Cities of translators Ljubljana Die Vorstellungswelten hinter der Orange und dem Goldhorn
de sl

Die Vorstellungswelten hinter der Orange und dem Goldhorn

Oder: Warum Übersetzer auch in Zeiten von künstlicher Intelligenz unentbehrlich sind

© Vid Brezočnik

Als ich mir während des Brainstormings zum potenziellen Thema dieses Essays die Frage stellte, ob meine Heimatstadt Ljubljana meine Arbeit als Übersetzer beeinflusst, fiel mir zunächst nichts ein. Wie wäre es mit einem Zitat als Einstieg, um die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen? Mal sehen, was ChatGPT dazu einfällt: „Gibt es Zitate, in denen Übersetzen und Stadt verbunden sind?“ Die Antwort des Chatbots klang zunächst recht verheißungsvoll: „Ja, ein berühmtes Zitat stammt von Franz Kafka: Übersetzen heißt immer, eine Stadt in eine andere zu tragen, einer Sprache eine andere aufzuzwingen.“ Doch nach meiner anfänglichen Euphorie gewann die Skepsis die Oberhand: Hat Kafka sich tatsächlich so zum Übersetzen geäußert? Es stellte sich heraus, dass diese Worte weder von Kafka noch von sonst jemandem stammen. Ein weiterer Beleg dafür, dass künstliche Intelligenz sich manchmal aus allen Informationsfetzen, die sie im Internet findet, etwas zusammenflickt, was sehr schlau klingt, sich aber als erlogen entpuppt. Angesichts der auf den ersten Blick so vielversprechenden ChatGPT-Antwort musste ich an einige meiner Studierenden denken, denen diese kritische Distanz fehlt und die bei ihrer Recherche oft recht lax vorgehen, nach dem Motto: Wenn es im Internet steht, wird es wohl stimmen. Hätten sie alle den Wahrheitsgehalt der Antwort überprüft? Leider bin ich mir da bei manchen nicht hundertprozentig sicher …

© Vid Brezočnik

Nachdem der Chatbot seine (künstliche) Intelligenz diesmal nicht unter Beweis gestellt hatte, dachte ich über die Ausgangsfrage noch einmal nach und kam zu folgendem Schluss: Nein, für meine übersetzerische Arbeit ist es unerheblich, ob ich mich in Ljubljana aufhalte. Wenn es einen Ort in Slowenien gibt, der mir als Inspirationsquelle dienen könnte, dann sind es die wunderschönen Gebirge dieses Alpenlandes. Denn die drei letzten von mir übersetzten Bücher spielen allesamt in den Bergen. Nachdem ich das Kultbuch Pot (Der Weg) der slowenischen Bergsteigerlegende Nejc Zaplotnik ins Deutsche übersetzt hatte, stieg ich in den Rang eines Fachmanns für Bergliteratur auf. Im kleinen Slowenien wird man schnell zum Experten, quasi über Nacht. Das läuft dann ungefähr so ab: Eine geschätzte Kollegin fragt, vielleicht nicht genau in diesem Wortlaut, aber auf jeden Fall geschickt mein Ego bauchpinselnd: „Lars, du bist doch Bergsteiger. Willst du nicht Pot von Zaplotnik übersetzen? Ich glaube, du bist der Richtige, um diesen anspruchsvollen literarischen Gipfel zu erklimmen.“ Dass ich damals geschmeichelt mit JA geantwortet habe, habe ich anschließend nur in einigen Frustmomenten bereut, die alle Übersetzer kennen, nämlich dann, wenn das Suchen nach einer Lösung für eine kurze Textpassage Stunden verschlingt, und ich das Buch am liebsten aus dem Fenster, oder, um in der Berg-Metaphorik zu bleiben, von der Triglav-Nordwand geworfen hätte.

