Cities of translators Minsk Über meine Erfahrung mit Übersetzung-als-Prozess im zeitgenössischen Theater
by de

Über meine Erfahrung mit Übersetzung-als-Prozess im zeitgenössischen Theater

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte von www.youtube.com angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. TOLEDO hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Antanina Slobodchikova: Über-setzern: перакладчыца з мяне
Über-setzen: a translator from myself
Kurzfilm, 2019

Dieser Essay ist auf der Grundlage persönlicher beruflicher Erfahrungen geschrieben – als Regisseurin und Forscherin, obwohl ich die beiden Bereiche in meiner Arbeit nicht trenne. Vielmehr geht das eine aus dem anderen hervor und wird je nach den Gegebenheiten und den zur Verfügung stehenden Medien verwirklicht. In Bezug auf einige Funktionen des Übersetzens im Kontext des zeitgenössischen Theaters interessiere ich mich für seinen prozessualen Charakter und die Dimensionen, die sich aus diesem Prozess ergeben. In meinen Überlegungen gehe ich von einem Verständnis von Übersetzung in einem breiteren Kontext aus – als einem zentralen Konzept der modernen Kulturwissenschaften, wenn es nicht um Übersetzung vom einen zum anderen oder dazwischen geht. Der Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick zufolge ist dieser Prozess gekennzeichnet durch „Deplatzierung und Verfremdung“, „Differenzbildung und Vermittlung“, „Gestaltungsräume von Beziehungen, von Situationen, ‚Identitäten‘ und Interaktionen“ 1.

Bachmann-Medick merkt an, dass Übersetzung und Übersetzungsgeschichte nicht außerhalb der Kolonialgeschichte betrachtet werden könne, da das Zusammenspiel der Kulturen auf permanent asymmetrische Beziehungen zurückgehe – das Streben nach Dominanz. Aus dieser Perspektive möchte ich unter Berücksichtigung einiger Aspekte des Übersetzens als Prozess im Theaterraum (in erster Linie als Verschiebung von einem semantischen Feld zum anderen) darüber nachdenken, wie eine solche Unterordnung im Theater stattfindet und wie diese Spannung – durch Übersetzung-als-Prozess – überwunden und ihr emanzipatorisches Potenzial entdeckt werden könnte.

 

eine Übersetzerin finden

 

Meine bewusste Begegnung mit dem Übersetzen fand 2010 statt, als ich als Regisseurin eingeladen war, im Rahmen des deutsch-belarusischen Theatertreffens Ponton, organisiert vom Goethe-Institut Minsk, eine szenische Lesung eines deutschsprachigen Theaterstücks nach Wahl einzurichten. Nachdem ich alle Stücke, die in der Anthologie SCHAG in russischer Übersetzung publiziert waren, gelesen hatte, entschied ich mich für Dea Lohers Text Das Leben auf der Praça Roosevelt, den Iryna Herasimovich aus dem Original ins Belarusische übersetzen sollte. Bei der Auswahl machte ich mir weniger Gedanken über die Sprache, obwohl mich die für einen Dramentext ungewöhnliche Erzählweise zweifellos sehr berührte – fast ausschließlich als Rezitativ, aufgebaut auf Wiederholungen und Bildern. Aber in erster Linie faszinierte mich die Handlung – sich kreuzende Schicksale von Menschen, die aus verschiedenen Gründen am Rande der Gesellschaft gelandet sind. Das von Schmerz erfüllte Stück bildet einen sehr fragilen Sinn- und Gefühlsraum, der mich vor die Aufgabe stellte, Mittel für die szenische Umsetzung dieser Bilder (Deplatzierung), also eine Verkörperung des Textes in körperlicher, räumlicher und zeitlicher Dimension zu finden.

Als ich die belarusische Übersetzung bekam, machte ich eine angenehme Entdeckung: Der belarusische Text klang schärfer, brutaler, stellenweise sogar gewalttätig. Es war ein nackter Text, der sich seiner Nacktheit nicht schämte. Die Sprache selbst wurde zum Material – das Wie wichtiger als das Was. In diesem Fall ging es nicht nur darum, von einem semantischen Feld (Inhalt) in ein anderes (szenische Dimension) zu wechseln, die Inszenierung bzw. Aufführung umfasste vielmehr den formalen Aspekt der Sprache, die ebenfalls Verfremdung und Vermittlung erforderte. Als Regisseurin hätte ich den Text kürzen können, aber er musste vollständig erklingen, also in gewisser Weise im performativen Raum der Aufführung verkörpert werden.

