Kalikultstadt

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at every alien door to come to his own
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(Rabindranath Tagore)

Im Frühwinter abgeflogen, im Sommer gelandet, binnen eines Tages – das erste Wunder? Wundern werden wir uns oft, in den nächsten Tagen, stetig staunen, Bewunderung zollen. Auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel fängt es an, kaum sind wir eingestiegen, erklingt indische Musik aus dem Taxiradio, melancholisch schön, Soundtrack zum Kollywood-Film, der an uns vorbeizieht. Der trübgraue Morgen erhellt von Lichterketten, teils an Betonskeletten, im Zentrum verdichten sie sich zu gewaltigen Installationen, aber wir sind nicht in Las Vegas, nein, hier wird Diwali begangen, das Lichterfest, und als wäre das nicht überwältigend genug, wird auch Kali geehrt, die Schreckliche, die Schwarze, die uns hier meist blau im Kampf gegen die Ungerechtigkeit erscheint, in unzähligen Schreinen am Straßenrand, allgegenwärtige göttliche Mutter, die in ihrer Ambivalenz das Wesen dieser ville de misère, city of joy verkörpert. Noch wissen wir nicht, warum sie uns ständig die Zunge herausstreckt, wissen nur, dass beide Feste Erneuerung verheißen.

Auf Kolkatas Straßen tummeln sich aber nicht nur Gottheiten - neben Kali oft Ganesha, der Schelm mit dem Elefantenkopf, Hanuman in Affengestalt, Tagore, unentrinnbarer Dichtergott, gelegentlich auch ein idolisierter Karl Marx, Relikt der jüngsten Vergangenheit -, sondern auch massenhaft Menschen, bunt gewandet, in der Menge und in Schaufenstern leuchten herrliche Saris. Die Stadt ist ein gigantischer Freilufttempel, Speisesaal, Waschraum, Bazar, Tanzboden, Teeausschank, und so wird uns die Zeit nie lang, wenn unser Bus in den nächsten Tagen immer wieder mal im Stau steckenbleibt (denn auch der Verkehr ist hier gewaltig, Mobilität in allen erdenklichen Varianten, alles, was rollt, selbst Märchenkutschen).

Diese Menschen leben auf der Straße, ein Teil von ihnen buchstäblich, halten dabei Ordnung und Sauberkeit und zeugen von Improvisationstalent und Einfallsreichtum. Da wird ein Spiegel an die Mauer gehängt, fertig ist der Barbiersalon und erfreut sich regen Zulaufs. Wer möchte, kann auf Schritt und Tritt seinen Durst oder Hunger stillen, nach geistiger wie irdischer Nahrung (bellycacies), und zur Fülle an visuellen und akustischen Eindrücken (pausenloses Gehupe, ab und an Krähenkrächzen) gesellen sich die Gerüche, nach Abgasen, nach allen möglichen Ausdünstungen, Ausscheidungen, nach Gewürzen, nach Jasmin, Rosen und Sandelholz. Nach Weihrauch.

Dazu die Tiere, schöne, friedliche Hunde, die dem Augenschein nach alle von einem zeugungsmächtigen Urhund abstammen, bildhübsche Ziegen, die durch die Gassen getrieben werden, ganz selten eine Kuh (so viel zu den Vorstellungen, mit denen einige von uns anreisen), Milane über der Stadt. Und Mücken im gepflegten Hotelgarten, bei Einbruch der Dunkelheit fliegen die winzigen Vampire herbei, egal, wie viel toxisches Nobite wir versprühen.

Und die Schriften, Zeichen, die wir nicht deuten können – Bengalisch, Hindi, Urdu (in arabischer Schrift), Chinesisch (in winzigen Resten, die nur Eingeweihte wiederfinden) – oder neu, nein: von ihren Ursprüngen her deuten müssen, Hexagramm (allumfassender Charakter des Göttlichen) und Swastika (Brandzeichen, Glückssymbol).

