Cities of translators Kolkata Meine Vision: College Street Publications

Meine Vision: College Street Publications

In mittelalterlichen Städten war es praktisch: bestimmte Viertel oder Straßenzüge waren bestimmten Tätigkeiten und Produkten zugeordnet. Noch heute findet man Erwähnungen von Tuch-, Buch- und Radmachern, Böttchern, Fleisch- und Knochenhauern in zentral gelegenen Straßennamen. Am deutlichsten ist die Überlagerung von Zweck und Ort noch immer an Marktplätzen: Hier finden, zumindest in Mitteleuropa, oft noch Wochenmärkte statt.

Die Verlagsbranche ist mit ihren verschiedenen Tätigkeiten schon lange nicht mehr an einem einzigen Ort anzutreffen. Ihre Produktionswege sind über die Kontinente und im Internet verteilt.

Eine Autorin schreibt etwa ihre Bücher in Barcelona und schickt dann die Datei per E-Mail. Der Verlagssitz ist in Berlin, von dort geht ein Auftrag für den Buchsatz und den Umschlag an eine Freelancerin in Ulm. Die wiederum schickt per Wetransfer die fertigen Dateien an Druckerei in China oder Osteuropa. Die E-Book-Erstellung läuft automatisiert über den Distributor. Der Verkauf der Bücher schließlich ist extrem von verschiedenen Zwischenhändlern geprägt, die eine hohe Marge nehmen, um die Bücher analog zwischenzulagern und dann über digitale Bestellungen weiterzuschicken, an einzelne Kunden oder den Buchhandel. Einen eigenen Buchladen für den Direktverkauf haben meines Wissens nur wenige Verlage, z.B. der Aufbau-Verlag in Berlin. Verlage, die in Ladenbüros residieren, wie der Mairisch Verlag in Hamburg, verkaufen sicherlich auch direkt durch die Tür.

Und so bin ich in Kalkutta fasziniert von dem Viertel rund um die College Street, wo all das noch anders zu sein scheint. Kalkutta, Kolkata, eine Stadt, die Günter Grass hass-liebte, der ihre Armut und Gleichgültigkeit verdammte, der ihren Lebensmut, ihren Frohsinn im Alltag verehrte. Er widmete dieser Stadt sein Buch Zunge zeigen, was als ein Arschtritt wahrgenommen wurde, und später schrieb er hier Teile seines Romans Der Butt.

Ich kann nicht aufhören, an College Street zu denken, seitdem wir an einem sonnigen Morgen diese Gegend in einem Spaziergang mit Pritha Muhkherjee erkundet haben. Es war ein ruhiger Morgen, in der Feiertagswoche von Durga Puja, dem wichtigsten Fest, das eine Woche dauert. Durga wurde von Shiva und Vishnu erschaffen, um einen bösen Dämon zu besiegen. Man kennt sie besser unter ihrer aggressiveren Ausformung, als Kali, als Göttin der Zerstörung und der Erneuerung. Viele der Buchstände, die wie bei den Bouquinisten in Paris an der Seine aussehen, dicht an dich, aber blau angemalt, waren noch verschlossen. Manchmal war die Straße für ein paar Sekunden menschenleer, in der Ferne, an der nächsten Kreuzung konnte man schon die Kolonne an Taxen, Radfahrern, Bussen, Rikschas erspähen, die bei Grün auf einen zurollen würde.

Zunächst umrundeten wir einen von einem Verein unterhaltenes, künstlich eingezäuntes Bassin, das, obwohl versumpft und an einigen Einstiegsstellen vermüllt, als Schwimmbad genutzt wird. Ich konnte mir das nicht vorstellen, fragte ungläubig nach, aber es wurde mir bestätigt.

Wir näherten uns diesem Viertel dann von hinten, durch die Nebenstraßen, und bald schon sahen wir, was hier das Thema war: Druckwaren aller Sorten, Papierverkauf, Heftverkauf, an den Hauseingängen Schilder wie: „Pressland, Quality Offset Printers“.

