Cities of translators Ljubljana Ljubljana: Mein umgekehrtes Babylon
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Ljubljana: Mein umgekehrtes Babylon

 

2005 veröffentlichte ich einen Essay mit dem Titel “Gained in Translation”, der nach Berichten von mitteleuropäischen Dozent·innen einige Jahre lang als Standardtext für die Einführung ins Übersetzen diente. Der Text begann mit einer peinlichen Anekdote über einen Fehler, der mir in den ersten Monaten der Romanze mit meinem zukünftigen Ehemann unterlaufen war:

© privat

In den frühen Morgenstunden eines Apriltages im Jahr 1992 war ich auf der Piazza Navona in Rom mit meiner Fernbeziehung, meinem Geliebten Aleš verabredet. Ich war mit einem Transatlantikflug vom New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen angereist, er mit dem Zug aus Slowenien gekommen, dem neu gegründeten Nachbarstaat im Nordosten Italiens. Auf einer Bank vor Berninis Fontana dei Fiumi wartete ich und schlug das Buch auf, das ich am Abend zuvor im Flugzeug begonnen hatte: Immortality von Milan Kundera. Es mag schwerfallen, sich in die Geschichte fiktionaler Geliebter zu vertiefen, während man inmitten einer leeren Piazza auf den echten Geliebten wartet, doch Kunderas fesselnde Erzählweise und Originalität zogen mich in ihren Bann. Ich hatte gerade ein Kapitel beendet – dasjenige, das damit aufhört, dass Paul verzweifelt für einen letzten Kuss an Agnes’ Krankenhausbett eilt – und blätterte weiter, um das nächste anzufangen, als ich auf der kühlen Steinbank neben mir eine Präsenz und auf meinem Rücken eine Hand spürte. Ich schaute mich um und erblickte das Gesicht meiner gar nicht mehr fernen Beziehung, des Geliebten, der mich ansah.

Sogleich verflüchtigten sich Kunderas Paul und Agnes auf dem sonnenhellen Platz. Unwissentlich nahm Aleš Pauls fiktionalen Impuls auf und wollte mich küssen. […] Aber gerade als seine Lippen die meinen erreichten, hielt er inne und stieß einen Schrei der Überraschung aus.

„Moment mal“, sagte er und zeigte auf das Buch in meinem Schoß.

Er beugte sich zur Seite und griff in die Reisetasche, die neben ihm auf dem Boden lag. Nachdem er einige Sekunden darin gewühlt hatte, zog er sein eigenes Buch heraus.

„Schau“, rief er triumphierend.

Seins war ein Taschenbuch, meins ein Hardcover mit einem anderen Umschlagbild, aber der Zufall war unverkennbar. Aleš’ Buch trug den Titel Nesmrtnost und war von keinem Geringeren als Milan Kundera. Aleš legte sein Buch auf meins, umfasste mit beiden Händen mein Gesicht und starrte mich mit seinen melancholischen Mitteleuropäeraugen an.

„Wir lesen das gleiche Buch“, flüsterte er.

Sein Gesicht war dem meinen so nah, dass ich die Hitze seiner Worte auf meiner Haut spürte, und von all den vielen Dingen, die ich in diesem Moment hätte sagen können, von all den Sätzen, die ich hätte wispern oder seufzen oder raunen können, lautete meine Antwort:

„Nur, dass du eine Übersetzung liest.“

© Vid Brezočnik

Für gewöhnlich zitiere ich mich nicht so ausführlich, aber es sind seitdem viele Jahre vergangen, und viel Wasser ist die Ljubljanica unter den Plečniks Drei Brücken in Ljubljana hinuntergeflossen, wo ich seit drei Jahrzehnten lebe. Vor sieben Jahren ist mein wunderbarer Ehemann und im vergangenen Sommer nun auch Kundera gestorben. Vieles an dem Amerika, das ich vor etwa dreißig Jahren verließ, und an dem Europa, in das ich damals kam, ist heute kaum noch wiederzuerkennen. Die aufglimmende Hoffnung nach dem Mauerfall – auch inmitten des gewaltsamen Zerfalls Jugoslawiens – ist einer chaotischen, unerbittlichen Verzweiflung gewichen. Doch als ich meinem Sohn und seiner Freundin, zwei eingefleischten Europäer·innen, beide mehr oder weniger polyglott, nach all diesen Jahren, all diesen Veränderungen jene beschämende Geschichte erzählte, blieb ihnen vor Entsetzen die Spucke weg, und ich wusste, dass meine unbekümmerte amerikanische Naivität (oder Dummheit eigentlich – anders kann man es nicht nennen) noch immer zu schockieren vermochte und ein abschreckendes Beispiel für den Provinzialismus einsprachiger Kulturen abgab.

