Übersetzung und Politik
Obwohl die beiden Begriffe, Übersetzung und Politik, im Bereich der Ideengeschichte in ganz unterschiedliche Richtungen streben, führt sie ihr Weg hinsichtlich ihres Bezugs auf die Kategorie der Alterität wieder zusammen. Der folgende Essay beleuchtet die Zusammenhänge zwischen Politik und Übersetzung vor dem Hintergrund des Begriffs der Alterität, wobei besonders auf die Konzepte der Identität und der Einheit eingegangen wird, um die Möglichkeit einer Übersetzungspolitik zu hinterfragen.
Heutzutage geht der Begriff der Übersetzung weit über seine sprachliche Bedeutung hinaus, die entweder als Übersetzung von einer Sprache in eine andere oder als Übersetzung innerhalb einer Sprache, also als Selbstreflexion, verstanden wird. Als Erfahrung eines radikalen und unüberwindbaren Anderseins, als Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, ist der Begriff der Übersetzung selbstverständlich ein geeignetes Mittel, um aktuelle Probleme in den Bereichen der Philosophie und der Politik in neuem Licht zu betrachten. Er ermöglicht uns eine neue Herangehensweise an Problematiken wie die der Universalität, der Aussichtslosigkeit der Identitätskonstruktion, der Forderungen nach Anerkennung von Andersartigkeit und Identitätsansprüchen, dem schwierigen Verhältnis von Anders- und Gleichartigkeit, von Ausgrenzung und Inklusion, etc.
An dieser Stelle sind zwei Bemerkungen angebracht. Zunächst müssen wir uns von der Alternative übersetzbar und unübersetzbar lösen, wie Ricœur in seinem Buch Sur la traduction bemerkt: Sprachen wären dabei entweder radikal verschieden und Übersetzung würde somit illegitim, oder aber, die Übersetzung ist eine Tatsache. Dann muss ihre Möglichkeit durch eine Untersuchung des Ursprungs oder durch eine Rekonstruktion der Voraussetzungen dieser Tatsache legitimiert werden.
Weiterhin muss man sich von der geläufigen Ansicht distanzieren, alles sei übersetzbar. Übersetzen wäre dieser Vorstellung zufolge „das Gleiche anders ausdrücken“. Dabei ist die Bedeutung von Übersetzung eben die Andersartigkeit dieses Gleichen, oder auch, das Gleiche im Anderssein. Was also ist dieses Gleiche, das sich verändert und dabei doch ein und dasselbe bleibt? Und wie kann man sichergehen, dass dieses „Ding“, also das, wovon beispielsweise Spinoza, Shakespeare oder Freud reden, von einer Sprache in die andere übergeht – und dies trotz der Schwierigkeit ihre Worte zu übersetzen?
Die von Ricœur vorgeschlagene Lösung besteht darin, sich von der lähmenden Alternative - übersetzbar vs. unübersetzbar - zu verabschieden und stattdessen davon auszugehen, dass die Übersetzung, und sei sie im Extremfall unverständlich, doch in jedem Fall praktikabel ist. Die Übersetzung bleibt also eine riskante Angelegenheit, da sie nur auf eine vermeintliche Äquivalenz abzielen kann, eine Äquivalenz ohne Identität, eine Äquivalenz, die immer auf einer „épreuve de l’étranger“, also der Erfahrung des Fremden beruht, um es mit den Worten des Buchtitels von Antoine Berman auszudrücken.
Übersetzen hat zwar mit verschieden Sprachen zu tun, was aber innerhalb einer Sprache geschieht, ist eine Auswirkung der Andersartigkeit auf die Identität der Sprache. Somit könnte man Übersetzung als eine Art „Dezentrierung“ bezeichnen. Denn das „Sprechen einer Fremdsprache“ verschiebt sich: das „Fremde“ rührt nicht mehr von der Sprache des Anderen her, sondern von der Fremdheit der eigenen, meiner befremdlichen Sprache.