 

ein Körper, der Fleisch ist

 

Wenn von übersetzten Texten die Rede ist, kommt den Übersetzer:innen eine Schlüsselrolle zu, hängt doch der Text, der zum Ausgangspunkt der Deplatzierung wird, von ihnen ab. Die Regie wird ohne eine Möglichkeit, mit dem Originaltext zu arbeiten, gewissermaßen zur Geisel der Übersetzung. Texte fürs Theater werden geschrieben, um verkörpert zu werden: Als abgeschlossenes Werk offenbaren sie sich im Moment der Begegnung zwischen Schauspieler:innen und Publikum. Jedes absichtlich gesetzte Zeichen in einem solchen Text – syntaktische und sogar grammatikalische Fehler, visueller Stil und Rhythmus – ist ein semantisches Zeichen für die Verkörperung auf der Bühne. Deshalb ist es so wichtig, diese Details in der Übersetzung zu bewahren und insbesondere für diejenigen Ausdrücke nach passenden Äquivalenten zu suchen, die im Original Doppeldeutigkeiten schaffen. Zum Beispiel wird das Wort „Fleisch“ auf Deutsch auch für den menschlichen Körper verwendet. Auf Russisch wird hier ein anderes Wort verwendet, auf Belarusisch zwei andere Wörter. Aber für das zeitgenössische Theater ist es sehr wichtig, dieses Wortspiel zu erhalten – ein Körper, der Fleisch ist. Allein dieses Wort schafft ein stark aufgeladenes Bild, das in der Übersetzung leicht verloren gehen kann.

Zurück zur Übersetzung von Dea Lohers Text: Vielleicht aufgrund einer gewissen Tabuisierung klang die belarusische Sprache viel durchdringender, und in Hinblick auf die Handlung des Stücks betonte der marginale Charakter der Sprache die soziale Ausgrenzung der Figuren doppelt: Als Diskriminierte sprachen sie eine diskriminierte Sprache. Außerdem, dachte ich, muss die Übersetzerin bei der Arbeit mit einer nicht institutionalisierten (nicht kanonisierten) Sprache viel freier gewesen sein und konnte sich Wörter und Konstruktionen unterordnen, um sich der ursprünglichen Bedeutung so weit wie möglich anzunähern. Hier konnte die Sprache einen künstlerischen Raum bilden, ohne sich vor ungewöhnlichen Wortverbindungen zu scheuen und Taburäume zu fürchten, da sie in gewissem Sinne selbst tabu war.

 

Buchstaben als Körper

 

Fast zeitgleich arbeitete ich an einem anderen Projekt, bei dem es auch ums Übersetzen ging – im Sinne einer visuellen und plastischen Verkörperung von Poesie. Das Projekt LITÄRA, das von Iryna Herasimovich kuratiert und mit Unterstützung des Goethe-Instituts Minsk durchgeführt wurde, bestand aus zwei Teilen. Zunächst gab es eine Ausstellung mit Werken belarusischer Künstler:innen, die sich aus einer Auswahl zeitgenössischer deutscher Lyrik ein ins Belarusische übersetztes Gedicht aussuchten und es in Malerei, Grafik, Installation oder Video umsetzten. Für den zweiten Teil habe ich eine Performance mit zwei Schauspieler:innen eingerichtet – Aljaksandr Kasela und Valjanzina Harzujewa. Tazzjana Dsiwakowa war für die Ausstattung zuständig. Der Performance wurden nicht nur die Gedichte der deutschen Autor:innen zugrunde gelegt, es wurden auch die Erfahrungen der an der Ausstellung beteiligten Künstler:innen genutzt. Es schien interessant, keinen völlig neuen Text zu erstellen, sondern sich in den bereits geschaffenen Kontext einzuschreiben. Diese Methode des Zitierens ermöglichte es, jene Differenzierungen genau zu definieren, die dem Bühnenraum eigen sind. Mich interessierte, wie sich Poesie verkörpern lässt, ohne die Texte zu rezitieren, daher rezitierte der Schauspieler nur ein einziges Gedicht. Alle anderen wurden plastisch verkörpert, durch Beleuchtung, Bewegungen, Bilder, Musik – diese wurden so zu den Buchstaben, die die Bühnensätze bildeten. Einerseits fand ich einen dramaturgischen Kern, der diese disparaten Gedichte zu einer Geschichte fügte, die wir gemeinsam mit den Schauspieler:innen zu erzählen versuchten. Aber andererseits war es nicht so wichtig, dass diese Geschichte gelesen wurde, wichtiger war, das Publikum in den autonomen imaginären Zwischenraum der Gedichte hineinzuziehen. Die Form trat gewissermaßen in den Vordergrund, sie wurde zum Ziel.

