Cities of translators Minsk Die belarussischen Bibelübersetzungen als heldenhafte Tat:
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Die belarussischen Bibelübersetzungen als heldenhafte Tat:

Per aspera ad aspera

I. Die Bibel als übersetzter Text
II. Die belarussische Bibel

I. Die Bibel als übersetzter Text

Literaturübersetzungen ermöglichen und steigern nicht nur das wechselseitige Verständnis von Kulturen, sondern synchronisieren diese auch. Ideen, Motive, Bilder, Metaphern - die Errungenschaften eines kulturellen Raums gelangen in den  freien Gebrauch eines anderen, treten dort in Resonanz mit dessen schöpferischen Schwingungen und werden möglicherweise zur Grundlage neuer Ideen, Motive, Bilder und Metaphern. So lösen Übersetzungen eine gegenseitige Bestäubung der gesamtmenschlichen intellektuellen Sphäre in Gang und geben letztlich Einblick in den Zustand der gesamten Zivilisation. In einer gemeinsamen intellektuellen Sphäre zeichnen sich die Gipfel des Schaffens ab, werden moralische Landmarken und ästhetische Ideale deutlich, bilden sich Vorlieben und literarische Stile, Schulen, Trends, usw. Übersetzungen weben somit einen gemeinsamen menschlichen Raum, aber auch eine geteilte menschliche Zeit, in der alles simultan geschieht, bereits geschehen ist und noch geschehen wird: Übersetzungen arbeiten mit Texten aus naher und ferner Vergangenheit, die durch das neue kulturelle Umfeld im Jetzt aktualisiert werden und sich an zukünftige Kulturen richten.

Die Bibel ist das am häufigsten übersetzte Buch der Menschheitsgeschichte. Bei mehr als siebentausend lebendigen Sprachen weltweit verfügen etwa die Hälfte nicht über eigene Schriftsysteme. Die Bibel wurde, zumindest teilweise, in etwa drei­ein­halb­tau­send Sprachen übersetzt, möglicherweise also in alle schriftlichen Sprachen. In gewisser Weise ist sie somit der universelle Text aller Schriftkulturen.

Doch was macht die Bibel als übersetztes Buch aus? Verbreitet wurde sie auf der Welt gemeinsam mit dem Christentum. Und die Bibel der Christen ist und war in ihrem Ursprung immer ein übersetzter Text! Die Geschichte ihrer Übersetzung beginnt bereits einige Jahrhunderte vor dem Christentum, mit der Übertragung der für die Hebräer heiligen Bücher ins Griechische – die lingua franca der zivilisierten Welt. Diese vollzog sich schrittweise durch die Hebräer selbst (größtenteils in Alexandria und vermutlich für die Sammlung der Bibliothek von Alexandria). Bei der Septuaginta – so lautet der Name der ersten hebräischen Bibelübersetzung ins Griechische – handelt es sich um ein Übersetzungsphänomen der Antike, denn die ersten drei Jahrtausende der Schriftkultur v. u. Z. brachte nur wenige Übersetzungen hervor, während hier ein ganzes Korpus von Texten gezielt und in Gänze in eine andere Sprache übertragen wurde.

Papyrus Fouad 266, Fragment der Septuaginta Übersetzung, Deuteronomium 31:28-32:7. 1. Jahrhundert v. Chr.

Letztlich öffnete sich somit eine gesamte Kultur für neue Kontexte und wurde selbst zum Kontext neuer kultureller Traditionen. 

Im griechischsprachigen Neuen Testament wird die hebräische Bibel bereits nach der Septuaginta zitiert. Somit lasen die Christen die Bibel praktisch nie im Original und nahmen sie doch immer als ihre heilige Schrift an. Nur die griechischsprachigen Christen lasen das Neue Testament in seiner Originalsprache, während sowohl das Alte als auch das Neue Testament die restlichen Sprachtraditionen des sich beständig verbreitenden Christentums in übersetzter Form erreichten.