Der Essay lieferte anschließend einen Überblick über verschiedene Übersetzungsmethoden (wörtlich und frei, einbürgernd und verfremdend), nannte ein paar Highlights aus der Übersetzungsgeschichte und deren schillerndste Persönlichkeiten (Ezra Pounds offener Übersetzungsstil und sein berühmtes Dogma – „Make it new!“ – und Vladimir Nabokovs hartköpfige Position, dass nur wortwörtliche Übertragungen als Übersetzungen gelten könnten und die Arbeit moderner gewerbsmäßiger Übersetzer·innen abzulehnen sei: „Der Schnitzer eines Schuljungen verhöhnt das antike Meisterwerk weniger als dessen kommerzielle Poetisierung“1) und verglich die eher deprimierenden, miserablen amerikanischen und britischen Buchmarktzahlen (nur rund 3 Prozent aller Veröffentlichungen sind dort Übersetzungen) mit dem freiherzigeren Umgang Kontinentaleuropas mit fremden Literaturen.

© Vid Brezočnik

Hat sich im Trubel des knappen halben Jahrhunderts etwas an diesem Spezialthema – der Sprache, Literatur, Übersetzung – geändert? Oder sogar verbessert? Nun, ich zumindest habe mich gebessert, liebe Leserinnen und Leser, ich kann Ihnen versichern, dass ich so etwas Idiotisches heute nicht mehr sagen würde. In den letzten Jahrzehnten arbeitete ich als Übersetzerin (aus dem Slowenischen ins Englische) und Schriftstellerin (die häufig aus dem Englischen in andere Sprachen übersetzt wird), und ich bin mir der ausschlaggebenden Rolle der Übersetzer·innen in der Literatur, den anderen Künsten und im Leben überhaupt bewusst. Andrej Ilc, mein Lektor beim Ljubljanaer Verlag Mladinska knjiga, sagt, dass nicht nur ich, sondern auch der britische und amerikanische Buchmarkt sich gebessert hätten, nicht mehr so hoffnungslos monokulturell seien, und dass sich die schreckliche Zahl von 3 auf satte 6 Prozent verdoppelt habe (auch wenn eine schnelle Google-Suche dies nicht bestätigt). Er berichtete, dass in Slowenien hingegen zwischen 40 und 60 Prozent der veröffentlichten Titel aus anderen Sprachen übersetzt würden, doch wenn einige Kulturimperialist·innen dies als Beweis dafür hinstellen wollen, wie winzig und obskur Slowenien, wie winzig und obskur unsere Sprach- und Literaturszene sei, so wage ich zu widersprechen. Slowenische Leser·innen (und Autor·innen) haben vielleicht nicht die gesamte Welt der Literatur in ihren Buchhandlungen und Bibliotheken stehen, einen guten Teil davon allerdings schon (ganz zu schweigen von der Welt des Films in Kinos und auf Festivals). Die passionierten Leser·innen, denen ich in Ljubljana begegne, einer in dieser Hinsicht viel kosmopolitischeren Stadt als New York, lassen mich oft blass aussehen. Sie sind so bewandert mit den Werken neuer Autor·innen aus aller Welt, sie wissen, wer in anderen west- und osteuropäischen Ländern angesagt ist, und nicht nur in Europa, natürlich auch in Amerika und anderen weiter entfernten Ländern. Diese Breite und Vielfalt des Wissens begegnen uns in Kulturen dominanterer Sprachen wie den USA nur bei Kenner·innen und Expert·innen.

© Vid Brezočnik

Und es gibt noch eine subtilere Veränderung: Mit den Jahren hat sich mein Verständnis der kulturellen Pole der Welt und ihrer relativen Raffinesse, Vielfalt und Toleranz beinahe umgekehrt. Als ich 1993 zum ersten Mal von New York City nach Ljubljana zog, dachte ich, ich wäre aus dem absoluten Zentrum des Universums – einem Babylon der immensen Kultur, des Reichtums und der Sünde, voller Menschen aus aller Welt, mit all ihren verschiedenen Sprachen und Küchen – in ein umgekehrtes Babylon geschleudert worden, ein flaches, einfarbiges, konservatives Hinterland, so klein, dass es nicht einmal Gott auffallen würde, wenn seine Bewohner·innen einen Turm errichteten, der kühn in den Himmel zu ragen drohte. Ganz provokant beantwortete ich in einem frühen Interview – vor dem Siegeszug der Political Correctness – die Frage, was ich an meiner Heimat oder zumindest an New York City besonders vermisste: das fremdländische Essen und die Tunten. Das war keine Beleidigung. Ich hatte in den beiden queeren Hauptstädten der USA gelebt und ich vermisste den Groove, den Drive und den selbstironischen Humor. Und doch erkannte ich allmählich in der relativen Marginalität und Gleichförmigkeit Sloweniens und seiner Hauptstadt Ljubljana eine andere Art von Groove und Drive, die sich gleich unter der Oberfläche verbargen. Da waren die mehr als fünfzig Dialekte der slowenischen Sprache, der Europa-Rekord für Dialekte pro Quadratkilometer. Da waren die ganzen deutschen Wörter, die noch aus dem österreichischen Kaiserreich stammten, und sogar türkische Wörter aus der osmanischen Zeit. Da waren die Mehrsprachigkeit und das spielerische Wechseln zwischen den Idiomen aus der jüngeren jugoslawischen Vergangenheit und sogar der verdrehte, schreiende, abgehackte Ljubljana-Slang, der mir meine Kinder, als sie Teenager waren, eine Zeitlang entfremdet hatte. Ich entdeckte also eine Vielfalt und einen Reichtum, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können.

