Das literarische Übersetzen heute. Kapitel eines nicht angeforderten Bildungsromans sowie Gedanken über das literarische Übersetzen in Ungarn und über die aktuelle Lage seines Nachwuchses | Übersetzerischer Nachwuchs
Für Anikó Acsai, meine ehemalige Englischlehrerin
Über die aktuelle Lage des Nachwuchses literarischer Übersetzer in Ungarn muss ich schreiben – doch ich weiß im Moment nicht, was ich darüber sagen soll. Gibt es solch einen Nachwuchs? Von einer ernsthaften Ausbildung weiß ich nichts. Während es für das Übersetzen ungarischer Literatur mit dem Balassi Institut ein Zentrum der Ausbildung gibt, in dem beispielsweise jährlich Fachtagungen organisiert werden, ist das Übersetzen internationaler Literatur mit entsprechendem Unterricht nicht (zumindest nicht hinreichend) institutionalisiert. Es gibt Workshops – teilweise offiziell, teilweise nicht offiziell – und es gibt eine (Teil-) Ausbildung an der Universität, doch ich sehe das so, dass ein literarischer Übersetzer in Ungarn vor allem durch Selbstbildung zustande kommt. Natürlich kann die Universität der Ort institutioneller Übersetzerausbildung sein, doch solange das Übersetzen innerhalb der Fremdsprachenfakultäten geschieht – wenn überhaupt –, nicht aber im Bereich des Kreativen Schreibens, den es in der ungarischen Hochschulausbildung nicht gibt, so werden wir immer wieder damit konfrontiert, dass zum literarischen Übersetzen Sprachkenntnisse allein nicht ausreichen. Hier gilt evident die Alltagsweisheit, dass ein Übersetzer die Zielsprache besser beherrschen muss, doch es geht nicht nur darum. Der literarische Übersetzer muss schöpferisch und kreativ auf die Sprache zugreifen − es ist kein Zufall, dass die großen Übersetzer in Ungarn traditionell fast ausnahmslos selbst auch hervorragende Schriftsteller sind, von János Arany über Ágnes Nemes Nagy bis Mónika Mesterházi und so weiter.
Autodidaktik, Selbstbildung – das sind belastete, schlecht klingende Begriffe. Selbstgefällige Lahmheit, amateurhaftes Herumbasteln, so etwas kommt vielen dabei in den Sinn, weniger, dass man nie auslernt, oder mit dem bildhaften ungarischen Ausdruck: dass ein guter Priester bis zu seinem Tod immer wieder dazulernt. Wir gehen natürlich im Allgemeinen immer von uns selber aus, so kann auch ich nur meine teilweise typische, teilweise untypische Laufbahn zugrunde legen, wenn ich darüber sprechen soll, wie die jetzt Zwanzig- oder Dreißigjährigen anfangen sollen zu übersetzen, wenn sie denn anfangen. Ich selbst bin mit dem literarischen Übersetzen außerhalb institutioneller Ausbildung in Berührung gekommen.
Wenn ich bei Adam und Eva anfangen will, so stehen und standen am Beginn meiner Laufbahn zwei Versprechen, an die ich glaub(t)e: Mein Großvater mütterlicherseits pflegte zu sagen, viele Sprachen erzeugen viele Menschen, und weil ich zu Beginn des Systemwechsels geboren wurde, lag bis etwa 2005 in der Luft (in der familiären Atmosphäre?), dass, wenn ich auf die Universität gehe, sich die Tore zu Kanaan vor mir öffnen würden. Es war also bereits früh eindeutig klar, dass ich Sprachen lernen muss – und das habe ich dann auch getan, denn für die hatte ich gewisse Affinitäten, wenn auch nicht immer den nötigen Fleiß und die Ausdauer. Ich lernte Deutsch, Englisch, für kurze Zeit Italienisch, auch vom Lateinischen und Russischen bekam ich einige Kostproben. Weil ich recht früh meine Sprachprüfungen ablegte und das Abitur vorzog, lernte ich nicht im Schulsystem Englisch, sondern privat. Damals, so glaube ich, war mir nicht klar, konnte mir wohl auch nicht klar sein, wie elementar prägend diese Privatstunden sind. Als ich die Sprachprüfung der Oberstufe anstrebte, schlauchten mich solche mündlichen Themen wie Abtreibung, Euthanasie oder irgendwelche Angelegenheiten der Europäischen Union natürlich schwer. Doch es gab auch einfachere Themen, zum Beispiel die Berufswahl. Die war auch zu Hause in Gesprächen mit meiner Mutter ein wichtiges Thema, doch ich erinnere mich so, dass es mir in einer Englischstunde klar wurde: Wenn ich mich mit Texten und Sprachen beschäftigen will, dann muss ich mich am besten für ein geisteswissenschaftliches Fach entscheiden. Vielleicht hing es mit diesem Gespräch zusammen, dass ich einmal die Aufgabe bekam – die ich im Unterricht auf dem Gymnasium wohl kaum bekommen hätte –, für die folgende Stunde etwas zu übersetzen. Also meine erste Übersetzung, die kaum als Übersetzung gelten darf, das war eine Hausaufgabe, ein Pensum. In den Abgründen meiner Dropbox