Hier zeigt sich eine weitere Besonderheit der Bibel als Phänomen der Zivilisation:  Sie ist ein übersetzter Text, wird von ihren Rezipienten verschiedener sprachlicher Hintergründe jedoch nicht als solcher wahrgenommen. Die kollektive Pietät vor dem "wahrhaftigen", “ursprünglichen” Text übertrug sich dabei in vielen Fällen auf die populärsten, einflussreichsten Übersetzungen. Begegnet wurde ihnen wie der einzig denkbaren Quelle biblischer Lehre (und folglich der “absoluten Wahrheit”). So wurde  jahrhundertelang die lateinische Übersetzung aus dem 4.-5. Jahrhundert (seit dem 13. Jahrhundert unter dem Namen Vulgata) in Westeuropa und die altkirchenslawische Übersetzung des 9. Jahrhunderts in Ländern der kyrillischen Schrifttradition wahrgenommen, die selbst zu Zwecken der Bibelübersetzung erschaffen wurde, während die syrische Fassung, genannt Peschitta, sich in der großen Region des östlichen Mittelmeerraums verbreitete, usw. Der belarussische Priester und Denker Pater Alexander Nadson (1926–2015) pflegte zu erwähnen, wie eine Gemeindeangehörige auf die Frage, wie wichtig es sei, die Bibel im Original zu kennen, sagte: „If English was good enough for St Paul, it is good enough for me" ("Wenn Englisch für den heiligen Paulus gut genug war, dann ist es auch für mich gut genug."). Auf Grundlage ihrer Bibelkenntnisse war sie fest davon überzeugt gewesen, dass die Apostel das Wort Gottes auf Englisch in die Welt getragen hatten.

Pater Alexander Nadson (1926–2015), Übersetzer des Psalters und Teilen des Neuen Testaments ins Belarussische. Foto © Mikalaj Patškajeŭ. 

Jede Kultur verfügt über eine eigene Übersetzungsgeschichte der Bibel. Was diese Geschichten jedoch eint, ist eine in unterschiedlichem Maße vorhandene  kulturstiftende Rolle der Bibelübersetzungen. In vielen Sprachen haben sie zur Entwicklung der jeweiligen Literatursprachen beigetragen. Einige von ihnen entstanden in den frühen Jahrhunderten u. Z. dank der Bibelübersetzung, wobei ihnen unterschiedliche, auf die jeweiligen Sprachen angepasste Alphabete zukamen. So entstanden das Gotische und Armenische beispielsweise im 4. Jahrhundert, das Georgische im 5. und das Altkirchenslawische im 9. Jahrhundert.

Erste Seite des Codex Argenteus (lateinisch "silberner Kodex"), 5.-6. Jahrhundert, Bibelübersetzung ins Gotische von Bischof Wulfila (Wulfila, Ulfilas, 310–383) im 4. Jahrhundert. Das gotische Alphabet wurde von Wulfila zum Zweck der Bibelübersetzung entwickelt.

Deutsche Gravur „Wulfila erklärt den Goten das Evangelium“ aus dem Jahr 1900.

Armenische Fassung der vier Evangelien. Manuskript aus dem 12. Jahrhundert. Ins Armenische übersetzt wurde die Bibel im 4. Jahrhundert von Bischof Mesrop Maschtoz, 361–440, der auch als Erfinder des armenischen Alphabets gilt.

Bischof Mesrop übersetzt die Bibel“. Miniatur aus einem Manuskript von 1776.

Georgisches Evangelium von 1030. Das georgische Alphabet entstand zusammen mit der Bibelübersetzung ins Georgische im 5. Jahrhundert.

Psalter in slawischer Bibel. Bulgarien oder Serbien, 15. Jahrhundert.

„Die heiligen Kyrill und Method halten die Kyrilliza“. Fresko des bulgarischen Ikonenmalers Z. Zograf von 1848, Kloster Trojan.

Einige dieser Alphabete finden nicht nur bis heute Verwendung, sondern sind für ihre Sprecher zu gewissen Knotenpunkten ihrer nationalen und kulturellen Identität geworden. Viele der modernen europäischen Sprachen (Deutsch, Englisch, Tschechisch, Polnisch, usw.) wurden im Zuge des 16. und 17. Jahrhunderts unter dem Einfluss ihrer frühen Bibelübersetzungen zu Literatursprachen.  