Und so wie Günter Grass feststellte, dass man Kalkutta erst dann kennenlerne, wenn man in die vielen kleinen Gassen hineinginge, so trifft das unbedingt auch auf diese Gegend zu. Wobei hier die Gassen sogar recht breit waren, anders als in anderen, ärmeren Teilen der Stadt, wo oft nur noch ein Handkarren durchpasste, von einem Auto ganz zu schweigen. Wo aber auch kaum Müll lag, kleine Strohbesen in den Ecken zeugten davon, dass Unrat entsorgt regelmäßig zusammengekehrt wurde.

College Street ist nicht nur eine Straße, sondern ein gesamtes Viertel. Hier sitzen viele Universitätseinrichtungen, Presidency University, The Sanskrit College and University, City College of Commerce & Business Administration. Überall hängen Plakate für Workshops und selbstständige Weiterbildung an den Mauern. Man soll lernen. Nur dann geht es voran. An den Universitätsgebäuden dürfen wir uns übrigens nicht lange aufhalten, nur kurz gucken und weitergehen. Denn es gibt derzeit keine Versammlungsfreiheit in Indien. Jedes Versammeln, sei es auch nur als eine an der Stadtgeschichte interessierte Touristengruppe, wird misstrauisch beäugt und sofort aufgelöst.

Und hier soll unser fiktiver Verlag entstehen. Denn: „Wäre das nicht etwas“, fragt mich Jürgen Becker, der Geschäftsführer des Deutschen Übersetzerfonds, „hier einen Verlag zu haben?“ „Und ja“, das wäre etwas, denke ich, und ich denke dann immer weiter. Die Konzentration auf alle Tätigkeiten der Buchproduktion, die man hier vorfindet, mutet mir geradezu paradiesisch an. Sie ermöglicht, klein anzufangen, improvisieren zu können, mit der kompletten Infrastruktur im Rücken.

Die College Street selbst ist etwa 1,5 Kilometer lang und dort, wo die Buchstände beginnen, ohne Unterbrechung auf beiden Seiten von ihnen gesäumt. Die Geschäfte sind sehr klein, etwa 4 Quadratmeter groß, wie die kleinste Butze auf der Frankfurter Buchmesse. Darin sitzen im Schneidersitz die Verkäufer oder davor auf einem Hocker, vor allem Männer. Die Bücher sind hier Stapelware. Eng gequetscht. Morgens kommen aus den Seitenstraßen per Hand gezogene Karren, voll beladen mit frisch gedruckten Produkten, eingeschweißt in dicke Pakete, mit knallbunten Covern und Rücken.

Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass vor allem academic books verkauft werden, also Seminare und Vorlesungen begleitende und auf Prüfungen vorbereitende Textbücher, für Management, Adminstration, Computing, Physics, Chemistry, Marketing, Accounting. Aber die Gründerin des neuen Verlags Rik Publishing House, die Übersetzerin Moumita Bhattacharyya, berichtet mir, dass man an den Ständen alles bekäme. Man müsste nur fragen. Sie publiziert einmal im Jahr ein dickes, 150-seitiges Kinder-Magazin, für die Zeit der Durga-Festtage, welches sie dann an den Ständen verkaufen lässt. Das Neue würde aber immer vorne liegen. Wikipedia erwähnt, dass der Spitzname der College Street auch „Boi Para“, Bücherkolonie, sei, was natürlich in einem Land, das lange kolonialsiert wurde, wie ein intellektueller Witz anmutet. 2007 nahm das Time’s Magazin die Gegend übrigens in seine Liste für „Best of India“ als wichtige Sehenswürdigkeit auf. Book Tourism!

Unser Vorhaben, hier einen Verlag zu gründen, hat Vorbilder. Denn viele wichtige bengalische Verlage sitzen in der Gegend. Näher an Produktion und Verkauf können sie –vielleicht auf der ganzen Welt – nicht kommen: etwa Ananda Publishers, DasGupta and Company Pvt. Ltd, Dey's Publishing, Rupa & Co, Parul Publishing. Und klar, ohne die Verlage gäbe es diese gesamte Infrastuktur aus Verkaufsständen und Produktionsstätten sicherlich gar nicht. Was war zuerst da: das Buch oder der Verlag?