Auch hier hat die belarusische Sprache sehr geholfen, selbst wenn sie in der Endfassung der Performance nur sehr fragmentiert zu hören war. Gerade durch die Arbeit mit übersetzten Texten – das Lesen des Originals im fremden Deutsch und dann die Übersetzung ins „fremde“ Belarusisch – wurde für mich in diesem Prozess der Raum der Verfremdung offensichtlich. Aber wenn die Fremdheit des Deutschen verständlich war, wovon zeugte die Distanz, die in der Interaktion mit dem Belarusischen entstand? Und wenn diese Distanz existiert, was kann sie außer ihrer Form noch geben?

 

verbotene Sprache

 

The doctor is sure that there was no external force that made him drop his native (village) tongue; it happened „naturally.“ 2, beendet Elena Gapova in ihrem Artikel The Nation In Between; or, Why Intellectuals Do Things with Words die Geschichte eines Bekannten und Arztes, der in der späten Sowjetzeit von einem Dorf, wo er auf Belarusisch gelernt und es im Alltag gesprochen hatte, nach Minsk kam. Der junge Mann machte die Aufnahmeprüfungen. Er erzählte, wie die Mitglieder der Prüfungskommission lächelten, als sie seine Antworten auf Belarusisch hörten: Für sie war er ein „Junge vom Dorf“. Als er anfing zu studieren, wechselte er zum Russischen. Das Gespräch mit Elena Gapova fand in den 1990er Jahren statt, er konnte Russisch und Französisch, das Belarusische hatte er völlig vergessen. Und Gapova zufolge war er sich sicher, dass dies ganz natürlich passiert sei.

Dieses Beispiel bezieht sich direkt auf die sprachliche Besonderheit des belarusischen Kulturraums, wo infolge einer bestimmten Sprachpolitik der Imperien (Polen-Litauen, des Russischen Reiches und dann der Sowjetunion) die belarusische Sprache an den Rand gedrängt wurde (aufs Dorf), und im urbanen Raum die Sprache der hegemonialen Kultur gesprochen wurde (in den letzten Jahrhunderten Russisch). Im Kontext des zeitgenössischen Theaters hat sich diese Kolonisierung durch Sprache sehr deutlich in der zeitgenössischen Dramatik manifestiert, vor allem durch das neue Drama – eine Bewegung in der Dramatik, die sich in den 2000er Jahren im postsowjetischen Raum formiert hat und für die ein Streben nach dem Dokumentarischen wesentlich war. Darunter stach eine Reihe von Texten hervor, die von belarusischen Autor:innen geschrieben waren, und – natürlich – waren sie auf Russisch geschrieben. Das Hauptargument war ein Hyperrealismus, dem man nicht widersprechen konnte: Auf den Straßen belarusischer Städte und sogar Dörfer wurde fast nur noch Russisch gesprochen. (Es wurden auch Stücke auf Belarusisch geschrieben, aber sie wurden als Literatur betrachtet, die nichts mit dem alltäglichen Leben zu tun hatte, sondern einen künstlerischen Text darstellte.) Mich interessierte jedoch, ob es wirklich nur um Spiegelung, eine Darstellung der aktuellen Situation ging. Reproduzierten die Dramatiker:innen nicht auch das postkoloniale Konstrukt und erzählten (unterbewusst) eine Geschichte kultureller Kolonialisierung?