Dass die Bibel tief in die Materie der europäischen Kulturen eindringen konnte, ist ihren Übersetzungen zu verdanken.

„Himmlische Mächte“ von Gustave Doré aus dem Jahr 1866. Illustration zum berühmten Gedicht „Paradise Lost“ (Verlorenes Paradies) von John Milton (1608–1674) mit biblischem Thema.

Biblische Bilder und Motive bilden die Grundlage unzähliger Werke in Kunst, Philosophie und Literatur – vom frühen Mittelalter – als Europa begann, sich unter Einwirkung des frühen Christentums zusammenzuschließen – bis heute. Als Basistext des Christentums ist die Bibel der wichtigste gemeinsame Text der europäischen Zivilisation. Die heutige westliche Welt, die innerhalb des Christentums (heran)gewachsen ist, betrachtet das Christentum als eines von vielen Phänomenen einer multikulturellen Welt, die frei von jeder vereinheitlichenden Tradition ist, und sieht die Bibel nicht mehr als grandiosen Text, der für jeden kultivierten Menschen selbstverständlich ist. Die Europäer vergessen dabei, dass dieser Text direkt mit ihrem kulturellen und geistigen Ursprung in Verbindung steht. Wie es Ikar im “Poem vom Brunnen“ von Ales Rasanaŭ feststellt,

Es ist nicht Brauch, den Vätern Dank zu sagen
für unser Dasein und für unsere Art.
Zu schweigen längst sind alle einig sich
und einzusehn, daß Väter nicht entsprechen...1

Rasanaŭ. Der Dichter und Denker Ales Rasanaŭ (1947–2021) übertrug die Bibeltexte von Frantsišak Skaryna 1517–1519 ins moderne Belarussisch. Foto: © Tatsiana Aleška.

II. Die belarussische Bibel

Die Geschichte der belarussischen Bibelübersetzungen ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Teilweise erhaben, teilweise gescheitert, teilweise heldenhaft und teilweise tragisch. Sie gleicht einem Faden in einem Knäuel, der, wenn man daran zieht, den gesamten, über tausend Jahre alten Komplex der belarussischen Kultur entwirrt. In diesem kurzen Essay werde ich nicht versuchen, diesen Prozess in seiner Gesamtheit darzustellen, sondern ich werde einige Beispiele herausgreifen, um das außergewöhnliche Schicksal der belarussischen Bibel zu illustrieren.

Frantsišak Skaryna und die frühesten gedruckten Übersetzungen

Die erste Unregelmäßigkeit in der Geschichte der belarussischen Bibel liegt in den ungewöhnlich frühen Anfängen ihrer gedruckten Übersetzungen. Ungeachtet der Tatsache, dass das Großfürstentum Litauen zu Beginn des 16. Jahrhunderts eher am Rande des dramatischen zivilisatorischen Wandels in Europa stand, entstanden die ersten gedruckten Fassungen der Bibel in belarussischer Sprache früher als in den meisten anderen europäischen Sprachen. Die Bibel in belarussischer (oder, wie wir heute sagen, altbelarussischer) Sprache war eine der ersten, die zumindest teilweise vor Beginn der von Martin Luther ausgelösten europäischen Reformation gedruckt wurde.

Martin Luther (1483–1546). Porträt von Lucas Cranach dem Älteren von 1533.

Am Tag der Verwandlung Christi, dem 6. August 1517, druckte der in Polatsk, Belarus, geborene Frantsišak Skaryna, Träger zweier Doktortitel von verschiedenen europäischen Universitäten, seine Übersetzung des 'Psalter' in Prag. Vermutlich in der Absicht, damit den Anfang einer Verwandlung der Kultur seines Heimatlandes zu machen.

Porträt von Frantsišak Skaryna in der Sala dei Quaranta der Universität Padua, gemalt von Gian Giacomo dal Forno zwischen 1938 und 1942.

Titelblatt des Psalters aus der Fassung von Francišak Skaryna. Prag, 6.08.1517. 

