Cities of translators Minsk Meine Stadt ohne Meer
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Meine Stadt ohne Meer

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Das Theater war deutlich früher ein Teil meines Lebens als das Übersetzen und vielleicht würde es ohne das Theater auch keine Übersetzungen geben. Es ist für mich die schönste und faszinierendste Sache überhaupt, ja unheimlich, die Augen zu öffnen und zu sehen, wie das übersetzte Wort auf der Bühne Gestalt annimmt und auf den Werbetafeln und Spielplanaushängen zu einem Teil des Stadtlebens wird. Die Namen von Kollegen zu suchen und neue zu entdecken. Heute legt sich die Landkarte der Übersetzungen über die Karte der Fluchten und Verstecke des letzten Jahres, des Wartens auf künftige Begegnungen und neue gemeinsame Projekte. In meiner Stadt gibt es kein Meer, aber auf meiner Landkarte suche ich es ständig.

Mein übersetzerisches theatrales Minsk ist recht weitläufig: Vom Nationalen Akademischen Janka-Kupala-Theater, wo 2004 alles begann, hin zum Belarus Free Theatre, zu dem man von der Kaufhalle Asarenne [Erleuchtung] auf verschlungenen Wegen durch eine Einfamilienhaussiedlung kommt, bis hin zu den Livestreams unserer neuen Zeit. Ins Kupala-Theater hatte mich in der achten Klasse mal eine Freundin mitgenommen. Wir wollten uns die Inszenierung Tutejschyja [Die von hier] ansehen, die in ganz Belarus Kultstatus hatte, aber irgendetwas war schiefgelaufen und wir sahen stattdessen die Idylle, ein Stück von Vinzent Dunin-Marzinkewitsch. Es war ein Zauber! Ich habe dann noch zahlreiche altertümliche, wichtige, ungewöhnliche Inszenierungen gesehen. Nicht einmal im Traum hätte ich daran gedacht, im Kupala-Theater zu arbeiten – schon allein der Gedanke daran hätte mir Angst gemacht. Dafür schrieb ich zwei Magisterarbeiten und begann, aus dem Polnischen zu übersetzen. Und dann verkuppelten mich Bekannte von Bekannten mit der Dramaturgieabteilung. Ich weiß noch, wie die Chefdramaturgin, die zauberhafte Wolha Babkowa (jetzt weiß ich, dass ein Blick von ihr Wunden heilen kann) mich mit dem künstlerischen Leiter des Theaters Mikalaj Pinihin bekanntmachte. Ich wollte ihm unbedingt die Hand drücken, aber er hatte sich gerade die Hand gebrochen. Und ich weiß noch, wie der Ensembleleiter Mischa Maeu den Flur entlanglief, und das war eine Zeile aus sehr alten Programmheften: „Inspizienz: Neli Samonawa und Michal Maeu.“ Es gab ihn wirklich! Und dann stellte sich heraus, dass im Theater alles wirklich war. Und dass man sogar ein Stück in die Trasjanka übersetzen und während der Proben den Text bearbeiten kann.

In die Trasjanka habe ich Gogols Revisor für die Inszenierung von Mikalaj Pinihin am Kupala-Theater und Wampilows Entenjagd für die Inszenierung von Stas Zhyrkov am Theater der belarusischen Dramatik übersetzt. Für mich ist Trasjanka in erster Linie ein Bahnhof. Eine Verkörperung des tragischen Bruchs zwischen kulturellen Hintergründen, den Wurzeln der Belarussen und dem, was ihnen künstlich als exklusiv und erstklassig vorgegeben wurde. Die Urbanisierung holte und holt unsere Vorfahren in die Städte, verwischt die Erinnerungen und ruft sie in eine neue Zukunft.

Foto: © Max Korostelyov

Der Regisseur Mikalaj Pinihin hatte den Ort der Handlung verlegt – unser Revisor begann in einem Badehaus und ganz in der Nähe, wo ich wohne, wurde gerade ein Badehaus renoviert. Einmal schienen mir die Männer, die dort mit ihren Birkenruten herauskamen, wie die Teilnehmer einer geheimen Beamtenversammlung. Und Wampilows Figuren verbringen die Abende in Zhyrkovs Inszenierung in der Brauerei Freunde, die ich von meinem Fenster aus sehen kann. Weil die Welt klein ist. Die Welt hilft dabei, sich selbst zu übersetzen.