befindet sich noch immer die sehr schlechte ungarische Übersetzung von Seven Nation Army der Band The White Stripes. Was im Vergleich dazu mehr in Erinnerung geblieben ist, ist die englische Übersetzung des Evergreens Barlangban dobolok („Ich trommle in der Höhle“) der Gruppe Kispál és a Borz. In Erinnerung geblieben, weil ich das genossen habe. Vom Verfassen eines Gedichtes oder den Regeln des Übersetzens hatte ich nicht die geringste Vorstellung – zu der Aufgabe, bei der ich ganz gewiss meine Fähigkeiten des Textverständnisses und der Stilistik zu ermessen hatte, brauchte ich mir über solche Dinge auch nicht klar zu sein –, obwohl ich davon dennoch etwas geahnt haben mag, denn die Länge der Zeilen probierte ich einzuhalten, an manchen Stellen gab ich die Reime wieder, und aus der Entfernung von vierzehn Jahren scheint es mir so, als wenn ich aus reinem Witz öfter ausprobiert hätte, wie der englische Text zum Lied passen könnte. (Er passte so gut wie überhaupt nicht, doch das Ganze war ein spannendes Spiel.) Wenn von hier aus der Weg direkt auf die Gipfel des Parnass der literarischen Übersetzung führt, so bin ich leider nicht auf diesem Weg.
Nach ein paar Jahren wurde ich dann an der Universität Pécs zum Studiengang Ungarisch zugelassen. Im Frühjahr 2010 meldete ich mich ohne jedes Vorwissen, nur aufgrund der Ankündigung des Kurses, für ein Seminar von Viktor Horváth an. Es stellte sich heraus, dass wir dort praktisch Gedichte übersetzen mussten – dabei experimentierte Viktor damit, wie sich Poetik lehren ließe. Daraus entstand dann später seine Arbeit Die Gegenrevolution der Lyrik. Der Kurs beschäftigte sich mehr mit Fragen der Verslehre als mit Übersetzungstheorie, doch auch so eigneten wir uns einige Grundgedanken der Übersetzungslehre an, die für den Kreis um die wichtigste ungarische literarische Zeitschrift des 20. Jahrhunderts, Nyugat („Westen, Abendland“) bzw. danach kennzeichnend war. Die Sache gefiel mir ganz gut, so fertigte ich am Ende nicht nur meine eigene Arbeit an, ein zehn Zeilen langes Gedicht von Yeats, sondern arbeitete dazu noch bei vielen Kommilitonen mit, auf der Grundlage von Rohübersetzungen aus dem Französischen und Spanischen. Wieder also kam ich auf den Geschmack des Spielerischen beim Übersetzen von Gedichten.
Im gleichen Jahr schrieb die Landesbibliothek für Fremdsprachen einen Wettbewerb aus, bei dem es um die Übersetzung des Gedichtes quittenpastete von Jan Wagner ging. Ich nahm teil und sammelte bei dieser Arbeit, wie man so schön sagt, viel Erfahrung. Diese Sache ließ mich nicht wirklich in Ruhe, weil ich selbstbewusst glaubte, dass meine Übersetzung als Ganze zwar ihren Platz nicht behaupten kann, dafür aber einige Einzelheiten und Zeilen besser waren als die der ausgezeichneten Konkurrenten. So werkelte ich auch nach dem Wettbewerb noch weiter an dem Gedicht von Wagner, dazu beschaffte ich mir seine Gedichtbände. Die Lektüre war von dreifachem Nutzen: Erstens gewann ich einen Blick auf seine Poetik, daher konnte ich ihn mutiger und freier übersetzen, weil ich nicht nur wusste, was in ein einzelnes Gedicht hineinpasst, sondern auch, was ein einzelner Zyklus oder seine gesamte Dichtung aushält und in sich aufnehmen kann; zweitens begann ich auch andere Gedichte zu übersetzen, von denen ich als Interpret, als Übersetzer und als Dichter profitierte, ich arbeitete bestimmte Techniken des Übersetzens für mich aus, dazu begann ich, eine Sprache für die Wagner-Gedichte im Ungarischen zu entwickeln. Drittens habe ich natürlich unendlich viel Wissen dazu gewonnen, nicht nur über die Traditionskreise von Dante bis hin zu den zeitgenössischen deutschen Lyrikern, sondern beispielsweise auch über die Techniken der Quittenbrotproduktion, ich gewann Einblicke in die Geheimnisse des Pflanzenbegießens mit Blick auf den Schutz vor dem Frosteinbruch, sah über Landkarten, las von dem Sargasso-Meer, und weil ich mich nun schon einmal in diese Gegend verirrt hatte, las ich auch von dem benachbarten Bermuda-Dreieck, ich studierte Rezepte, fertigte sogar einige selbst an, die mir im Zyklus 18 pasteten begegnet waren. So also nahm ich Kostproben von der außergewöhnlich aufregenden Forschungsarbeit, die mit dem literarischen Übersetzen verbunden ist. Das Vertrautwerden mit der Dichtung von Jan Wagner wurde zu einer intensiven Selbstweiterbildung und führte auch zu dem Prozess, in dem ich langsam feststellte, wie die Ferne zwischen meinem poetischen Geschmack und dem von Wagner immer größer wurde.