Von den von Skaryna in Prag zwischen 1517 und 1519 herausgegebenen Büchern des Alten Testaments sind uns 23 überliefert (wahrscheinlich gab es mehr). Diese Bücher waren keine einfachen Drucke sondern von höchster Qualität. Skarynas Bibel war für ihre Zeit eine der ästhetischsten und innovativsten, insbesondere unter den kyrillischen Drucken. Seine Bücher beinhalten viele hochwertige Illustrationen, darunter Porträts von Skaryna selbst (!), ornamentale Initialseiten, Randverzierungen und originelle Initialen des figurativen Drucks des Endtextes.

Titelblatt der Prager Bibelausgabe von Skaryna, 1517.

Gravur mit Porträt Francišak Skarynas in der Prager Bibelausgabe, 1517.

Titelseite des Hohenliedes. Prag, 1518.

Initialseite zur Prager Bibelausgabe.

Das vierte Buch der Königreiche. Prag, 1518.

Skaryna führte die Titelseite, die fortlaufende Paginierung und die Gliederung des Textes in Absätze mit Einzügen in den kyrillischen Druck ein. Skaryna verzichtete auf die in religiöser Literatur traditionellen Abkürzungen der nomina sacra und anderer sakraler Wörter, was den Text verständlicher machte.

Für jedes Buch der Bibel schrieb Skaryna ein Vor- und Nachwort und versah jedes Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung. In den Vorworten lieferte er kulturkundliche, linguistische und exegetische Informationen, die für seine Zeit fortschrittlich waren, und verfasste – was im frühen 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich war – eine Art Apologetik der Bibel. Darin erklärte er, warum man sie lesen sollte und welchen Nutzen sie für das geistige, intellektuelle und praktische Leben mit sich bringt. Darüber hinaus gab Skaryna die Bibel so heraus, wie es zuvor und auch lange nach ihm keiner getan hat: Statt des seit der Gutenberg-Bibel gebräuchlichen Folio-Formats (in folio) wählte er für seine Bibel das halb so große, leserfreundliche Quartformat (in quarto) und anstelle der feierlichen, gotischen Schrift entwickelte er eine kyrillische Schrift mit Serifen, die auf der damals üblichen Druckweise weltlicher Literatur und Übersetzungen antiker Literatur basierte. All dies weist darauf hin, dass Skaryna die Bibel nicht für den kirchlichen liturgischen, sondern ausschließlich für den weltlichen Gebrauch übersetzte. Seine Bibel sollte den Menschen als Quelle verschiedener Lebens- und Geisteslehren und als kultureller und zivilisatorischer Wegweiser dienen, wie sich aus den auf der Titelseite angegebenen Worten “Ehre sei Gott und gute Lehre den einfachen Menschen” schließen lässt.

Die zweite Unregelmäßigkeit steht entweder im Gegensatz zur ersten oder resultiert  daraus. Der Großteil der in den Volkssprachen des 15.-17. Jahrhunderts herausgegebenen Bibelübersetzungen spielte eine große kulturstiftende Rolle für deren Länder. Auch Skaryna sah seine Arbeit in einer solchen Rolle. Doch seine Übersetzung nahm in ihrem Sprachraum nicht den Einfluss, den sie hätte haben können. Möglicherweise war sie dafür zu früh erschienen und das Land noch nicht bereit, sich den neuen Zeiten zu stellen – diese brachen für das Großfürstentum Litauen erst gegen Hälfte des 16. Jahrhunderts an. Jedenfalls existierte das Land für die nächsten Jahrhunderte, als ob es Skaryna und sein Werk nie gegeben hätte. Bis seine Arbeit geschätzt wurde, mussten viele Generationen vergehen und erst im 20. Jahrhundert wurde Frantsišak Skaryna – der einsame Übersetzer und Verleger der Bibel – zu einer wahren Symbol- und Kultfigur für Belarus.

Etwa zur gleichen Zeit wie Skaryna, gegen Anfang des 16. oder bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts, begann auch die jüdische Gemeinschaft des Großfürstentums Litauen die Bibel ins Belarussische zu übertragen – eine Sprache, die damals nicht nur Kanzleisprache des Fürstentums, sondern auch die lingua franca des gesamten mehrsprachigen, multireligiösen und multikulturellen Landes war – quasi eine Septuaginta 2.0! Wer diese Übersetzung verfasste, wie viele Autoren sie hatte, ob sie fertiggestellt wurde und wie viele Bücher übertragen wurden, wissen wir nicht: Erhalten sind lediglich zehn Bücher in einem Manuskript sowie drei Fragmente aus dem handgeschriebenen hebräischen Lehrbuch aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Scheinbar wurde die Übersetzung nie gedruckt.   