„Der Verlagsname muss auf jeden Fall irgendetwas mit education sein“, sagt Christian Filips, selbst Verleger, bei roughbooks, „sonst hast du in Indien keine Chance.“ Ich glaube ihm sofort, denn er ist hier literarisch bereits gut vernetzt. Ich wünsche mir, dass dann seine Tea Poetry-Collection in dem neuen Verlag erscheint.

Also: College Street Publications. Oder auf Bengali: College Street Prakashani.

Wir machen einen Zwischenstopp zum Weiterdenken im Indian Coffee House, in der Nebenstraße Bankim Chatterjee Street gelegen. Entlang von Bücherständen im Hausflur, wo unter anderem auch Hitlers Mein Kampf (auf Englisch) angeboten wird, gehen wir ein Stockwerk nach oben. In einem hohen Raum, von einem Balkon umlaufen, summen Ventilatoren. Quadratische, schrabbelige Holztische mit vier Plastikstühlen stehen ordentlich in Reihen verteilt, und ein überlebensgroßes schwarz-weiß-Foto des indischen Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore hängt hinten an der Wand. Er hat hier oft gesessen, wie so viele der bengalischen Intelligentsia. Dort, direkt in seiner Nähe, schieben wir ein paar Tische zusammen und setzen uns hin.

© Heritage Walk Calcutta

Dieses Indian Coffee House, dessen Vorgänger schon 1876 gegründet wurde, wird von der Coffee Workers’ Union betrieben, ist also ein letztes Relikt aus basis-sozialistischen Zeiten von Arbeitervereinigungen. Etwa 400 solcher kooperativen Kaffeehäuser mit demselben Namen existieren im ganzen Land: Es geht auch ohne Starbucks. Ähnliche aus dem Land stammende Coffee Shop-Ketten habe ich übrigens auch in Kenia (Java House) und in Bolivien (Alexander Coffee) erlebt, ebenfalls wunderbaren Kaffee produzierende Länder. Warum auch sollen sie ein US-amerikanisches Kaffee-Konzept importieren, wenn sie selbst eine eigene Kaffeekultur haben?

Wir trinken süßen Kaffee, es gibt ihn nur so. Bedienstete in weißen Kitteln mit steilen weißen Mützen servieren ihn, während Pritha uns erklärt, dass hier schon länger Druckereien ansässig waren. Dass sie unterhaltsame Bildgeschichten unter die Leute gebracht haben, in denen es um typische Yellow Press-Themen wie Mord und Totschlag, Ehekrise und Liebe ging, in aktuelleren Versionen aber auch um Weltpoltik, etwa um 9/11, und das nach einiger Zeit nur noch die beliebtesten Bilder dieser Bildgeschichten als Einzelposter überlebten, welche sozusagen in nuce den tipping point und die Lösung zeigten. Eine ganz eigene visuell-narrative Form.

Mich fasziniert insbesondere eine weiße Tafel in der Nähe der kleinen Bar: „Voice of Kolkata“ steht dort auf Englisch und auch nochmal auf Hindi und Bengali. Hier kann jeder und jede, der oder die möchte, eine Notiz hinterlassen, eine Nachricht, oder einfach nur einen Gedanken, ein Gedicht, eine Telefonnummer, eine Liebeserklärung, ein Manifest.

Hier würde unser Verlag starten. Hier würden wir unsere Autor·innen, Grafiker·innen, Setzer·innen, Geschäftspartner·innen treffen, sie gleich danach mit zu unseren Verlagsräumen nehmen, idealerweise direkt im gleichen Gebäude. Denn auch hier befinden sich in etwa 60 Quadratmeter großen Räumen Verlagsbüros. In einen bin ich einfach eingetreten, denn die Tür stand auf, und habe eine Foto gemacht, natürlich vorher darum bittend.

Vielleicht könnten wir in einem dieser Räume eine Ecke für einen Schreibtisch mieten? Erstmal nur für 3 Monate? Mehr brauchen wir erstmal nicht. Achja, ein Regal wäre toll, ein Drucker – und WLAN. Danke!