© Vid Brezočnik

Der neugewonnene Status als Experte für Bergliteratur, den mir die Übersetzung dieses in Slowenien äußerst populären Buchs bescherte, erwies sich als Türöffner zu zwei weiteren Aufträgen aus demselben Genre. Zunächst der in Slowenien als bestes literarisches Debüt ausgezeichnete Reiseroman Apalaška pot (Appalachian Trail), in dem der Autor Jakob J. Kenda auf sehr geistreiche und humorvolle Weise seine Erlebnisse auf dem 3500 Kilometer langen Fernwanderweg im Osten der USA schildert, den er als erster Slowene von Anfang bis Ende absolviert hat. Anschließend das Werk Transverzale (Transversale) desselben Autors, das den Leser auf den gleichnamigen 1200 Kilometer langen slowenischen Rundwanderweg mitnimmt. Um noch einmal auf die Frage der Notwendigkeit der Ortsansässigkeit des Übersetzers zurückzukommen, wage ich zu behaupten, dass sich die beiden in Slowenien spielenden Bücher nur adäquat übersetzen lassen, wenn man über genaue Kenntnisse der hiesigen Bergwelt verfügt und sie am eigenen Leib erlebt hat. Ohne jemals einen Fuß in diese besonderen Landschaften gesetzt und einige der erwähnten Gipfel selbst bestiegen und dabei qualvoll gelitten und ekstatische Freude erlebt zu haben, lässt sich die Intensität, die aus den enthusiastischen Natur- und Tourenbeschreibungen der beiden Autoren spricht, nicht nachempfinden und damit auch nicht angemessen sprachlich nachbilden.

Darüber hinaus liefern diese Übersetzungen auch viele Argumente für die These, dass ein guter Übersetzer nicht nur über bilinguale, sondern auch bikulturelle Kompetenzen verfügen sollte. Wörter existieren eben nicht in einem luftleeren, sterilen Raum und haben keine vom jeweiligen Nutzungskontext unabhängige, feste Bedeutung, wie es die auf vorprogrammierten Algorithmen basierenden Online-Übersetzungstools nahelegen. Um in der Zielsprache lebendig werden zu können, brauchen Wörter eine Umgebung, in der sie atmen können. Erst durch diesen unmittelbaren Kontext, in den sie eingebettet sind, erhalten sie in den Köpfen der Leser eine konkrete Bedeutung. Im Gegensatz zur Maschine weiß der Übersetzer, dass es sich bei den im Wörterbuch stehenden Bedeutungen zunächst nur um potenzielle handelt, die erst durch den an den jeweiligen Kontext angepassten Sprachgebrauch in der Vorstellungswelt der Leser lebendig werden. Beispielsweise gibt es für den Gipfelgrat eines Berges je nach seiner Form eine Reihe von deutschen Begriffen, die ganz unterschiedliche visuell-räumliche Assoziationen hervorrufen und keine Synonyme sind. Bei einem Bergrücken denke ich an eine eher rundliche, sanft nach beiden Seiten abfallende Kuppe, während das Wort Kamm das Bild eines horizontal verlaufenden, zackigen Felsbandes heraufbeschwört, von dem schroffe Wände steil in die Tiefe ragen. Ein schmaler Kamm wiederum wird Kante genannt und ist diese besonders scharf ausgeprägt, spricht man von einer Schneide.