Der Zeitraum, den ich hier mit dem Namen Jan Wagner markiert habe, dehnte sich über Jahre aus, meine Publikation von Gedichten in den großen literarischen Zeitschriften Jelenkor und Tiszatáj 2013 und 2014 bildeten den Abschluss. Ich lebte in Pécs, daher ist im Rückblick die gute Beziehung zur Redaktion der dort angesiedelten Zeitschrift Jelenkor leicht nachvollziehbar. Das Ganze hatte so begonnen, dass Dávid Szolláth, einstiger Redakteur der Zeitschrift, 2011 Seminare an der Universität Pécs hielt. Nicht wirklich überraschend, dass er als einer der Neuübersetzer des Ulysses die Übersetzungstheorie zu seinen Interessengebieten machte. Bei Dávid nahm ich an mehreren Kursen teil, die sich mit dem Übersetzen auseinandersetzten. Es gab einen Kurs, der sich mit der schönen Untreue der großen Übersetzer der Zeitschrift Nyugat beschäftigte; einen anderen, wo es mehr um Texte der Übersetzungstheorie ging, mit deren Hilfe wir Gedichte und Übersetzungen interpretierten; es gab auch eine Veranstaltung, in der wir frische Texte der Übersetzungsliteratur lasen, so zum Beispiel eine Neuübersetzung des Werkes Unterwegs von Jack Kerouac auf die frühere ungarische Übersetzung abglichen. Diese Seminare gaben uns in erster Linie geschichtliches und theoretisches Rüstzeug, doch in alle wurden auch praktische Übersetzungsaufgaben eingeschmuggelt (daher fertigten wir zum Beispiel einmal dutzendweise Alternativübersetzungen zu einem Ausschnitt von Unterwegs an), damit wir an den eigenen Übersetzungen Aspekte wirksam werden lassen und die daraus erfolgten Lösungen analysieren konnten. An Lehrstühlen für Fremdsprachen ist es geradezu selbstverständlich, dass es dort übersetzungspraktische Lehrveranstaltungen gibt, nicht aber am Lehrstuhl für die eigene Muttersprache, in diesem Fall also Ungarisch, wo die Schreibübungen sich höchstens auf analytische Textsorten, Studien und Kritiken beziehen. Diese theoretische und praktische Ausbildung war aber für mich nicht nur als Übersetzer und Dichter lehrreich, sondern auch als Kritiker: Mit größerem Selbstvertrauen nahm ich Kritikaufträge zur Weltliteratur, manchmal auch zu Übersetzungen an.