Ein halbes Jahrhundert nach Skaryna unternahm Wasyl Ciapiński einen weiteren Versuch, die Bibel ins Belarussische zu übersetzen und veröffentlichte um 1570 die Evangelien nach Matthäus und Markus sowie ein Fragment des Lukasevangeliums.

Wasyl Ciapiński, 1540–1603.

Ob ihm die Mittel ausgingen oder die Motivation schwand, wissen wir nicht genau, aber dies war der nächste und einzige Ertrag der gedruckten belarussischen Bibel nach Skarynas Werk. Alle anderen Übersetzungen wurden entweder ins Polnische oder aus dem Polnischen ins Belarussische angefertigt. Die erste vollständige Bibel des Großfürstentums wurde auf Polnisch herausgegeben: mit dem Geld des größten belarussischen Magnaten und Staatsmannes Mikalaj Radziwill des Schwarzen erschien 1563 in Brest eine prächtige protestantische (calvinistische) Bibel.

Mikalaj Radziwill ("der Schwarze"), unbekannter Künstler, ca. 1750.

Titelblatt der Brester Bibel, 1563.

Illustrierte Doppelseite der Brester Bibel, 1563.

Dies wiederum sorgte in Polen für eine starke katholische Reaktion, im Zuge derer eine neue polnische Übersetzung der Bibel aus dem Lateinischen durch Jakub Wujek angefertigt wurde (Radziwills Bibel war von einer Gruppe der besten Gelehrten aus den Originalsprachen übersetzt worden).

Anonymes Porträt von Jakub Wujek aus dem 16. Jahrhundert.

Titelblatt der Krakauer Bibel von Jakub Wujek, 1599.

Alle weiteren Fragmente belarussischer Übersetzungen (von Meletius Smotriscius, Laŭrenci Zizani und anderen) aus dem späten 16. bis frühen 17. Jahrhundert basierten auf Wujeks Bibel (d. h. Übersetzungen ins Belarussische nach einer polnischen Übersetzung aus dem Lateinischen!), wobei frühere hochwertige Arbeiten ignoriert wurden.

Anonymes Porträt von Meletius Smotriscius aus dem 18. Jahrhundert.

Laŭrenci Zizani. Miniatur des Originals aus dem 17. Jahrhundert, 18. Jahrhundert.

Die dritte und wohl traurigste Unregelmäßigkeit, die ebenfalls der ersten gegenübersteht und sich aus der zweiten ergibt, ist diese: Trotz der Tatsache, dass sehr früh mit dem Druck belarussischer Bibelübersetzungen begonnen wurde, gibt es bis heute (!) keine vollständige Übersetzung der Bibel in moderner belarussischer Sprache aus ihren Originalsprachen. Weder Skaryna selbst noch seinen Nachfolgern des späten 16. bis frühen 17. Jahrhunderts ist es gelungen, die Bibel ins Belarussische zu übersetzen und vollständig zu veröffentlichen. Ein belarussisches Bibelprojekt war aufgrund der brutalen Polonisierung und späteren Russifizierung des Landes in großen Teilen des 17. und während des 18. und 19. Jahrhunderts praktisch undenkbar. Das 20. Jahrhundert war geprägt von einer Vielzahl an Versuchen. Wir müssen jedoch anerkennen, dass die moderne belarussische Sprache, die über einen umfangreichen literarischen und wissenschaftlichen Textbestand verfügt, vielleicht die einzige Sprache in Europa – und darüber hinaus – ist, in die die Bibel noch nicht vollständig nach modernen Standards übersetzt wurde.