Wir würden kleine Bücher publizieren, vielleicht würden wir mit den Walks von Heritage Walk Calcutta anfangen (wenn sie wollen!). Kleine kulturhistorische, sozialhistorische Tourguides, die man auf Spaziergängen mitnehmen kann oder die man zur Vorbereitung lesen kann. A6. Japanisches Format. Für die Tasche. Zu einem günstigen Preis, ca. 80 Seiten, ein längerer Essay oder mehrere kürzere Kapitel. Wir würden sie auf Englisch, vielleicht auch Bengali drucken lassen, wenn wir uns noch Mitarbeiter wünschen könnten, direkt um die Ecke, vielleicht bei Pressland.

Wir könnten auch Erzählungen, Novellen, kurze Romane deutschsprachiger AutorInnen in Übersetzung auf Englisch und vielleicht auf Bengali, vielleicht auch auf Hindi herausbringen. Dafür müssten wir dem auch in Kolkata ansässigen Verlag Seagull ein wenig Goethe-Instituts-Übersetzungsförderung abluchsen. Wir würden neue Literaturen suchen und finden, auch die neue Internet-Literatur, die es auf Bengali gibt. Eine Neuübersetzung aus dem Bengalischen ins Deutsche von Tagore wagen, zusammen mit Subroto Saha, unserem Begleiter, Übersetzer etwa von Paul Celan. Oder kleine Vorlese-Klassiker. Kinderbücher! Wir würden DER Stand werden für neuartige, moderne, zeitgenössische general books, denn so werden alle Bücher hier genannt, die nicht academic sind. Wir könnten mit College Street Publications ein kleines Nadelöhr sein, um die Vielsprachigkeit dieser Stadt für englischsprachige LeserInnen sichtbar zu machen. „There is no such thing as a monolingual city“, erklärte uns die kanadische Professorin Sherry Turkle: „All cities have their own sound.“ Wir würden ein bisschen Berliner Sound hinzufügen.

Und wir würden von Stand zu Stand gehen und fragen, wer unsere Bücher in Kommission nehmen könnte.

Oder nein, am besten hätten wir selbst einen Stand, er hieße „College Street Publications“. Denn hier in Kalkutta liegt noch alles so nahe. Bisher ist es nur eine Idee, aber wie der bengalische Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Essayist Chinmoy Guha zu uns sagte: „We need ideas, otherwise our lives would be dusty and boring.“

Natürlich brauchen wir auch digitale Ausgaben. Hier könnten wir bei Parul Prakashani anfragen. Einer der Lektoren dort ist Mahbrouk Chakraborty, der auch als Lehrer arbeitet, aber auch Dichter ist, denn er schickte mir per WhatsApp nach unserem Treffen hin und wieder ein Haiku-artiges Kurzgedicht auf Englisch. Er betreut die digitalen Lizenzen. 100 E-Books würden sie pro Tag verkaufen, die Digitalisierung würde im Übrigen sehr günstig sein.

Als ich mich am Abend im Hotel dusche, mache ich kurz die Augen zu.



Als ich sie wieder öffne, ist das Wasser schwarz. Kurz erschrecke ich mich, wo kommt da her? Dann gewöhne ich mich daran. Die Seife muss ja auch runter. Und auch Kali, die Göttin mit ihren drei roten Augen, ist schwarz. Ihre Nachbildungen, angefertigt für die Festwochen, werden gerade Abend für Abend in den Hoogli River geworfen. Vielleicht grüßt sie mich durch den Duschkopf. Immerhin hab ich einen Duschkopf.

Auf der Terrasse mit Blick auf eine beleuchtete, renovierte Kolonialvilla, umgeben von grün-saftiger Vegetation, steht später wieder sehr viel Personal herum, aber wir müssen lange warten. Es ist nie ganz klar, wer für was zuständig ist. In der Ferne explodieren Böller. „Wie der Tanz auf einem Vulkan“, sagt Aurélie Maurin, Übersetzerin und Projektleiterin von Toledo. Denn draußen auf der Straße schlafen Menschen, während wir ein Bier bestellen, das so viel kostet wie 30mal Streetfood-Essen, vermute ich.

Brauchen die Menschen hier wirklich Bücher? Ja, denke ich, die Frage ist nur, welche und zu welchem Preis und mit welchen Inhalten. Und günstiger und kundennäher als hier kann man sie wohl nirgendwo herstellen und verkaufen. Und da hier fast jeder mindestens drei Sprachen spricht, Hindi, Bengali und Englisch, sind die Übersetzer auch nicht weit.

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