Dávid ermutigte mich dazu, Gedichte zu übersetzen, womit ich dann auch ernsthaft begann. So sehr es aber im Anziehungsfeld der Zeitschrift Jelenkor, die große Übersetzer wie Győző Csorba und Gábor Csordás prägten, evident schien und bis heute scheint, Literatur zu übersetzen, ist mir klar, dass der Weg zum literarischen Übersetzen in anderen Gesellschaften wahrscheinlich viel länger und steiniger gewesen wäre, wenn es einen solchen denn überhaupt gegeben hätte. Meine Neigung zur Lyrik wuchs auch daher, weil am Pécser Lehrstuhl für Ungarisch die Prosa ein derartiges Übergewicht hatte: Während zahlreiche Kollegen sich zum Beispiel mit Miklós Mészöly, Péter Esterházy, Péter Nádas oder Péter Lengyel beschäftigten, galten lyrische Themen als weiße Raben. Und als ich das Übersetzen und im Zusammenhang damit das Erkunden der Tendenzen internationaler Lyrik immer ernsthafter betrieb, ging mir nach und nach auf, wie schwer es ist, besonders die zeitgenössischen Bewegungen mitzuverfolgen. Ich begann, die heute schon als klassisch geltenden Bände mit Lyrikübersetzungen der Reihe Lyra mundi und Napjaink költészete („Dichtung unserer Tage“), die bis zur Wende 1989 in großer Auflage regelmäßig erschienen, sowie Anthologien, also alles, was ich nur finden konnte, wie ein Rasender zu lesen und bei Möglichkeit auch zu kaufen. Doch es wurde immer deutlicher: Nicht nur zeitgenössische Lyrik war in der Übersetzung schwer zu finden, es fehlte auch an frisch übersetzten Büchern überhaupt. Wenn ich auf mein Bücherregal schaue, stehen bei internationaler Lyrik vor allem antiquiarisch erworbene Editionen aus der Zeit vor der Wende. Was internationale Prosa betrifft, möchte ich an dieser Stelle die damals angefangene Reihe Valahol Európában („Irgendwo in Europa“) des L’Harmattan Verlags erwähnen, die auch bemüht war und ist, die Tendenzen der ungarischen und ausländischen Literatur in der Zusammenschau zu verfolgen. Bei meiner literarischen Rundschau versuchte ich, wenigstens meine beiden Hauptsprachen, Englisch und Deutsch im Auge zu behalten, und besorgte einige Anthologien, die repräsentativ und interessant zu sein schienen. Zum Glück halfen mir dabei meine früheren Erfahrungen mit der Dichtung von Jan Wagner, und ich gelangte letztendlich an drei Bände der Reihe Lyrik von Jetzt. Mit dem Englischen hatte ich es einfacher und schwerer zugleich: Ich fand keine vergleichbare Anthologie, die ich hätte kaufen können, online aber bot es sich an, mitten in die amerikanische Lyrik hinein zu springen, und mit etwas mehr Anstrengung glückten auch Einblicke in die britische, irische, kanadische, australische und neuseeländische Literatur − welches Moment die globalisierten Kräfteverhältnisse freilich an den Tag legt.
Das neue Redakteurpaar der Buchserie der Weltliteratur im Attila József Kreis entschied sich 2014, in Richtung Genreliteratur zu gehen, was zugleich bedeutete, dass sich die Möglichkeiten zur Ausgabe von Weltlyrik in Ungarn noch weiter einengten. Das war damals auch in der literarischen Öffentlichkeit ein Gesprächsthema: Viele fanden es problematisch, dass während einige Zeitschriften bereit sind, der literarischen Übersetzung Raum zur Verfügung zu stellen, einzelne Bände oder repräsentative Anthologien sich praktisch nicht mehr verwirklichen lassen. All das war entscheidend dafür, dass Dénes Krusovszky mit einigen Gefährten – András Gerevich, Márió Z. Nemes und Marcell Szabó bzw. mit der technischen Hilfe von András Gergely Pálffy – ohne finanzielle Unterstützung im Dezember 2014 die Online-Zeitschrift Versum zustande brachte. Diese Gruppe um Dénes rechnete von Anfang an mit mir als Übersetzer. Damals beschäftigte mich vor allem die amerikanische Lyrik, die in Ungarn trotz der globalisierten Tendenzen des Buchmarktes auf eigenartige Weise noch eine terra incognita zu sein schien – und bis auf den heutigen Tag fehlen in der ungarischen Übersetzungsliteratur amerikanische Klassiker, seien es komplette Bücher oder eben nur Einzelgedichte. (Daher war zum Beispiel der Nobelpreis 2020 an Louise Glück eine große Überraschung hierzulande, denn von ihr gab es damals nur wenige Gedichte in ungarischer Übersetzung, und auch die verteilten sich über mehrere Zeitschriften.)