© Vid Brezočnik

Nun kommt es aber immer wieder vor, dass sich bestimmte ausgangssprachliche Wörter oder sogar Passagen in der Zielsprache nur schwierig zum Leben erwecken lassen, was oft damit zu tun hat, dass die im Gedächtnis gespeicherten und beim Lesen eines bestimmten Worts aktivierten Vorstellungen nicht mit denen übereinstimmen, die ein Leser des Originals hat. Ein gutes Beispiel dafür findet sich im ersten Kapitel von Pot, in dem der Autor beschreibt, wie er während eines Krankenhausaufenthalts in seiner Kindheit als einziges Kind auf der Station Bananen und Orangen bekam und keine leckeren Brötchen wie die anderen jungen Patienten (er litt nämlich an Zöliakie). Da er Heißhunger auf die Brötchen hatte und die anderen Kinder scharf auf sein Obst waren, organisierten sie hinter dem Rücken des Personals eine Tauschbörse: Für zwei Bananen oder für eine Banane und eine Orange erhielt er ein Brötchen. Im slowenischen Original beginnt diese Passage wie folgt: „Ich erinnere mich … Damals war es noch schwierig mit Obst.“ Als Zaplotnik den Text zu Beginn der 1980er Jahre schrieb, war Slowenien noch Teil des sozialistischen Jugoslawiens. Er konnte davon ausgehen, dass die slowenischen Leser diese Referenz zum damals herrschenden Mangel an Südfrüchten erkennen würden. Dagegen wäre deutschen Lesern (zumindest denen, die nicht in der sozialistischen DDR gelebt haben) bei einer wörtlichen Übersetzung nicht automatisch klar, was der Autor damit meint, dass es damals schwierig mit Obst war. Um diese kulturelle Wissenslücke zu schließen, fügte ich eine Erklärung hinzu: „Ich erinnere mich … Im damaligen Jugoslawien war Obst noch ein seltenes Gut.“ Natürlich wird der deutsche Leser durch die klare Markierung Jugoslawiens als längst vergangene Ära der Illusion beraubt, sich (mental) mit dem Autor in dessen Zeit zu befinden, doch da seit der Veröffentlichung des Originals mehr als 40 Jahre vergangen sind und auch der slowenische Leser diese Passage durch das einführende „Ich erinnere mich“ und das anschließende „Damals“ als einen Blick zurück liest, hielt ich diese starke Veränderung für vertretbar.

© Vid Brezočnik

Gerade beim literarischen Übersetzen, wo es ja auch darum geht, den Leser in fremde Welten zu versetzen, muss man allerdings aufpassen, dass man es mit der Anpassung an das Zielpublikum nicht übertreibt. Um die Ausgangskultur erlebbar zu machen, ist es heutzutage gängige Praxis, gewisse verfremdende Elemente oder Realien (z. B. Namen von Orten und Speisen) beizubehalten. Die entscheidende Frage ist immer, wo man hier die Grenze zieht, denn allzu fremd soll dem Leser der Text ja dann auch nicht vorkommen. Es geht mir mit dem Orangenbeispiel aber auch gar nicht um die Frage, ob ich mit meiner Übersetzung das richtige Maß bei dieser Grenzziehung gefunden habe. Vielmehr will ich damit verdeutlichen, dass man als Übersetzer eben keine Maschine ist, die keine individuellen Entscheidungen trifft und sich ganz in den Dienst einer möglichst wortgetreuen Übertragung des Originals stellt. Was den Verstehensprozess betrifft, sind wir Übersetzer, im Gegensatz zu den späteren Lesern, keine „normalen“ Textrezipienten. Aufgrund unserer berufsethischen Verpflichtung, dem Original möglichst treu zu sein, können wir über eine schwer verständliche Passage nicht einfach hinweglesen. Wir müssen Farbe bekennen und uns auf ein bestimmtes Verständnis der entsprechenden Textstelle festlegen. Hinzu kommt, dass wir uns auch Gedanken darüber machen müssen, ob wir den Zieltext dem Verstehenshorizont des Zielpublikums anpassen, wodurch es eventuell erforderlich wird, etwas zu erklären, hinzuzufügen oder wegzulassen.

