Cities of translators Kolkata Reisebericht aus Kolkata

Reisebericht aus Kolkata

© Isabel Fargo Cole

Das Hotel, The Kenilworth Kolkata. Dezenter moderner Luxus. Der ummauerte Garten, der Laubengang zur prachtvollen weißen Villa gegenüber – all das schließt die Realität der Stadt, den Dreck, den Lärm, aus und uns in eine koloniale Idylle ein. Fragwürdige Idylle, von Mücken unterwandert (Malaria!), anziehende Fragwürdigkeit. Gin Tonic trinken, der Gesundheit wegen. Malariamittel Chinin. Ich nippe an meinem amerikanischen Traum von England.

Vor meinem Fenster in wenigen Metern Entfernung: die oberste Etage der verlassenen Villa auf dem Nachbargrundstück, blätternd ockergelb mit grünen Fensterläden. Die Banyan-Feige auf ihrem Dach, ihre Luftwurzeln schnurgerade an der Regenrinne. Am ersten Morgen wurde ich um sechs Uhr wach und ging zum Fenster, als das Wurzelgeflecht gerade in der Sonne aufleuchtete. Später stand ich immer wieder da und versuchte, in die Fenster gegenüber hineinzuspähen, mir das vergangene Leben dort vorzustellen. Oder ich beobachtete die Männer, offenbar das Wachpersonal, die auf der Veranda lebten und an der Pumpe daneben ihren Abwasch erledigten. So war das Haus doch noch bewohnt und kam mir nicht mehr so traurig vor.

Das Haus, bekam ich zu hören, sei Gegenstand eines Rechtsstreits, wie das mit vielen alten Kolonialvillen der Fall sei. So bleiben sie immerhin erhalten, müssen den Hochhäusern noch nicht weichen, noch modern sie vor sich hin und lassen Wäldchen auf ihren Dächern wachsen, jahrzehntelang im juristischen Schwebezustand. Nun stand mir Bleak House vor Augen, wenn ich hinüberschaute, irgendein dickens’sches Familienepos musste sich dahinter verbergen, Geheimnisse, Grotesken, tragische Zwiste, vor Leben strotzende Absurdität.

Überhaupt: Diese Stadt, das Zentrum mit den so europäisch anmutenden Villen und Blöcken (Beaux-Arts style, der Begriff fällt mir aus meiner New Yorker Zeit wieder ein), mit der protzig-bürgerlichen Bausubstanz, die an allen Ecken und Enden von vielfältigen Lebenswelten aufgebrochen wird, von Kleinstläden und -werkstätten; von Garküchen; von Bäumen, deren Wurzeln kleine Altäre beherbergen und deren Äste den Straßenhändlern zur Befestigung nützlicher Dinge dienen; von Schlafenden, Einzelnen, Familien, die unsichtbare Wände um sich errichten, so dass ich, wenn ich da lang ging, wie durch Wohnungen lief, durch Schlafzimmer, Küchen und Bäder; von einer Straße zur nächsten lief ich durch eine dichtgedrängte Reihe von Familienromanen – diese Stadt in ihrer Fülle war unfassbar, doch diese Unfassbarkeit hatte etwas Vertrautes. Ein Labyrinth, in dem ich mich schon einmal gedanklich verlaufen hatte. So muss Dickens London gewesen sein – mit diesem Satz kam ich dem Gefühl fürs Erste am Nächsten. Ein Heimatgefühl um drei Ecken herum. (Kann man das Wort „Heimat“ noch benutzen? – die ewige Frage. Ja, kann man, jetzt erst recht, gerade weil das Wort seine Schattenseiten zeigt, so kann es endlich all das Widersprüchliche ausdrücken, das es meint.)

© Isabel Fargo Cole

Podiumsdiskussion mit Verlagsleuten aus Kolkata und aus unserer Gruppe in einem Hinterzimmer des Indian Coffee House Building. Das genossenschaftlich betriebene Coffee House ist ein großer Saal mit Galerie drumherum, sepiafarben wie ein altes Foto, doch hier entstammt die Färbung der ununterbrochenen Lebendigkeit, hier lärmt die Studentenschaft, hier saß Satyajit Ray, hier saß Rabindranath Tagore, hier saßen wir unter Tagores Porträt und hörten einen Vortrag über die Geschichte der College Street draußen vor der Tür mit ihren Hunderten von Bücherständen. Die Preise sind günstig, die Kellner adrett, an der Anzahl der Falten in ihren Kopfbedeckungen kann man ihr Dienstalter ablesen. Das ist ein eingelebtes Grand Café, so ein lebendiger Mythos, wie es ihn in Berlin geben müsste, wie es ihn wohl einst gegeben hat, Café Josty, das Romanische Café, Café Größenwahn. Die zweckfreie Gesprächsrunde als Institution, als Mittelpunkt des Geisteslebens.