Die Gründung des Portals Versum staltete die Lage der Lyrikübersetzung und ihre Tendenzen um. Vielleicht auch dadurch beeinflusst, dass 2016 nach dem Tode von Chefredakteurin Anikó Fázsy die Zeitschrift Nagyvilág, die einzige Zeitschrift für Weltliteratur, die seit 1956 existiert hatte, offiziell zwar nicht eingestellt wurde, sich aber bis heute in einem scheintoten Zustand befindet. Dank dem Online-Format wurden bei Versum Inhalte leicht zugänglich, es erschienen oft mehrere Gedichte pro Woche, und wenn die Redakteure ausreichende Kapazitäten hatten, wurden auch Sekundärtexte veröffentlicht: Essays, Interviews, Videomaterialien zu Lyrik mit Kommentaren. Die Redaktion konnte anhand ihrer ausgeprägten Kontakte erfahrene Übersetzer ansprechen und allmählich auch junge Lyriker für sich gewinnen, die teilweise dank Versum zu übersetzen begannen (welche Auswirkung dies hatte, darauf komme ich später noch einmal zurück). Es gab keine konkrete Ursache dafür, dass ich mich von der deutschsprachigen Lyrik entfernte, doch es gab zwei Gründe, weshalb es mir nicht schwerfiel, amerikanische Lyrik zu übersetzen: Es war ein Selbstläufer; die Werke der amerikanischen Lyrik des letzten ca. halben Jahrhunderts waren kaum übersetzt worden, dadurch war es einfach, Gedichte zu finden, die etwas Neues zeigten, zugleich lagen die meisten Werke poetisch gesehen sowohl mir als auch der aktuellen Sprache der Lyrik näher. Also schickte ich der Redaktion vor allem Gedichte amerikanischer Lyriker zu.
In den Jahren 2015 bis 2016 kam es zu neuen Werkstatterlebnissen: Ich führte einen Briefwechsel mit Dénes Krusovszky zu übersetzten Texten aus dem Englischen und mit Márió Z. Nemes zu Texten aus dem Deutschen. Voller Enthusiasmus übersetzte ich Gedichte unter anderem von W. S. Merwin, James Tate, Dean Young, Saeed Jones und Lars Reyer, und zwar in einem Umfang, der es mir – ähnlich wie bei Wagner – ermöglichte, nicht nur auf die einzelnen Gedichte, sondern auch allgemein auf die poetische Sprache und die größeren poetischen Tendenzen der Lyriker zu achten. (Wenn ich im Nachhinein an den großen Strauß an Gedichten denke, welchen ich der Redaktion zusandte, muss ich feststellen, dass ich wohl auch mal zur Übertreibung neigte.) Dénes und ich hatten eine bewährte Methode: Er schickte mir nachts die redigierten Übersetzungen zu, die ich früh am Morgen bearbeitete und ihm dann wieder zurückschickte.
Vermutlich war es meinem Enthusiasmus zu verdanken, dass 2016, als András Gerevich wegen anderer Verpflichtungen seine Redaktionsarbeit bei Versum beendete, ich als sein Nachfolger ausgesucht wurde. Da Versum auf gemeinnütziger Basis funktioniert und leider weder die Redakteure noch die Übersetzer Honorare für ihre Arbeit bekommen, ist es leicht möglich zu ermüden, vor allem, wenn man sich zugleich auch in anderen Bereichen des Lebens, bei der Arbeit, an der Universität oder in der Familie behaupten muss. Als ich der Redaktion beitrat, landete ich in einem Wellental, das sich weiter vertiefte, weil unsere Webseite gehackt wurde und der Anbieter gewechselt werden musste. 2017 gab es Perioden, wo ich alleine „die Front hielt“, und andere Zeiten, wo ich zusammen mit Bálint Urbán (der vor mir, 2015 der Redaktion beigetreten war) arbeitete. Es war eine merkwürdige Zeit, nicht immer motivierend. Die Zeitschrift verlor an Tempo, manchmal ist es uns nicht einmal gelungen, ein Gedicht pro Woche zu publizieren. Dann wurde ich zusätzlich mit Herausforderungen konfrontiert, weil ich rumänische, norwegische oder eben polnische Übersetzungen redigieren musste, wozu längere Briefwechsel oder sogar die Erforschung der englischen oder deutschen Übersetzungen der Texte notwendig waren. Am Ende hatte ich dennoch immer das Gefühl, dass es sich gelohnt hat. Nicht nur, dass ich spannende Texte kennenlernen durfte, sondern die konkrete Herausforderung, dass ich die Ausgangstexte nicht kannte, hat mir paradoxerweise geholfen. (Dies mag bei einigen Übersetzern und Redakteuren für Empörung sorgen, vor allem, wenn sie in Werkstätten sozialisiert wurden, wo das Geld für die Beauftragung von Fachleuten mit entsprechenden Kompetenzen zur Verfügung steht.) Dadurch bekam es eine größere Bedeutung denn je zuvor, dass die Texte auch auf Ungarisch funktionieren müssen. Die vertiefte Interpretation wurde noch wichtiger, und um redaktionelle Fragen und Anregungen zu definieren, war es wichtig zu sehen und zu erkunden, welche Möglichkeiten sich ergaben. Auch in meiner Arbeit als Übersetzer habe ich mich von dem krampfhaften Festhalten an das Original abgewandt – was natürlich als eine Annäherung an die Übersetzungspraxis oder das Übersetzungsprinzip der schönen Untreue betrachtet werden kann –, und doch scheint dies notwendig zu sein, wenn man echte literarische Übersetzung und keine sklavenhafte Ungarisierung betreiben möchte. (Dieser Einfluss machte sich auch in meiner dichterischen Arbeit bemerkbar: Die Aufmerksamkeit für die Wortfolge, die Wortwahl und für die sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Das Unmögliche in der literarischen Übersetzung, das ewig Unvollendete und die daraus resultierenden augenblicklichen Erfolgs- und permanenten Misserfolgserlebnisse, die Erfahrung der Biegsamkeit und Unbiegsamkeit der Sprache während der Übersetzungstätigkeit formte und formt auch die Auffassung meiner eigenen Lyrik.)