© Patricia Klobusiczky

Zu unserem besonderen Glück sind wir nicht allein auf allen Wegen durch diese so betörende wie verwirrende Fülle, sondern werden geleitet von Subroto Saha, Dichter und Übersetzer (Celan, Enzensberger, Rose Ausländer, Isabel Fargo Cole) ins Bengalische, eine aufgeklärte Lichtgestalt, die sich von den uralten Huldigungsritualen nicht beeindrucken lässt und lieber an humanistische Ideale hält. Interessant, dass Subroto, der fließend Deutsch und Französisch spricht und diese Sprachen so genießerisch auszukosten scheint wie seine Muttersprache – in meinen Ohren klingt dieses Bengalisch weicher und melodischer als Hindi, wie geschaffen für Poesie und Gesang, die hier einen ungeheuren Stellenwert haben -, das Englische weniger liebt.

Obwohl Englisch, laut Gandhi das Fenster zur Welt, längst zu einer indischen Sprache geworden sei, wie wir von einigen souverän auftretenden Schriftstellern und Schriftstellerinnen hören, im Laufe eines aufschlussreichen Nachmittags in der Sahitya Akademi. Tagore wurde 1913 für seine durchaus umstrittene, weil verflachende englische Fassung von Gitanjali mit dem Nobelpreis ausgezeichnet (im Grunde als erster Singer-Songwriter, gut 100 Jahre vor Bob Dylan, da er seinen Gedichtzyklus selbst vertonte).  Indien, Land der abertausend Zungen, verfügt über 24 offizielle Landessprachen, aber manches deutet darauf hin, dass Hindi und Englisch sich langfristig als Hauptsprachen durchsetzen könnten, aus praktischen und politischen Gründen, nicht zuletzt durch den Einfluss der zeitgenössischen Popkultur.  In der multikulturellen Metropole Kolkata, wo infolge von historischen Fluchtbewegungen und Arbeitsmigration 1672 Sprachen und Dialekte zu hören sind (darunter Tamil, eine der weltweit ältesten Sprachen, Malayalam, Telugu, Kannada, Marathi, Kantonesisch, Nepali), wollen viele Kinder nicht mehr die Sprachen ihrer aus anderen Regionen eingewanderten Eltern lernen, auch wenn noch regelmäßig von einer Landessprache in die andere übersetzt wird und Filme in mehreren einheimischen Synchronfassungen laufen. Bisher jedoch sind die meisten Einwohner der Stadt mindestens dreisprachig, ist language switching, mixing and matching an der Tagesordnung. Hinzu kommt ein lebhaftes Interesse an europäischen Sprachen wie Deutsch, Französisch oder Italienisch.

Der Unterricht am Goethe-Institut muss hervorragend sein, denn wir begegnen etlichen Bengalen und Bengalinnen, älteren wie jüngeren, die fließend Deutsch sprechen, obwohl manche von ihnen noch nie in Deutschland waren. Rilke und Marx wurden inzwischen als bengalische Autoren eingebürgert – das scheint generell ein Wesenszug der Toleranzinsel Kolkata zu sein, alles spielend aufzunehmen, an Sprachen, Kulturen, Religionen, künstlerischen und kulinarischen Einflüssen. So werden exilierte Gottheiten, deren Namen niemand mehr kennt, ganz hinduistisch in Seide gehüllt und mit Juwelen bekrönt, eine Luxusvariante der Integration, so erklärt uns ein Imam im Werftsviertel Khidderpore, das von Arbeitern vielerlei Ethnien und Konfessionen bewohnt wird, letztlich seien wir alle Kinder von Adam und Eva, so bewirbt ein chinesisches Restaurant seine Speisen als “halal”, prägen neben Hinduschreinen und buddhistischen Tempeln zahlreiche Moscheen das Stadtbild, übertönt der Ruf des Muezzins periodisch das nie verklingende Hupkonzert, ist auf einem unscheinbaren Hausdach ein barocker Engel zu entdecken, stößt man im Verwaltungsviertel der ehemaligen Kolonialmacht auf viktorianische Pracht, während auf dem Campus der Jadavpur-Universität ewig Widerstand geleistet wird.