Ricœur zufolge besteht die Möglichkeit der Übersetzung in der Akzeptanz der unüberwindbaren Andersartigkeit des Eigenen und des Fremden. Und ihm zufolge ist es die Psychoanalyse, die uns an eine „hospitalité langagière“, also eine Gastfreundschaft der Sprachen, heranführt, bei der es darum geht – ohne zu hoffen, die Lücke zwischen Eigenem und Fremdem schließen zu können – in der eigenen Sprache das Wort des Fremden zu begrüßen.
Wenn sich nun der psychoanalytische Ansatz bei allen Überlegungen zu Übersetzung aufdrängt, dann, weil ihre Praxis auf der Begrenztheit von Übersetzung beruht. Seit Beginn der Psychoanalyse spielt Übersetzung eine Rolle, weil übersetzen, aus psychoanalytischer Sicht, in gewisser Weise bedeutet, das zu ergründen, was mit Worten nicht gesagt wird, aber was sie bewirken. Wie ein bestimmter Aspekt des Übersetzens, gewinnt die Psychoanalyse das aus der Sprache, was bei der Übersetzung verloren geht. Der kleine Rest, der nicht überspringen will, das Unterbewusste, ein Wissen außerhalb jeglicher sozialen Normen, denn es lässt sich nicht mitteilen.
Jedoch heißt Übersetzung in der Psychoanalyse nicht das Gleiche wie in der Philosophie. Was in der Philosophie als eine gelungene Übersetzung gilt, funktioniert von Sprache zu Sprache. Sie stützt sich auf Grammatik und Wörterbücher. Sie sollte unmissverständlich sein. Deswegen scheuen sich Philosophen nicht, Spinoza auf Französisch, Deutsch, Englisch, oder Slowenisch zu lesen, obwohl er seine Texte auf lateinischer Sprache schrieb.
Wenn man sich aber ausschließlich auf die Grammatik der Sätze konzentriert, läuft man Gefahr, bei der Übertragung jegliche, dem Unterbewusstsein entsprungenen Anspielungen oder Mehrdeutigkeiten zu übergehen. Freud war der Meinung, die beste Art, ein Buch wie Traumdeutung zu übersetzen, ist, ein neues Buch zum gleichen Thema mit anderen Schauplätzen und Beispielen zu schreiben, die der jeweiligen Sprache entsprechen.
Es ist also äußerst wichtig, die Logik, die sich hinter der Übersetzung in der Philosophie und der Psychoanalyse verbirgt, angemessen einzuordnen. So müsste man laut Aristoteles aufhören mit jemanden zu reden, der widersprüchliche Aussagen vertritt. Das jedoch ist genau das, was die Psychoanalyse anbietet: Jemanden, der sich in Widersprüche verstrickt, durch Zuhören zu unterstützen.
Wir schlagen daher vor, die Übersetzung unter der Voraussetzung der Unübersetzbarkeit im Sinne der Psychoanalyse zu beleuchten. Auch wenn sich hier die Begriffe der Übersetzung und Unübersetzbarkeit kreuzen, muss man laut Ricœur zwischen zwei Formen der Unübersetzbarkeit unterscheiden. Zunächst wäre da die anfängliche Unübersetzbarkeit. Diese ergibt sich, laut Ricœur, aus der Pluralität der Sprachen, wodurch Übersetzung von vornherein unmöglich wird, da diese Sprachen per Definition unübertragbar in andere Sprachen sind. Die zweite Form von Unübersetzbarkeit ist das Resultat der Übersetzung selbst, also eine terminale Unübersetzbarkeit.