Zum Glück ist es uns 2018 gelungen, die Redaktion des Versum aufzufrischen. Erst wurde ich verantwortlicher Redakteur, später Chefredakteur. Dénes und Bálint sind geblieben, die anderen unterstützen uns wie ein Redaktionsgremium aus dem Hintergrund. Unsere erfahrenen Übersetzer Máté Bordás, Eszter Kállay, Tamás Sipos und Ádám Vajna haben wir aufgefordert, als neue Redakteure mitzuwirken. Später hat Diána Vonnák die Rolle von Kállay übernommen und vor kurzer Zeit ist auch Ferenc André unserem Team beigetreten. Als Folge hat sich die Sprachvielfalt der Redaktion erweitert: Aktuell arbeiten Redakteure an der Zeitschrift, die die englische, deutsche, portugiesische (und bei Bedarf spanische, italienische, französische), polnische, norwegische (manchmal auch dänische und schwedische), ukrainische (und russische), rumänische Sprache sprechen oder zumindest lesen können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die einzelnen Redakteure nur diejenigen Texte lesen, die zu ihren Fremdsprachen gehören – die Redaktion arbeitet wie eine Werkstatt, wo der Redaktionsprozess gemeinschaftlich stattfindet, je nach freier Zeit wird jeder Text mindestens zu zweit oder zu dritt bearbeitet. In die Werkstattarbeit werden die Übersetzer selbstverständlich auch mit einbezogen.
Mittlerweile hat Dénes eine Buchreihe gestartet: Mit Hilfe des Magvető Verlags ist jeweils ein Band von W. G. Sebald, Al Berto, Anne Carson, Frank O’Hara, und später in Zusammenarbeit mit dem Verlag 21. Század jeweils ein Band von John Ashbery, Tor Ulven und Anne Sexton erschienen. Die Redaktion hat auch mehrere Projekte umgesetzt: Als Donald Hall, ein Doyen der amerikanischen Lyrik, gestorben ist, haben wir mehrere seiner wichtigen Gedichte übersetzt. Ähnlich gingen wir vor, als W. S. Merwin gestorben ist. Später haben wir eine ökopoetische Sammlung veröffentlicht (diese wurde vor kurzem vom Prae Verlag in Form einer Anthologie herausgegeben), aber auch eine Sammlung feministischer und LGBTQ+ Lyrik haben wir zusammengestellt. Geplant sind u. a. Sammlungen mit irischem, französischem und neuseeländischem Fokus.
Ich muss kurz auf das Jahr 2017 zurückkommen, als das unabhängige Netz von Mentoren (Független Mentorhálózat, kurz FM) gegründet wurde. Diese Initiative war nach eigener Absicht keine Gegeninstitution, dennoch mag es sein, dass ihre Gründung mit dem vollzogenen staatlich-politischen Übergriff im Kulturbereich in Zusammenhang stand. In der Tat wurden dadurch diejenigen informellen Werkstätten sichtbar gemacht, welche hinter den Kulissen der Literatur schon immer tätig waren. Es gab stets Beispiele dafür, dass jüngere Autoren andere Autoren mit mehr Erfahrung aufsuchten, um sich beraten zu lassen – auch wenn sich viele davor fürchten, weil es ihnen als eine Aufdringlichkeit erscheint. Genau diese etwaigen Hemmungen hat FM ausgeklammert. Zu dieser Zeit habe ich angefangen, mit András Imreh zusammenzuarbeiten, explizit als literarischer Übersetzer, weil ich das Gefühl hatte, dass ich mit seiner Hilfe aus der amerikanischen Dominanz, in die ich mich hineinmanövriert hatte, herausblicken kann und mich gleichzeitig im Geiste eines Übersetzungsprinzips, in dem ich unerfahren bin, weiterentwickeln kann. Tatsächlich habe ich mit András vor allem irische und britische formgebundene Gedichte übersetzt, und ich konnte mir poetische Kenntnisse über den Betonungswechsel in der englischsprachigen Poesie und ihrer Übersetzung aneignen. Auch bei mir meldeten sich zwei junge Lyriker, neben der Arbeit an ihren eigenen Gedichten habe ich den beiden auch Übersetzungsaufgaben zugeteilt. Einerseits weil sie sich dafür interessierten, andererseits, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass sie mit ihren eigenen Texten sehr stark voreingenommen waren und es bei der Überarbeitung ihrer Übersetzungen wesentlich einfacher war, Textarbeit zu üben, welche sie dann später auch bei ihren eigenen Texten anwenden können. Einer von den beiden war Máté Bordás, den ich bereits erwähnte, der praktisch auf diese Weise angefangen hat zu übersetzen und später zum Versum-Redakteur wurde.