20. Jahrhundert

Im Gegensatz zu den vorangegangenen zweieinhalb Jahrhunderten, war das 20. Jahrhundert reich an Versuchen, die Bibel ins Belarussische zu übersetzen: nicht weniger als 50 Personen machten sich an die Übersetzung verschiedener biblischer Texte ins Belarussische. Für jene, die eine belarussische Bibel brauchten, fiel das Ergebnis dennoch enttäuschend aus, denn eine vollständige Bibel in literarischer, verständlicher Sprache erschien trotz der beachtlichen Mühen nicht.

Nach Aufhebung des Verbots der belarussischen Sprache im Russischen Reich 1906 erlebte der belarussische Buchdruck einen neuen Aufschwung. Der Beginn des Jahrhunderts war geprägt von der dynamischen Entwicklung einer neuen – modernen – belarussischen Identität. Um die Zeitung “Nasha Niva” (dt. “Unser Acker”) gruppierten sich die verschiedensten belarussisch orientierten Kräfte, die gerade diese neue Identität – kulturell, national und politisch – prägten.

Zeitung mit Illustrationen aus der „Nasha Niva“ (Vilnius, 1906–1915). Erstausgabe vom 10/23.11.1906.

Multidirektionale Texte ermöglichten es, verschiedene Schichten der belarussischen Sprache zu nutzen und zu aktualisieren, was sie flexibler und geeigneter machte, um auch die komplexesten Bilder und Ideen zu vermitteln. Nachdem sie dem Verbot entkommen war, erlebte die belarussische Sprache eine Renaissance, und was in dieser Zeit ausprobiert wurde, etablierte sich später als Norm (bis zum Anfang der 1930er Jahre, als die sowjetische Macht einen Kurs zur Annäherung der belarussischen an die russische Sprache unternahm und die sich von der russischen unterscheidende, belarussische Lexik aus den normativen Wörterbüchern und Grammatiken verdrängte, und die Grammatik sowie Syntax "korrigierte"). Man könnte meinen, dies wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen, um die Bibel zu übersetzen, hätte ein so großes linguistisches Projekt doch mit der Wiederbelebung und Literarisierung der belarussischen Sprache harmoniert. Doch in den Kreisen der “Nasha Niva” war man aus sozialistischen Neigungen oder unterschiedlichen anderen Gründen nicht an dieser Art von Großprojekt interessiert, auch wenn es zweifellos eine große kulturstiftende Rolle gespielt hätte.

Den ersten uns überlieferten Versuch einer Bibelübersetzung des frühen 20. Jahrhunderts unternahm der katholische Priester Adam Lisoŭski, indem er 1907 mehrere Bücher des Neuen Testaments übertrug. Das Werk beschränkte sich auf Manuskripte, die späteren, ebenfalls von katholischen Priestern angefertigten Übersetzungen als Grundlage dienten. Ildefons Bobič, Adam Stankevič, Vincent Hadleŭski, Kastus Stepovič (bekannt als Dichter unter dem Namen Kazimir Svajak) und andere Priester begannen mit den Übersetzungen einzelner biblischer Bücher, insbesondere solcher, die für den liturgischen Gebrauch benötigt wurden. Allerdings verblieben auch diese Übersetzungen größtenteils in Manuskriptform, von denen die meisten nicht bis in die heutige Zeit überliefert wurden.

Der Verlauf der Ereignisse änderte sich drastisch, als Belarus 1921 durch den Friedensvertrag von Riga, der von der Sowjetunion und Polen ohne Beteiligung belarussischer Vertreter unterzeichnet wurde, aufgeteilt wurde. Dabei wurde der westliche Teil Belarus’ Polen zugesprochen und der östliche Teil der Sowjetunion. Im Westlichen Belarus wurde die belarussische Sprache mitsamt dem belarussischen Buchdruck verfolgt, was Versuche einer Bibelübersetzung erheblich erschwerte. In der BSSR (im Östlichen Belarus), wo die Bibel selbst unter ein striktes Verbot fiel, war jegliche Art von Übersetzungsarbeit schier unmöglich. Die Bibel war nicht nur öffentlich unzugänglich, sondern ihr Besitz war auch in Privatsammlungen verboten. Wer versuchte, die Bibel über die sowjetische Grenze zu transportieren, wurde gefasst, eingesperrt, nach Sibirien deportiert oder in psychiatrische Anstalten gesperrt. Nachdem Westbelarus im September 1939 der BSSR angeschlossen wurde, war die Bibel bis Ende der 1980er Jahre, also der Zeit vor dem Zerfall der UdSSR, im ganzen Land verboten. Wenn sich eine belarussische Familie im Besitz einer alten Bibel befand, wurde diese sorgfältig versteckt und selten nur den engsten Vertrauten gezeigt. Wer Zugang zu Bibeltexten erlangen konnte, übertrug sie von Hand und bewahrte sie in Geheimverstecken zu Hause auf. So klaubte auch ich in den 1980er Jahren eine Bibel zusammen - aus Zitaten und schriftlichen Erwähnungen, der Arbeit mit Werken der europäischen bildenden Kunst, die ich in meiner Jugend sehr bewunderte, der ästhetischen Literatur, in der die Bibel zwar stark und negativ ideologisch gefärbt war, aber doch so einiges an Wissen zu finden war.