Man muss demnach zwischen diesen beiden Formen der Unübersetzbarkeit unterscheiden. Einerseits ist sie die immer schon dagewesene Voraussetzung der Übersetzung und andererseits das Resultat, der Rest dessen, was sich der Übersetzung entzieht. Die Unübersetzbarkeit als Voraussetzung wiederum, kann sich auf zweierlei Art äußern: als Angst, etwas nicht ausreichend gut übersetzen zu können und als Auslöser für den Wunsch oder den Drang, etwas zu übersetzen. Und nichts kann die Unübersetzbarkeit so gut bestätigen wie die Erkenntnis, dass es Übersetzungen im eigentlichen Sinne nicht gibt, sondern immer nur eine Vielzahl an Übersetzungen, beziehungsweise Rückübersetzungen.
Das Unübersetzbare manifestiert sich laut Ricœur in der Neigung der Sprache zum Rätsel, zum Kunstgriff, zur Hermetik, zum Geheimnis und um es kurz zu sagen, zur Nicht-Kommunikation. Es zeigt sich in der ureigenen Fähigkeit der Sprache, nicht nur dasselbe auf verschiedene Weisen auszudrücken, sondern auch etwas anderes zu sagen als das, was ist. Also in der Fähigkeit der Sprache, nicht nur alles zu sagen, was sie will, sondern auch das zu sagen, was sie nicht will.
Nun ist das Unübersetzbare aber viel mehr als ein bloßer Rest, der sich der Übersetzung entzieht. Aus diesem Grund ist es auch unzureichend, die Übersetzung nur als Anerkennen des Fremden, der Alterität, zu verstehen, selbst wenn es sich um die Anerkennung des Fremden im Eigenen handelt. Es reicht nicht, das Fremde im Eigenen mittels der von Ricœur ach so angepriesenen Gastfreundschaft aufzunehmen, da diese Gastfreundschaft eine Unüberbrückbarkeit zwischen Eigenem und Fremdem anstrebt.
Man muss vielmehr darauf bestehen, dass die Übersetzung der Ort ist, der die radikale Fremdheit des Eigenen verkörpert, an dem die Alterität des Eigenen Gestalt annimmt und ein für alle Mal die Ich-Identität entmachtet. In diesem Sinne könnte man behaupten, dass Übersetzung der Inbegriff dessen ist, was sich nicht sagen lässt und dennoch gesagt wird, der Inbegriff des Unsagbaren, des Unbeschreiblichen, kurz gesagt, des Unübersetzbaren innerhalb einer jeder Sprache. So betrachtet, bleiben Übersetzungen, selbst die besten, stets Fremdkörper in der übersetzten Sprache. Sie Sprechen eine Fremdsprache in der eigenen Sprache, sind in gewisser Weise immer des Landes Verwiesene oder Immigranten. Man könnte auch sagen, sie gewähren ihrer eigenen Sprache Orte des Exils.
Und als ebendiese Vergegenwärtigung des Unübersetzbaren hält die Übersetzung Einzug in die Welt der Politik, genauer gesagt, in den Aspekt der Universalität als Teil der Politik. Ricœur glaubt, in Walter Benjamins Konzept der reinen Sprache die Tatsache erkennen zu können, dass jede Übersetzung als ihr messianisches Echo die Spuren einer Universalität in sich trägt, die alle zu Fremden ihrer selbst machen würde, zu Staatenlosen der Sprache, zu Exilanten, die die Suche nach dem Asyl einer Aufnahmesprache aufgegeben hätten, kurz: zu „umherirrenden Nomaden“. Dieser Behauptung kann man das Argument entgegenstellen, dass Übersetzung letztlich nichts anderes ist als ein geübter Umgang mit dem Unübersetzbaren.
Genau auf diese Diskrepanz zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit macht uns Umberto Eco in seinem Buch La recherche de la langue parfaite dans la culture européenne (Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997.) aufmerksam. Dort legt er dar, dass man nicht alles in andere Sprachen übersetzen kann und es gerade diese Achtung vor dem Anderen ist, die Europa zu einem Raum macht, in der Übersetzung überhaupt möglich ist.