Noch etwas zu den Werkstätten. Versum spielte zwar eine Rolle darin, dass der Lage der Lyrikübersetzung in Ungarn im letzten Jahrzehnt eine größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dennoch ist es lohnenswert, auch andere Kontexte zu schildern. Wie oben bereits angesprochen, baut das ungarische Übersetzungsprinzip auf Ideen aus dem Umfeld der Zeitschrift Nyugat, welche am Anfang des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet wurden und gegebenenfalls auch auf Kosten der inhaltlichen Treue stark formzentriert waren. Die Übersetzer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zwar immer mehr ein Gegengewicht gebildet, dennoch hat sich die Basis und der Ausgangspunkt nicht geändert, und das konnte sich wegen der Kanonisierung der einzelnen Übersetzungsleistungen auch gar nicht ändern. Trotzdem ist in den letzten fünfzehn-zwanzig Jahren genau dieser formzentrierte Ansatz aus der Sprache der Poesie verschwunden. Man kann generell fast behaupten, dass die zeitgenössische ungarische Dichtung Lyrik in freier Form ist. Ein anderer Kontext der letzten Jahre wird vom Übersetzer Ádám Nádasdy geprägt, der regelmäßig Workshops leitet und in Zusammenhang mit Shakespeare- und Dante-Übersetzungen (bzw. auch in Bezug auf die Übersetzung von Verlaines Herbstlied) im Gegensatz zur Formtreue die inhaltliche Treue propagiert. Nádasdys Positionen halte ich in Theorie und – in Bezug auf die Nyugat-Tradition – historisch für wichtig und bedenkenswert, bei größeren Kompositionen sogar für eine annehmbare Praxis, nach meinem Empfinden ergibt diese Praxis bei einzelnen Gedichten jedoch ernsthafte poetische Defizite. Ich habe nicht die Absicht, hier eine Streitschrift zu publizieren, aber ich muss erwähnen, dass es bei Versum durchaus Beispiele dafür gab, dass ich – da ich ungern auf die Mittel der formalen Dimension der Poesie verzichte – mit einem Übersetzer in eine Diskussion geraten bin, der das Gedicht frei übersetzt und dabei die Anzahl der Zeilen, die eventuellen Reime und Alliterationen usw. außer Acht gelassen hatte und dann als abschließendes Argument mit dem Namen Nádasdy herausrückte. Dies halte ich vor allem deshalb für schwierig, weil die jungen Leute, welche die Workshops besuchen, sich dieses – meiner Meinung nach nur optional anwendbare Übersetzungsprinzip – eventuell so aneignen, dass sie dabei gar nicht über die notwendigen übersetzungstheoretischen und poetischen Kenntnisse verfügen. Dadurch werden sie die Formzentriertheit nicht kritisch betrachten, sondern wird Nádasdys formfreies Prinzip alleingültig, was genauso problematisch ist wie die Alleingültigkeit des Prinzips der „schönen Untreue“, bei der eine fast in die Umdichtung umschlagende Konkurrenz mit dem Original vonstattengeht.