Trotz aller Schwierigkeiten wurden die Übersetzungsarbeiten im Westlichen Belarus im Jahrzehnt zwischen den Kriegen nicht unterbrochen. In Łódź wurde 1926 zuerst das Evangelium nach Lukas veröffentlicht. Der evangelische Pfarrer Lukaš Dzekuc'-Malej führte die Übersetzung ins Belarussische durch.

Lukaš Dzekuc'-Malej (1888–1955).

Anton Luckievič (1884–1942).

Das Neue Testament und die Psalmen. Helsinki, 1931. Einband.

Das vollständige Neue Testament wurde 1931 mitsamt den Psalmen in Helsinki veröffentlicht. Dzekuc'-Malej übersetzte auch diese Texte und ließ das Manuskript zunächst durch die gesamte belarussische Gemeinde in Vilnius gehen, bevor er den Entwurf an Anton Luckievič, einen ihrer klügsten und einflussreichsten Vertreter, sandte. An der Übersetzung arbeitete auch Dzekuc'-Malejs Frau Seraphima mit, und die Psalmen wurden von Augusta Rosenberg übersetzt, deren Persönlichkeit bis heute ein Rätsel bleibt. In meinen Augen wurden das “Neue Testament und die Psalmen” zur wichtigsten Errungenschaft für die belarussische Bibelübersetzung des 20. Jahrhunderts. Für sie folgten drei Neuauflagen. Die ersten beiden wurden, 1948 in London und 1985 in Toronto, von emigrierten Belarussen für geistliche Zwecke geduckt. Nachdem das Verbot 1991 aufgehoben wurde, folgte die Veröffentlichung der Übersetzung in Minsk durch die neu gegründete belarussische Bibelgesellschaft (in deren Rat ich im selben Jahr gewählt wurde).

Gegen Ende der westbelarussischen Zeit wurden 1939 die „Vier Evangelien und die Apostelgeschichte“, übersetzt vom katholischen Priester Winzent Hadleuski, in Vilnius veröffentlicht.

Vincent Hadleŭski (1888–1942).

Die vier Evangelien, übersetzt von Winzent Hadleuski. Vilnius, 1939. Titelblatt.

An dieser Stelle muss betont werden, dass jede belarussische Bibelübersetzung, die während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst wurde, einer Heldentat gleichkam. Die meisten dieser Übersetzungen waren fragmentarisch und beliefen sich auf Manuskripte, doch ihre Bedeutung für eine unterdrückte, eingeschränkte und ideologisch umgeschnittene Kultur kann nicht überschätzt werden.

Die belarussische Diaspora übernahm die Stafette der Bibelübersetzung. Von den 1940ern bis in die 1980er Jahre arbeiteten belarussische Priester und weltliche Personen, die sich in Europa und Amerika befanden, an Übersetzungen einzelner Bücher der Bibel, meist für den liturgischen Gebrauch. Die Liste der Übersetzer ist lang: Jazep Hermanovič (Vincuk Advažny), Leŭ Haroška, Piotr Tatarynovič, Andrej Kryt, Vaclaŭ Panucevič, Ryhor Krušyna, Anatol’ Bjaroska, Leanid Haljak, Vitaŭt Tumaš, Alexander Nadson, Michas’ Mickevič, Mikalaj Macukevič, Jan Pjatroŭski und viele andere. Doch unter all diesen Bemühungen sticht ein entscheidendes Werk heraus – die erste vollständige Übersetzung der Bibel!