Adda nennen die Bengalen diese Gesprächskultur, und zum bengalischen Selbstbild gehört, dass sie an jeder Teebude stattfindet. Auch das, dachte ich, müsste es bei uns geben. So wie ich manchmal denke: Das müsste man übersetzen. Der Drang, sich etwas anzueignen, weil es etwas verlorengegangenes oder verfehltes Eigenes zu sein scheint. Die Deutschen haben den Stammtisch – wir Einwanderer eignen uns das Wort an, weil der Stammtisch eine schöne Sache ist und nicht übersetzbar. Die Berliner sind sicherlich auch so diskutierfreudig wie die Bengalen – oder doch nur diskutiersüchtig, verbissen, bierernst, ironisch aus Prinzip und nicht aus Elan? Freude am Wortgefecht, das hatte mir gefehlt, und so virtuos gesprochenes Englisch mit doppelten Böden und glänzenden Spitzen. Eine Leidenschaftlichkeit, die uns großzügig miteinbezog, wenn unsere Gesprächspartner sprachliche Kapriolen um uns schlugen.

Und mit welcher Ausdauer! Das Podiumsgespräch im Coffee House, mit anderthalb Stunden angesetzt, dauerte drei Stunden. Nach 90 Minuten – für Deutsche schon die Schmerzgrenze – kommen Bengalen erst richtig in Fahrt. Die Runde wurde für Fragen geöffnet – buchstäblich, denn die Fragestellenden rückten nach vorne und schlossen sich einer nach dem anderen an die Stuhlreihe der Referenten an. So einfach war das Von-oben-herab aufgelöst, die eigentliche Gesprächsrunde entstand.

© Isabel Fargo Cole

In dem eher kleinen Raum – das ehemalige Atelier des legendären Fotografen Charu Guha – war es stickig, ich hatte mich ans offene Fenster gesetzt, in die Brise, in den immer lauteren Straßenlärm. Ich staunte, nicht zum ersten Mal, über die Konzentrationsleistung, die hier wie selbstverständlich erbracht wurde, um in der warmen, von Ventilatoren- und Straßenlärm zerstückelten Luft eine dreistündige Diskussion von Breite und Tiefe und zunehmender Intensität zu führen. Darüber, dass Reizüberschwemmung die Aufmerksamkeit offenbar nicht nur zersetzen, sondern vielmehr stärken kann. Trotz Müdigkeit spürte ich da am Fenster wie einen unbenutzten Muskel die Fähigkeit, solche Störungen nicht als Störungen wahrzunehmen, sondern einfach als Teil des Raumes, in dem man sich bewegt, Luftströmungen, in und mit denen man spricht. Ob diese Fähigkeit sich übertragen lässt? Auf die Reizüberschwemmung, die uns in unserem Alltag zu schaffen macht? Oder nehme ich nichts mit als den Verdacht, mit realen Reizen eher fertig zu werden als mit virtuellen?

Als wir auf der College Street auf den Bus warteten, verfiel ich schon wieder dem Großstadtrausch, bright lights, big city, das ist Großstadt, das hat Berlin nicht, das hatte New York damals noch ein wenig: das sichtbare Durcheinander an Menschenleben, an allen möglichen menschlichen Tätigkeiten, hier wird noch vor allen Augen gekocht, musiziert, geschlafen, gekauft, verkauft, hergestellt, repariert, werden Lasten getragen. Straßen voller Läden voller Stoffe, Maschinen, Berufe, Künste, Wissenschaften. Der absurde Gedanke: Es ist wie das Internet, nur im richtigen Leben. Vor nicht allzu langer Zeit waren alle Städte, Dickens’ London, Döblins Berlin, war das richtige Leben genauso.

© Isabel Fargo Cole

 

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