Am Anfang meiner Ausführungen habe ich die Frage gestellt, ob es übersetzerischen Nachwuchs gibt. Den gibt es – meist aus eigener Kraft, aus dem Underground. Nach meiner Ansicht sieht der Weg der sich bei Versum vorstellenden Übersetzer ähnlich aus wie mein eigener. Die wichtigste Schule ist die Selbstbildung: die individuelle und gemeinsame Werkstattarbeit und das Sich-Informieren. Es gibt natürlich auch formale Möglichkeiten: Universitätskurse, manchmal ganze Ausbildungen, Workshops, welche von Schriftstellerverbänden oder Zeitschriften organisiert werden. Meist ist es eine Frage der Möglichkeiten und des Glücks, ob jemand nur eine Kostprobe bekommt oder tiefer in die Materie eintaucht. Größtenteils sehe ich jedoch, dass diejenigen jungen Autoren zu übersetzen beginnen, die das Alarmklingeln gehört haben, dass nämlich die Übersetzung der internationalen Lyrik hierzulande in den letzten Jahrzehnten in eine unwürdige Situation geraten ist. Es kann aber auch sein, dass sie sich einfach weiter vertiefen und ihre Lyrik mit neuen Mustern bereichern möchten, oder vielleicht begegnen sie einem Gedicht, das sie nicht unübersetzt liegen lassen können. Diese jungen Übersetzer nutzen je nach Habitus und Umfeld die Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen. Es kommt seltener vor und ist eher für die „kleineren“, „exotischen“ Sprachen charakteristisch, dass die Übersetzer einem Lehrstuhl für Sprache zugehörig sind und über literarische Ambitionen nicht unbedingt verfügen, von ihren Sprachkenntnissen allerdings Nutzen ziehen – und das tun sie gut. Daraus, dass von den Fremdsprachen heutzutage allgemein die englische gewählt wird, ergibt sich ein anglophones und vor allem amerikanisches Übergewicht, das aus vielerlei Hinsicht nicht optimal ist. Wenn ich mir das Ganze unter dem Aspekt anschaue, dass wir vor sechs bis acht Jahren, zu Beginn von Versum noch darüber gesprochen haben, dass sich die ungarische Lyrik einsperren wird, falls wir nicht zu übersetzen beginnen, falls wir mit den internationalen Tendenzen nicht in einen Dialog treten – dann bin ich zuversichtlich. Über die Bestrebungen der jüngsten Dichtergeneration (z. B. Krisztián Bíró, Balázs Bocsik, Mónika Ferencz, Örs Székely, Kamilla Vida, Anna Zilahi usw.) kann man kaum noch sprechen, ohne auch die internationalen Parallelen zu erwähnen (z. B. Jones Saeed, Ocean Vuong, die deutsche Lyrik des Anthropozäns oder allgemein die feministischen Bestrebungen). Es wird auch immer üblicher, dass junge ungarische Dichter aus der Vojvodina, aus Siebenbürgen oder der Slowakei anfangen, ihre serbischen, rumänischen und slowakischen Zeitgenossen zu übersetzen, wie das vor einigen Jahrzehnten noch gang und gäbe war, es allerdings für eine längere Weile so schien, dass diese Tradition nicht fortgeführt wird. Ähnlich wird es im Zusammenhang mit den Texten der Vertreter der jungen mittleren Generation (z. B. András Bajtai, Kornélia Deres, Dénes Krusovszky, Márta Júlia Nagy, Márton Simon, Mátyás Sirokai, Péter Závada usw.) immer selbstverständlicher, dass die Kritik neben der Einordnung in heimische poetische Traditionen auch auf die internationalen Parallelen achtet. Dass man den internationalen Transfer auch im Literaturbereich nicht vernachlässigen kann, zeigt sich daran, dass die u. a. über Künstlerresidenzen, Übersetzungsförderungen und internationale Stipendien disponierende, staatlich hochdotierte Kulturagentur Petőfi und das dazu gehörige Online-Magazin für Weltliteratur 1749.hu – welches vor Kurzem eine Buchreihe startete – gegründet wurden. Es wäre jedoch viel zu voreilig darüber eine Bilanz zu ziehen, welche Vor- und Nachteile die ungarische Übersetzungsliteratur durch diese Zunahme staatlichen Einflusses erfährt.
Zu guter Letzt: Den Titel meines Schreibens habe ich einem Sammelband aus dem Jahre 1981 entliehen, in dem die bedeutsamsten ungarischen Übersetzer und Redakteure der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Studien, Werkstattessays und Gedanken zur literarischen Übersetzung veröffentlicht haben. Natürlich wurden seitdem etliche Arbeiten zur Übersetzungstheorie bzw. Werkstattessays von Übersetzern publiziert, dennoch geht es mir durch den Kopf, wie gut es doch wäre, jetzt, vierzig Jahre später eine kritische Rückschau zu halten. Es wäre doch wunderbar, wenn man nicht (nur) aus diesen Ausführungen und aus Beiträgen anderer beauftragter literarischer Übersetzer, sondern aus mehreren Dutzend Texten ableiten könnte, in welcher Lage sich die literarische Übersetzung in Ungarn heutzutage befindet. Natürlich müssten vorerst Lyrikübersetzungen auf dem Buchmarkt in größerer Zahl erscheinen bzw. erscheinen können. Das wäre nicht nur wichtig, um „nicht ahnungslos zu sterben“, sondern auch, weil die Übersetzung ganzer Gedichtbände die nächste Entwicklungsstation junger literarischer Übersetzer sein könnte.