© Vid Brezočnik

Während ich diesen Beitrag schreibe, reise ich von Ljubljana nach Venedig und weiter mit dem Zug nach Genf, um meinen Sohn und seine polyglotte Freundin zu besuchen, die von den unbeholfenen Anfängen meiner Romanze so schockiert waren. Wenn sich der Zug einem Bahnhof nähert, kündigt die Aufnahme einer gleichmäßig digitalisierten Frauenstimme den nächsten Halt an.

Prossima fermata: Domodossola.
Prochain arrȇt: Domodossola.
Nächste Haltestelle: Domodossola.
Next stop: Domodossola.

Domodossola liegt auf halber Strecke, gefolgt von Sion und Brig und Lausanne. Während die Stunden der Reise vergehen und immer mehr Zwischenstopps dazukommen, wird das Mantra zu einer fast komischen, scheinbar überflüssigen poetischen Wiederholung der vier einleitenden Sätze, denen jeweils ein einziges unveränderliches Wort folgt: der beständige Ortsname (nur im Fall von so großen Städten wie Milano oder Genève hat der Sprachimperialismus den Eigennamen verändert, um den Bedürfnissen der Kultur und der Aussprache gerecht zu werden). Inzwischen habe ich auch die Hälfte meiner größeren Reise bewältigt, meiner Lebensreise – die ersten einunddreißig Jahre in den Vereinigten Staaten, dem Land mit der dominantesten Sprache der Welt – und die zweiten einunddreißig Jahre in Slowenien, einem Land mit einer der wenigsten dominanten Sprachen der Welt, einer Geheimsprache fast. Ich bin ein Halbwesen, nicht streng geteilt – horizontal an der Taille oder vertikal von oben nach unten –, sondern eine Art Palimpsest, eine geschichtete und multiple Identität, teils Original und teils unterwegs übernommene Transpositionen, eine Reihe von einleitenden Phrasen und verschiedenen Melodien und – am Ende oder in der Mitte oder vielleicht ganz am Anfang – ein unveränderliches, beständiges Wort.

Domodossola, Domodossola, Domodossola.

Ich bin nicht nur Übersetzerin geworden, sondern selbst auch Übersetzung.

25.09.2023
Fußnoten
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© JAK, Nejc Čampelj

Erica Johnson Debeljak wurde in San Francisco, USA, geboren und zog 1981 nach New York, wo sie an der University of Columbia und der University of New York studierte. 1993 zog sie nach Slowenien, um den slowenischen Dichter Aleš Debeljak zu heiraten, und schlug eine Karriere als Übersetzerin, Schriftstellerin und Kolumnistin ein. 1999 wurde ihr erstes Buch veröffentlicht: eine Essay-Sammlung mit dem Titel Tujka v hiši domačinov (dt. Die Fremde im Haus der Eiheimischen). Darauf folgten Srečko Kosovel: Pesnik in jaz (2004, dt. Srečko Kosovel: Der Dichter und Ich), die Kurzgeschichtensammlung Tako si moj (2007, dt. So sehr bist du mein) und die Memoiren Forbidden Bread (2009). Später veröffentlichte sie die beiden Romane Antifa Cona (2012, dt. Antifa-Zone) und Tovarna koles (2015, dt. Die Fahrradfabrik). 2018 war sie an der Herausgabe des Buchs Saj grem samo mimo – Razglednice Aleša Debeljaka(2018, dt. Ich gehe ja nur vorbei – Ansichtskarten von Aleš Debeljak) beteiligt, der einzigartigen Hommage in Postkartenform an ihren 2016 verstorbenen Mann, wofür sie auch den einleitenden Essay verfasste. Ihre 2021 beim Verlag Mladinska knjiga veröffentlichten Bestseller-Memoiren Devica, kraljica, vdova, prasica (dt. Verliebt, verheiratet, verwitwet, verhurt, Römerweg 2023, ins Deutsche übersetzt von Metka Wakounig) gewannen 2022 den Preis für das beste Buch des Jahres auf der Buchmesse in Ljubljana. Ihre Texte verfasst sie auf Englisch, anschließend werden sie ins Slowenische übersetzt, einige davon von dem slowenischen Schriftsteller und Übersetzer Andrej E. Skubic. Sie ist Mitglied des Slowenischen Schriftstellerverbands und des PEN-International. Sie lebt und arbeitet in Ljubljana.

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