Während laut Eco Europas Sprache „die Übersetzung“ ist, - also eine Meta-Sprache, die aus allen Äquivalenzen und Versuchen besteht, das „Unübersetzbare“ zwischen den Sprachen zu überwinden – greift Etienne Balibar Ecos Begriff der Übersetzung in seiner Konzeption eines zukünftigen Europas auf, das als „Übersetzungsgemeinschaft“ zu gestalten ist.
Übersetzung als die Sprache Europas vorzuschlagen, bedeutet auch, sich mit einer Übersetzungspolitik, oder vielmehr der Politik des Unübersetzbaren zu befassen. Dabei ist der Begriff der Übersetzungsgemeinschaft oder der Übersetzungskultur nicht einfach ein anderer Ausdruck für Dialoggemeinschaft oder Kommunikationsgemeinschaft, denn das Unübersetzbare als ein vermeintlicher Rest, der sich der Übersetzbarkeit entzieht, ist der Übersetzung als solcher inhärent.
Der sogenannte politische Aspekt der Übersetzung ist also direkt mit der Infragestellung der Unübersetzbarkeit in der Übersetzungspraxis verbunden. Gleichzeitig ermöglicht sie, bestimmte Probleme im Zusammenhang mit dem Aufstreben einer „Übersetzungsgemeinschaft“ besser zu verstehen.
Das Konzept der „Übersetzungsgemeinschaft“ macht jegliche Form der Ausgrenzung oder Segregation unmöglich, denn es gibt uns nicht die Möglichkeit, zwischen einem Innen und einem Außen zu unterscheiden: es lässt sich nicht zwischen denen, die der Gemeinschaft angehören und denen, die ihr nicht angehören, trennen.
Die Voraussetzung für das Gemeinschaftsgefühl, für Zugehörigkeit zu einem Ganzen, ist die Identifikation. Das Problem, das sich uns bezüglich der Übersetzungsgemeinschaft stellt, ist, dass es keinen vordefinierten Bezugspunkt gibt, der diese Identifikation erst ermöglicht. Wie kann nun eine Übersetzungsgemeinschaft gebildet werden, wenn sie sich auf die Verneinung jeglicher Bezugspunkte und die Ablehnung jeglicher Identifikation des Subjektes stützt?
Die Übersetzungspraxis ist insofern eine politische Frage, als dass sie jede Voraussetzung der Zugehörigkeit, das heißt jeglichen Bezugspunkt, der eine Identifikation ermöglicht, anzweifelt. In diesem Ort der Infragestellung eines Bezugspunktes begründen sich Gemeinsamkeit und Unterschied von Übersetzung und Politik.
Aus diesem Grund ist eine Übersetzungsgemeinschaft nur sinnvoll, wenn sie sich der Andersartigkeit stellt. Das, was die Übersetzungsgemeinschaft ausmacht, ist also nicht, sie zu definieren oder zu benennen. Im Gegenteil, sie hat nur dann einen Sinn, wenn sie sich als Ort des „Unheimlichen“ konzipiert, ein Ort der Ungewissheit, an dem man nicht zwischen Mitglied und Nicht-Mitglied unterscheiden kann.
Abschließend ließe sich sagen, dass der Beitrag der Übersetzungspraxis zu politischen Fragestellungen darin besteht, den Wunsch nach Übersetzung, der unter allen Umständen weiterbestehen muss, aufrecht zu erhalten. Wir dürfen uns nicht auf eine Debatte um ein „Europa der Nationen“ oder ein „Europa der Marktwirtschaften“ beschränken, sondern müssen ein „Europa der Besonderheiten“ anstreben. Das ist eine Art, ein Europa zu ersinnen, das der Ausgrenzung entgegenwirkt. So betrachtet muss Europa so lange wie möglich unvollständig, unvollendet bleiben. Nur dann kann Europa das bleiben, wozu es, nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis bestimmt ist: ein Ort der Übersetzung.