Foto: © Max Korostelyov

Das erste Stück, das ich übersetzt habe, war Streichhölzer von Kanstanzin Szeschyk – eine Geschichte aus einem gewöhnlichen Minsker Plattenbauviertel. Mein Bezirk scheint Szeschyks geliebtem Serabranka nicht gerade zu ähneln, aber nur, solange man sich nicht in sein Dickicht begibt. Das Zentrum meines Bezirks ist der Schornstein des Heizkraftwerks, ich nenne diesen Schornstein Leuchtturm Henads und mich die Leuchtturmwärterin. Das Leben fließt langsam um meinen Leuchtturm: Auf den Bänken vor den Hauseingängen wird immer weniger gesungen (was für das Stück übersetzt werden musste) und die Aufschriften auf den Betonwänden wurden schon dutzende Male überpinselt. Aber aus genau solchen alltäglichen Scherben der Realität entsteht ein mystisches Bild menschlichen Lebens – wie die zauberhaften und ewig unvollendeten Märchen über Szeschyks Wolfsmenschen. Und unser Leuchtturm Henads leuchtet nachts mit seinen roten Augen und leitet die verirrten Schiffe von Kamarouski und Staraschouski auf ihrem Weg nach Bangalore (ja, Minsk hat ein eigenes Bangalore – es ist ein Platz).

Foto: © Max Korostelyov

Auf meinem Balkon hängt ein Plakat der israelischen Fluggesellschaft und blickt auf Henads: Darauf reist der biblische Jonas sicher im Bauch eines riesigen Wals. Er ist schon lange dort auf dem Balkon, aber jetzt ist er für mich fest mit Jonas Stern verbunden – einem polnischen Avantgardekünstler jüdischer Herkunft, großer Freund der Fische, für die er Platz auf seinen Collagen fand. Sterns Geschichte wird in einem Stück von Beniamin Bukowski von seinen vier schwarzen Katzen erzählt.

Der fischreichste Platz in der Nähe unseres Leuchtturms ist der Kamarouski-Markt, voller Stimmen, Gerüche und Rituale. Meist gehe ich dorthin über die Kebab-Meile – einen kurzen Abschnitt der Kulman-Straße, wo alles nach Fastfood in all seinen Facetten riecht. Die besten Tipps zum leckersten Kebab auf der Meile ändern sich von Woche zu Woche, die alten usbekischen Plow-Kiosks verwandeln sich, aus einem Pilzmyzel wachsen Fensterchen: „Handyreparaturen“. Wenn man das Zubehör- und Reparaturtal durchquert hat, kommen die Höhlen mit gefrorenem und gekühltem Fisch, ich kaufe gewöhnlich bei den Händlern, die mir mein Vater empfohlen hat, und etwas weiter rechts ist schon mein Lieblingsort – Obst, Gemüse und Blumen von kleinen Privathöfen. Auf dem Kamarouski-Markt duftet einfach alles – die Möhrenbündel, die Tomatenrispen, die Rübenkugeln. Und das Licht ist dort auch ganz besonders.

Als ich im Theater gearbeitet habe, saß ich am liebsten abends ganz oben im fünften Stock (unserem Dramaturgie-Dachboden), wenn das Licht langsam ins Bläuliche überging. Irgendwo da unten läuft die Vorstellung und das Theater unter dir ist ein großes zottiges Tier oder ein riesiges Schiff. Und du bist ein kleiner Floh. Oder der Schiffsjunge im Mastkorb. Und die Wellen schaukeln dich sanft. Und das Fell des Tieres ist warm und strubbelig. So wird aus meiner Stadt ohne Meer ein großer Hafen.

