knappen Überblick über die Anfänge deren Alphabetisierung und literarischen Leistungen gegeben. Sie wiesen auch darauf hin, dass die Pflege der Literatur eine wichtige Rolle für das Überleben einer Sprache spielt. Die literarischen Praxen dieser Völker stehen nämlich nicht nur für die Kultivierung des ästhetischen Registers der jeweiligen Sprache, sondern auch für die interdiskursive Aufnahme und Entwicklung von Sprachregistern.

Die Geschichte der nenzischen Literatur ist ein gutes Beispiel für die literarische Entwicklung vieler „kleiner“ Sprachen: Die Nenzen, die ihre Rentiere in einem großen Gebiet hüten und eine wunderbare Folklore haben, haben − den meisten nordischen Völkern ähnlich − seit Jahrhunderten eine Bilderschrift verwendet, und benutzten spezielle Familienzeichen, die Tamga, um ihren Besitz zu markieren. Eine Schriftsprache einzuführen versuchten im 18. und 19. Jahrhundert russisch-orthodoxe Missionare, aber aufgrund negativer politischer Veränderungen und mangelnder Massenbildung konnte sich das vorgeschlagene Rechtschreibsystem nicht durchsetzen. Im Jahr 1932 schufen Sprachwissenschaftler·innen eine nenzische Literatursprache, die auf dem Bolschaja-Semlja-Dialekt, einem der zentralen nenzischen Dialekte basiert und das lateinische Alphabet verwendet. Talentierte junge Nenzen, die das Leningrader Lehrerseminar besuchten, nahmen dieses Wissen mit nach Hause und begannen mit dem Aufbau ihrer modernen literarischen Welt. Nach den anfänglichen Erfolgen schickte jedoch in den 1930er Jahren der stalinistische Terror die prominenten Mitglieder der Minderheitengeneration in Arbeitslager oder den Tod und verbrannte ihre mit dem lateinischen Alphabet verfassten Bücher, wo immer er konnte. Daher mussten sich die Nenzen 1937 auf das russische Alphabet umstellen und schreiben seitdem ihre Werke in ihrer Sprache nach der russischen Rechtschreibung. Péter Domokos (1936−2014), Budapester Literaturwissenschaftler, der neben der nenzischen auch andere uralische Literaturen in die Weltliteratur hineingebracht hatte, sagte über die danach kommenden Zeiten:

Von der Literatur der sibirischen Sprachverwandten ist die nenzische die lebendigste und vitalste, und die relativ große Zahl von Nenzen-Schriftsteller·innen, ihre Zeitschrift und ihre landessprachlichen Veröffentlichungen sind ermutigende Zeichen für eine weitere Entwicklung. Dass sie den Provinzialismus längst hinter sich gelassen haben, zeigen nicht nur ihre eigenständigen, in russischer Sprache erschienenen Bände und ihre Präsenz in angesehenen russischsprachigen Zeitschriften, sondern auch die Tatsache, dass mehrere von ihnen (Istomin, Lapcuj, Ledkov, Pichkov) Mitglieder des Verbands Sowjetischer Schriftsteller waren. Was diese Literatur in den vier Jahrzehnten ihres Bestehens erreicht und geleistet hat, ist keine Kleinigkeit, weder in Bezug auf die Anzahl der Werke noch auf deren Qualität. Sie hat die Stufe erreicht, auf der ein Volk sich selbst, seine Heimat und seine Individualität entdeckt und, während es sich um eine menschlichere Welt bemüht, seine Individualität bewahren will.

Wie bei allen indigenen Völkern Russlands, hat sich die Machtpolitik gegenüber den Nenzen bis heute verdeckter Mittel bedient, um das Regime zu stärken bzw. die lokale Bevölkerung zu assimilieren. Die Literatur der Nenzen hat jedoch ihre globale Bedeutung in verschiedenen Formen bewiesen − man denke nur an ihre reiche Folklore, an die in viele Sprachen übersetzte postkoloniale Ökopoesie von Yuri Vella oder an die psychologische Prosa von Anna Nekargi.