Im 20. Jahrhundert gelang es uns endlich, die vollständige Übersetzung (nach protestantischem Kanon) von Dr. Jan Stankievič herauszubringen, die 1973 in New York veröffentlicht wurde – unter dem Titel “Die Bibel. Die Bücher des  Alten und Neuen Testaments der Heiligen Schrift, neu übersetzt aus dem Hebräischen und Griechischen ins Belarussische.”

Jan Stankievič (1891–1976).

Die Heilige Schrift. New York, 1973. Übersetzt von Jan Stankievič. Titelblatt.

Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem renommierten Hebraisten Moses Gitlin. Folglich wurde aus den Originalsprachen (es heißt, dass auch Stankevich des Griechischen mächtig war) und aus solchen Textquellen übersetzt, die denen gleichen, die allgemein in akademischen Kreisen anerkannt werden. Doch die Besonderheit dieser Übersetzung liegt darin, dass Stankevich an besonderen Ansichten über die belarussische Sprache festhielt und das große Erbe seiner Arbeit folglich für die Mehrheit der modernen Belarussen unverständlich ist. Die Übersetzung blieb im Land noch während der 1970er Jahre, in denen sich Belarus hinter dem Eisernen Vorhang befand, unbekannt. Sie kam erst Ende der 1980er Jahre nach Belarus und nahm dort keinen Einfluss auf die allgemeine kulturelle Situation.

Ende des 20. - 21. Jahrhundert

Seit Ende des 20. Jahrhunderts lassen sich alle Übersetzungsvorhaben in Belarus selbst und, mit nur einer Ausnahme, in Minsk verorten. Die Bestrebungen finden seitdem auf einer ganz anderen Ebene statt. Autorenübersetzungen, Übertragungen überkonfessioneller Aufträge der Kirchen, Runde Tische, Seminare, Tagungen und Kongresse, neue wissenschaftliche Konzepte der Bibelübersetzung, literarische Reproduktionen, Herausforderungen und Erfolge, angeregte Diskussionen, neue Errungenschaften, elektronische und gedruckte Ausgaben der "Narodna Biblia"2 – ein ganzer Wirbel neuer Übersetzungstätigkeit. Und neue Erwartungen einer kritischen Gesellschaft – aber das ist eine andere Geschichte.

 

27.02.2024
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© Privat

Iryna Dubianetskaya wurde in Minsk geboren. Nach ihrem Abschluss an der Belarussischen Staatlichen Universität an der Fakultät für Philologie war sie an der Gründung des Belarussischen Staatlichen Literaturmuseums beteiligt. Sie lehrte belarussische Literatur und Folklore an der Belarussischen Staatlichen Universität und an der Belarussischen Staatlichen Linguistischen Universität sowie Religionsgeschichte an der Belarussischen Staatlichen Akademie der Künste. In der zweiten Hälfte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre engagierte sie sich in der nationalen Bewegung der Belarussischen Wiedergeburt und setzte sich für die Erforschung und Wiederbelebung der belarussischen religiösen Traditionen ein. Zudem war sie Herausgeberin der ersten unabhängigen belarussischen Zeitschrift "Uniya" (1990-1995).

Dubianetskaya erlangte akademische Grade in Theologie, Bibelwissenschaften und Orientalistik in London (Vereinigtes Königreich) und Leuven (Belgien). Sie ist promovierte Philosophin und Theologin und unterrichtet an diversen Bildungseinrichtungen in Belarus und international. Zudem koordiniert sie eine internationale Expertengruppe zur modernen Übersetzung der Bibel ins Belarussische. Ihre Artikel, veröffentlicht in belarussischer und englischer Sprache, finden in Belarus, den USA und Großbritannien Anklang. Ihr aktuelles Projekt umfasst die Übersetzung biblischer Texte ins Belarussische, inklusive Vorworten und Kommentaren.

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