Anfang der 2010er Jahre begann sich die Sprachsituation der neuen Dramatik aus Belarus langsam zu ändern. Es entstanden Texte, in denen die Autor:innen mehrsprachig arbeiteten – Russisch, Belarusisch und Trasjanka. Die Sprache der Protagonist:innen markierte oft einen sozialen Status und eine bestimmte Zugehörigkeit, aber immer öfter war die belarusische Sprache keine Dorfsprache mehr, sondern ein Zeichen von Bildung und Kultur, während für die Trasjanka das Gegenteil galt. Das Streben nach Hyperrealismus brachte komische Plots hervor. So versucht zum Beispiel in dem Stück Bi-Linguale. Oder Hähnchen mit Herz von Andrej Sautschanka der belarusischsprachige Protagonist, Konserven (Hähnchen mit Herz) zu kaufen, aber die Verkäuferin versteht ihn nicht. Noch absurder klingt zum Beispiel ein Dialog aus Wolha Prusaks Stück Sikulakabusuka. Auf einer Straße in Minsk wird der Protagonist (Gabryel), ein Schwarzer, der in Belarus geboren wurde und Belarusisch spricht (eine reale Begebenheit), von einem russischsprachigen Passanten (Einheimischer) angehalten.

Einheimischer: (spuckt temperamentvoll Sonnenblumenkerne aus, holt Gabryel ein und stößt ihn gegen die Schulter) He, du Penner!
Gabryel: Entschuldigung, bin ich Ihnen im Weg?
Einheimischer Russland den Russen!
Gabryel: Ja, und in Belarus leben Belarussen. Alles schön und gut, aber Sie wollten wahrscheinlich etwas fragen, und ich habe Sie unterbrochen?
Einheimischer: Was jetzt, Antifa?!
Gabryel: Mein Herr, Sie regen sich ganz umsonst auf. Was Ihrs ist, bleibt Ihrs, niemand will Ihnen etwas wegnehmen. Lassen Sie mir, was meins ist, und wir verabschieden uns jetzt einfach, wenn Sie meine Hilfe nicht brauchen.
Einheimischer: Wie … wie jetzt? Du kannst Belarusisch od... Sie können Belarusisch?
Gabryel: In Belarus wunderte sich mal ein Belarusse über einen Belarussen: Du kannst echt Belarusisch? ... Ist jetzt vielleicht nicht der lustigste Witz, und was mich angeht, ich schreibe mit Fehlern. Ist natürlich peinlich, dass meine Sprache so ist!
Einheimischer: Welche deine Sprache?
Gabryel: Belarusisch, was sonst!
Einheimischer: (Systemfehler) Agd... Aksch...
Gabryel: Jetzt überlegen Sie wahrscheinlich, in welchen Ländern noch Belarusisch gesprochen wird? Keine Sorge, nur hier.
Einheimischer: Dann bist du also aus Minsk?
Gabryel: Ja, aus dem Osten.

Bei einer Übersetzung in eine andere Sprache ergeben sich Allusionen auf das Theater des Absurden, denn ein ähnlicher Dialog in nur einem Sprachregister lässt zusätzliche universelle Bedeutungen entstehen: Die Figuren sprechen dieselbe Sprache und verstehen sich trotzdem nicht.

 

der hybride Raum der Übersetzung

 

Auf diese Weise wurde mir das Potenzial der Sprachsituation in Belarus als Werkzeug und Medium für die Schaffung zusätzlicher semantischer Dimensionen bewusst. Einerseits zeugte dieser Prozess des Übergangs von einem homogenen Sprachraum zu einem mehrsprachigen von der asymmetrischen Beziehung zwischen den Sprachen und ihrem Status: Der marginale Status der belarusischen Sprache wurde dokumentiert. Andererseits bildete sich durch die Verfremdung in gewisser Weise eine hybride Situation heraus, die zur Überwindung des kolonialen Bewusstseins beitrug.