EIGENE ÜBERSETZUNGSPROJEKTE

Da ich mich mit der Literatur bedrohter Völker nicht nur als Literaturwissenschaftlerin auseinandersetze (s. eine meiner jüngsten Monografien: Endangered Literature, 2018), sondern auch als Übersetzerin, Leiterin eines literarischen Übersetzungslabors und Herausgeberin tätig bin, gehe ich im abschließenden Teil dieses Essays kurz auf mein mit Budapest verbundenes Konzept und meine Arbeit als literarische Übersetzerin ein − ich lebe nämlich seit Anfang der 1990er Jahre für kürzere oder längere Zeit in der ungarischen Hauptstadt, in der ich so viele begeisterte Philolog·innen, Dichterkolleg·innen, literarische Übersetzer·innen kennengelernt habe, für die das, was sie tun, nicht nur ein Beruf und eine Arbeit ist, sondern vor allem eine Herzensangelegenheit. Das starke Engagement von Übersetzer·innen wie dem Finnougristen Péter Domokos oder Katalin Nagy hat viele junge Menschen dazu gebracht, sich der literarischen Übersetzung zuzuwenden − dies zeigt sich auch daran, dass an der Herausgabe der 1975 erschienenen, von Péter Domokos zusammengestellten Anthologie Medveének − A keleti finnugor népek irodalmának kistükre (Bärengesang − Auswahl aus der Literatur der ostfinnisch-ugrischen Völker) 18 Übersetzer·innen beteiligt waren, die als die literarischen Koryphäen der damaligen Zeit galten. Ihnen schlossen sich ferner prominente Sprachwissenschaftler·innen, Literaturhistoriker·innen, Ethnograf·innen und die Verfasser·innen der Rohübersetzungen an. Was für eine gemeinsame Anstrengung! 2014 habe ich eine ähnliche, zweibändige Anthologie zeitgenössischer finnischer Schriftsteller·innen (Finnek_?, Finnek_!, Finnen_?, Finnen_!, AmbroBook Verlag) herausgegeben, die aus einem Dutzend Sprachen ausgewählt wurde, mit einem ähnlichen Anteil an literarischen bzw. akademischen Autor·innen und Übersetzer·innen. Ich habe mir so oft geschworen, keine Anthologien mehr herauszugeben, weil es so viel zu koordinieren gibt, ich ertappe mich aber immer wieder bei neuen Projekten.

In den letzten Jahren hat mich besonders die 2019 gemeinsam mit Christine Schlosser und Michael Riessler herausgegebene literarische Anthologie mit dem Titel Worte verschwinden / fliegen zum blauen Licht (ein Zitat von Synnøve Persen) erfreut, die − ganz in der Tradition der deutschen mehrsprachigen Anthologie − nicht nur literarische Übersetzungen, sondern auch Originalwerke in 12 Sprachen enthält. Bei der Erstellung dieses Buches kam mir die Erfahrung mit einer ungarischsprachigen Anthologie aus meiner Kindheit zugute, und zwar die 1984 erschienene, fast 500-seitige ungarischsprachige Sammlung von László Keresztes zur Folklore und Literatur der Sami (Aranylile mondja tavasszal, Der Goldregenpfeifer sagt im Frühling, Europa Verlag).

Über die bereits erwähnte Arbeit hinaus versuche ich im Rahmen vieler weiteren Projekte die samische Literatur in der Übersetzung sichtbarer zu machen, wobei ein Großteil der Projekte engagierte, ehrenamtliche Arbeit ist, wie die Tätigkeit eines meiner übersetzerischen Vorbilder, der bereits erwähnten Katalin Nagy, die um die fünfzig Romane ins Ungarische übersetzt hat. Ein kürzliches Geständnis ihrer Hingabe und Bescheidenheit aus unserer Korrespondenz:

... Ich habe nur das getan, was mein Wissen, mein berufliches Gewissen und meine Umstände zuließen. Ich habe meinen Lebensunterhalt als Linguist verdient, dafür wurde ich bezahlt. Ich habe mich mit großer Demut, Überzeugung und vollem Einsatz, aber „aus Liebe“ mit den uralischen Literaturen beschäftigt. Anstatt akademische Studien zu schreiben, habe ich mich in den Dienst der Literatur, des literarischen Lebens (d. h. nicht nur der Schriftsteller·innen und Dichter·innen) und der Kultur von Völkern gestellt, die eine kleine Bevölkerung haben, keine Staatlichkeit besitzen, oft benachteiligt sind und deren Kultur, Sprache und Leben vielfach bedroht ist. Ich habe denen geholfen, denen ich helfen konnte. Ich habe viele Menschen ermutigt und in ihrem Geist gestärkt. Ich habe mich nie an literarischen Kanons gestört. Ich war ziemlich selbstgerecht, aber ich tat, was ich für richtig und nützlich hielt.

Ich glaube, zur Übersetzung der Literatur kleiner Völker bedarf es genau eines solchen Sendungsbewusstseins. Es geht allerdings um eine äußerst dankbare Aufgabe, denn die ungarischsprachigen und anderen internationalen Übersetzungsbände helfen anscheinend sehr dabei, für die jeweiligen Völker und deren Literatur eine Akzeptanz zu schaffen, was ich auch bei meinen Forschungen zur samischen Literatur erleben konnte. Darüber hinaus wird das Gesamtbild durch den Einsatz des sprachlichen Codewechsels als ästhetisches Mittel bzw. durch die Einbettung mehrsprachiger Texte in die Literatur nur bereichert − zu unseren diesbezüglichen Untersuchungen und virtuellen Treffen laden wir alle herzlichst ein.

06.09.2022
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© Dénes Ráfi

Johanna Domokos (1970) Dichterin, Literaturübersetzerin, Literaturwissenschaftlerin. Geboren in Sovata, Rumänien. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die Semiotik der Übersetzung samischer Poesie. Sie ist Dozentin an der Károli-Gáspár-Universität der Reformierten Kirche in Budapest und an der Universität Bielefeld. Seit Mitte der neunziger Jahre veröffentlicht sie Bände mit eigenen Gedichten und literarischen Übersetzungen. Sie lebt in Deutschland.

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