Beim Übersetzen der Transverzale, die voller Anspielungen auf slowenische Literatur und Volkssagen ist, war besonders viel Kultursensibilität vonnöten. In einem Kapitel taucht beispielsweise die Sagengestalt Zlatorog auf, bei deren Erwähnung sich vor dem inneren Auge jedes halbwegs gebildeten slowenischen Lesers sofort die ganze Geschichte dieses Nationalmythos abspielt, nämlich die eines imposanten wilden, weißen Steinbocks mit goldenen Hörnern, der auf dem Triglav über einen paradiesischen Garten wacht, den er aus Wut über einen Wilderer, der ihm nach dem Leben trachtet, zerstört und die Gipfelregion des Triglav in eine Steinwüste verwandelt. Wenn man empfänglich für solche Sagen ist, kann man noch heute in den zerklüfteten Felsen die Spuren des Wütens seiner goldenen Hörner erkennen. All das schwingt beim Lesen des Worts Zlatorog mit und ginge im Deutschen bei einer Beschränkung auf die wörtliche Übersetzung Goldhorn verloren. Eine Übersetzungsmaschine wäre wohl kaum in der Lage, dieses Dilemma zu erkennen und eine intelligente Kontextualisierung vorzunehmen, denn ihr fehlen zwei entscheidende (menschliche!) Tugenden: Kreativität und Verantwortungsbewusstsein. Die Frage, ob ich wörtlich oder frei übersetzen oder einen Mittelweg einschlagen soll, lässt sich nie absolut, sondern immer nur situationsbezogen beantworten, im Sinne einer spezifischen Problemlösungsstrategie, bei der ich zwischen der Loyalität gegenüber dem Original, dem Übersetzungsauftrag (z. B. der Vorgabe des Verlegers, altertümlich klingende Passagen zu modernisieren) und den von mir antizipierten Erwartungen des Zielpublikums abwägen muss. Natürlich muss man der künstlichen Intelligenz zugutehalten, dass sie lernfähig ist, doch ich bezweifle, dass sie sich in absehbarer Zeit so etwas wie ein berufsethisches Gewissen antrainieren und sich der Verantwortung dieser ständigen Abwägungsprozesse beim Übersetzen bewusst wird. Erst wenn eine Maschine beim Übersetzen der Frage „Sind Sie stolz ein Deutscher zu sein?“ aufgrund der unrühmlichen deutschen Vergangenheit zu grübeln anfängt, müssen wir Übersetzer uns ernsthafte Sorgen um unsere berufliche Zukunft machen.     

 

25.09.2023
PDF

Der promovierte Translationswissenschaftler Lars Felgner (wissenschaftliche Schwerpunkte: medizinisches Fachdolmetschen und nonverbale Kommunikation) lebt und arbeitet seit 23 Jahren in Slowenien. Er ist an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana angestellt, wo er deutsche Gegenwartssprache, journalistisches Arbeiten, Rhetorik sowie Übersetzen vom Slowenischen ins Deutsche unterrichtet und an der Ausbildung von Dolmetscher*innen mitwirkt. Freiberuflich ist er als Rhetoriktrainer und Übersetzer tätig. Er übersetzt vor allem historische, philosophische, kultur- und musikwissenschaftliche Texte und Bücher vom Slowenischen und Englischen ins Deutsche. Die drei zuletzt von ihm übersetzten Romane gehören zum Genre der in Slowenien äußerst populären Bergliteratur. In 2023 vertritt er Deutschland in der dreiköpfigen Fachjury, die über den Preisträger bzw. die Preisträgerin des renommierten Fabjan-Hafner-Preises für die beste Übersetzung vom Slowenischen ins Deutsche entscheidet. Wenn er nicht hinter dem Schreibtisch sitzt oder vor seinen Studierenden steht, ist er mit Vorliebe in den slowenischen Bergen unterwegs.     

Verwandte Artikel
Cities of translators: Ljubljana
Tanja Petrič und Amalija Maček
Ljubljana hat gegeben. Wird es auch nehmen?
27.09.2023
Video | Nächste Haltestelle: LJUBLJANA
Schreiben über Übersetzen | Suchen nach dem Übertragen
25.09.2023
Die Gesichter entlang meines Werdegangs
25.09.2023
Ljubljana: Mein umgekehrtes Babylon