Auf die Werft unseres Theaters kamen die Schiffe der verschiedensten Übersetzer und das ist die große Freude des Berufs: Kollegen am Ufer zu begrüßen, sich auf die ewige Diskussion einzulassen, was wichtiger ist – Text oder Regiekonzept; Inszenierungen wie Ozeanriesen zu bauen, Traditionen weiterzuführen. Einer der bekanntesten Leiter des Dramaturgie-Dachbodens (der damals noch nicht direkt unter dem Dach lag), war Jurka Hauruk, der Shakespeare, Moliere und Hemingway ins Belarusische übersetzt hat, für mehr als zwanzig Jahre aus Belarus verbannt war und während des Tauwetters rehabilitiert wurde. Für das Theater übersetzten auch Uladsimir Dubouka, Artur Wolski, Michas Stralzou, Ryhor Baradulin, Henads Buraukin, Uladsimir Njakljaeu, Uladsimir Arlou, Ales Astaschonak, Leanid Dranko-Majsjuk, Natallja Russezkaja, Andrej Chadanowitsch und viele andere, die ich jetzt meine Freunde nennen darf.

Natürlich muss man sich im Hafen auch auf die Suche nach einer gemütlichen Bar machen. Martin McDonaghs Stück Die Henker spielt in einem Pub. Ich wusste, dass das eine Inszenierung für die große Bühne wird, aber meine Freunde und ich hatten viel Spaß, auf verschiedenen Routen durch Minsk nach einer Bar mit der passenden Atmosphäre und Umgebung zu suchen, wohin man die Inszenierung verlegen könnte. Von Rakauskae pradmesze nach Werchni horad und wieder nach unten, in Richtung Kamarouka, wo Henads leuchtet. Die Idee, das Stück an einen konkreten Ort anzupassen, ist immer noch lebendig. Für den Fall habe ich eine fertige Übersetzung und eine passende Bar.

Eine Sternchenaufgabe auf der Übersetzungslandkarte ist es, das Belarus Free Theatre zu finden. Das Theater hat sich in einem Haus in einer Einfamilienhaussiedlung eingemietet, neue Zuschauer werden meist von einem Ensemblemitglied dorthin geführt. Für mich als Übersetzerin öffnete sich hier ein Fenster nach Island beziehungsweise ein direkter Kanal, um bei der Meeresmetaphorik zu bleiben. Das Islandbild, das Jurka Dsiwakou mit seiner Inszenierung von Marta Sokołowskas postdokumentarischem Stück Reykjavik 74 schafft, hat wenig mit dem zu tun, was wir über dieses Land wissen, aber inmitten von Stille und Schweigen ist es ein Ausbruch von Liebe zur Sache, Aufmerksamkeit für den Text und echtem Drive.

Durch meine Hafenstadt laufen weiße Flecken, das salzige Meer verwischt die Ränder der Landkarte, im Äther sind Störungen zu hören. Aber der Äther schweigt nicht – die Punkte auf der Landkarte sind jetzt die Modems, denn das belarusische Theater und die belarusischen Übersetzungen erreichen die Menschen übers Internet und die Stimmen aus verschiedenen Ländern begegnen sich online. Ich glaube daran, dass alle großen Schiffe hierher zurückkehren und für sie hunderte zuverlässige Henads-Leuchttürme leuchten werden. Dass aus den Rettungsringen neue Märchen wachsen. Dass neue Übersetzungen Anker werfen und Standortsignale in die ganze Welt aussenden. Und die Landkarte wird erweitert. Breitet sich in alle Richtungen aus.

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Maryja Puschkina, geboren 1988 in Minsk, machte ihren Masterabschluss mit dem Schwerpunkt Internationale Literaturen an der Philologischen Fakultät der Belarusischen Staatlichen Universität und einen Master an der Fakultät für Polonistik der Universität Warschau. Sie übersetzt aus dem Polnischen, Englischen, Ukrainischen, Tschechischen und Russischen. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören Czeslaw Milosz, Andrzej Stasiuk, Stanislaw Lem, Andrzej Franaszek, Sergiusz Piasecki, Małgorzata Szejnert, Jarosław Grzędowicz, Justyna Bargielska, Josef Čapek, Adalsteinn Ásberg Sigurðsson, Martin McDonagh, Nikolai Gogol, Kanstanzin Szeschyk und andere. Bis 2020 arbeitete sie in der Dramaturgie des Kupala-Theaters. Sie arbeitet mit zahlreichen belarusischen und polnischen Theatern zusammen. Ausgezeichnet mit dem Preis des polnischen Autorenverbandes ZAiKS. Liebt Leuchttürme, blau-rosa Donuts, schwimmen und wenn die Skier für neue Abenteuer eingepackt sind.

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