Das Potenzial von Sprachen als semantischem Werkzeug zeigte sich beispielsweise in der Inszenierung Kolchosbauern nach einem Stück von Pawel Prjaschko, die der Regisseur Zimafej Tkatschou 2017 auf der kleinen Bühne des Republikanischen Theaters der belarusischen Dramatik realisierte. Das Stück ist praktisch als Prosa in russischer Sprache mit Elementen von Trasjanka als Sprache der „Kolchosbauern“ geschrieben (so werden immer noch Menschen mit einem niedrigen Bildungsstand bezeichnet, da Trasjanka oft mit der Arbeiter- und Bauernklasse in Verbindung gebracht wird). In der Inszenierung sprach der intellektuelle Protagonist den Haupttext auf Russisch, während die Dialoge auf Trasjanka von anderen Figuren, den „Kolchosbauern“, gespielt wurden. Durch den Kontrast zum Haupttext wirkten diese Szenen wie mittelalterliche Intermedien. Den Hauptkonflikt des Stücks, das die politische und wirtschaftliche Krise in Belarus im Jahr 2011 behandelt, schien der Regisseur aus einer Klassenperspektive zu interpretieren: Menschen mit niedrigem Bildungsstand (die Wählerschaft des derzeitigen Präsidenten) wurden den intellektuellen Städtern gegenübergestellt. Aber am Ende der Inszenierung wechselte der Protagonist – nachdem er eine Reihe innerer Veränderungen durchlaufen hatte – zur belarusischen Sprache. Zunächst waren es nur einzelne Wörter und Redewendungen, der Schlussmonolog wurde schließlich komplett auf Belarusisch gesprochen. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, der Regisseur beziehe sich damit auf die oppositionelle belarusischsprachige Community der 1990er Jahre, die die Idee einer homogenen Nationalkultur verteidigte. Aber meiner Meinung nach fungierten die Sprachen hier als Werkzeuge, mit deren Hilfe der Regisseur gemeinsam mit der Übersetzerin Maryja Puschkina den Fokus von der Klassenidee und der nationalen Idee auf die Identität als pluralistisches Projekt verlagerte, was von einer gewissen Emanzipation des politischen Bewusstseins zeugte.

Hierbei fällt auf, dass die Übersetzerin die Grenzen einer rein sprachlichen Verlagerung überschreitet. Ausgehend vom Konzept des Regisseurs fand Maryja Puschkina Methoden, durch Übersetzung-als-Prozess, die den sprachlich hybriden Raum mit dem performativen Raum zusammenfallen ließen. Insofern dominierte in gewisser Weise die textuelle Lösung, denn der nächste Schritt bestand wohl darin, über die semantische Aufdeckung von Unterschieden nachzudenken – von Buchstaben als Körper. Aber auf jeden Fall bildete die Inszenierung nicht einfach den Text ab (was bei Inszenierungen zeitgenössischer Dramatik häufig der Fall ist), sondern verlagerte ihn wirklich, indem sie den Text verfremdete, in einen anderen Raum.

Ungeachtet der Tatsache, dass ein solches erweitertes Verständnis von Übersetzung im Theater für den belarusischen Kontext ein relativ neues Phänomen ist, bin ich mir sicher, dass diese Prozesse – die Wahrnehmung der Rolle der Übersetzung unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation des Theaters und der Kultur im weiteren Sinne – auf einen gewissen Bruch in der Kolonialgeschichte unseres Landes hinweisen. Anhand einiger Beispiele habe ich meine Erfahrung eher fragmentarisch beschrieben, aber ich möchte hoffen, dass dies eine gewisse Fortsetzung der Diskussion sein kann. Gerade jetzt, wo die belarusische Kultur wirklich eine Chance auf eine „neue“ Geschichte hat. Und die Rolle von Regisseur:innen, Dramatiker:innen und Übersetzer:innen im Prozess der Überwindung kolonialer und patriarchalischer Konstrukte kann meiner Meinung nach eine der Schlüsselrollen sein.

Fußnoten
1
2
PDF

(c) Olga Kirilova

Tania Arcimovich ist Wissenschaftlerin und Kuratorin. Doktorandin des International Centre for the Study of Culture (Justus-Liebig-Universität, Deutschland). Absolventin der Belarusischen staatlichen Kunstakademie in Minsk (Theaterwissenschaft), Master-Abschluss in Soziologie (Kulturwissenschaft) der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität (Vilnius, Litauen). Autorin der Monografie „Experimentelles Theater in der BSSR während der Tauwetterperiode. Zwischen Moderne und Avantgarde“ (Europäische Geisteswissenschaftliche Universität). Beteiligt am internationalen Forschungsprojekt „Erneuerte Avantgarde. Mittel- und Osteuropa“ (organisiert vom Theaterinstitut in Warschau) 2019-2022. In den 2010er Jahren war sie Kuratorin verschiedener Theaterprojekte in Belarus und im Ausland, 2022 Co-Kuratorin eines Festivals für Kunst aus Belarus am HAU (Berlin).

Verwandte Artikel
Olga Tokarczuk: »Meine Bücher hätte man auch auf Belarussisch schreiben können…«
Von Minsks und Madeleines
Es ist in uns