© Patricia Klobusiczky

Als die Britische Ostindien-Kompanie 1690 am Ufer des Hugli Quartier bezog, war Kalikata noch ein Fischerdorf. Gut 300 Jahre später hat die von Anfang an multilinguale Großstadt Kalkutta das koloniale Joch längst abgeworfen und ist, mittlerweile zu Kolkata zurückbenannt, bis heute ein Ort des fruchtbaren Austauschs und der kritischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Aus dem Handelszentrum war schließlich auch eine kulturelle Hochburg geworden, während der Bengalischen Renaissance im 19. Jahrhundert entstand rund um die College Street eine vielfältige Verlagslandschaft mit angeschlossenen Druckereien für Zeitungen, Bücher, satirische Kunstdrucke, entwickelte sich das Bengalische, das im Gegensatz zum Sanskrit, zu Persisch und zum klassischen Arabisch als “Patois” galt, innerhalb kürzester Zeit zu einer literarischen Sprache, nicht zuletzt durch Anlehnung ans Sanskrit und durch zahlreiche Übersetzungen von Werken der europäischen Literatur, insbesondere der englischen.

© Patricia Klobusiczky

Viele namhafte bengalische Autoren waren als Übersetzer im engeren und weiteren Sinn tätig, wie Michael Madhusudan Dutt, der sich an Dante, Shakespeare, Milton orientierte und den Blankvers in die bengalische Theaterdichtung einführte, Bankimchandra Chatterjee, der den westlichen Roman als Gattung importierte und mit Oriental content füllte, Tagore natürlich, der unter anderem mit chinesischen und japanischen Gleichgesinnten wahre Übersetzungswerkstätten betrieb, oder später Buddhadeva Bose, der Baudelaire, Rilke und Hölderlin ins Bengalische übertrug. Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis nach Selbstbehauptung, wurden Literaten und Intellektuelle zu Aktivisten im Kampf um die nationale Unabhängigkeit.

Auf unserer Tour rund um die College Street, die heute eine Art Buchhandlung unter freiem Himmel ist, den Bouquinisten in Paris nicht unähnlich, fällt uns das Sanskrit College ins Auge, offenbar der älteste Campus der Stadt und ein Sinnbild für die Bedeutung des Sanskrit als unser aller Ursprache, als Schlüssel zu den ältesten überlieferten Texten des Hinduismus und zu historischen Inschriften, aber auch als nie versiegende Quelle literarischer Erneuerung.

Wir erfahren von William Jones, Gründer der Asiatic Society, der im 18. Jahrhundert als Richter in Kalkutta wirkte und gleichzeitig die indogermanische Sprachfamilie erforschte. Jones' Vermächtnis ist zwiespältig, einerseits wird er in Kolkata als ein Wiederentdecker des reichen kulturellen Erbes Indiens gewürdigt, andererseits hat er sich, wie so viele andere Vertreter der Kolonialmacht, auch als Plünderer dieses Erbes betätigt: Viele kostbare Handschriften sind nach England gewandert. Später sollte sich die viktorianische Prüderie – Cleanliness is next to Godliness – sogar gegen jahrtausende alte Kunstformen durchsetzen und alles Erotische, ungeachtet des mystischen Ursprungs, in Wort, Bild, Gesang oder auf der Bühne als obszön verbannen.

Heute herrscht hier wieder Kunst- und Meinungsfreiheit ‒ und nach wie vor Neugier auf den Rest der Welt, wie wir aus Gesprächen mit Verlegern wie Naveen Kishore von Seagull Books erfahren, der seine liebevoll ausgestatteten Erzeugnisse, hauptsächlich englische Übersetzungen zeitgenössischer bengalischer wie europäischer Autoren und Autorinnen, in einer eigenen, verführerisch schönen Buchhandlung präsentiert. Sie ist eine von vielen, die Kolkata zum Pilgerort machen, nicht nur wie einst für burmesische Buddhisten, sondern auch für Bibliophile aus Berlin.

© Patricia Klobusiczky

Patricia Klobusiczky, 16.12.2018

 

Mit herzlichem Dank an das TOLEDO-Programm, an Subroto Saha, an Chelsea McGill, Dr. Tathagata Neogi und Pritha Mukherjee von Heritage Walk Calcutta - und an meine wunderbaren Reisegefährt/innen. 

Dank auch an Sherry Simon und Chinmoy Guha.

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