Das Jatra.

Theater im Westbengal oder: Wie probt man eine Revolution?

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Wie den Spruch „Ma - Maati - Manush“ (মা মাটি মানুষ) aus dem Bengali ins Deutsche übersetzen? „Mutter, Erde, Menschen“? Oder doch besser, um die Alliteration zu wahren: „Mutter, Mutterland, Menschen“? Wobei es im Deutschen ja seltsamerweise zwar eine Muttersprache, aber nur ein Vaterland gibt… Oder sich lieber retten in den poetischen Witz: „Mutti, Matsch, Menschen“ ?

Eine Frage der Einstellung. Welche Einstellung wähle ich? Es handelt sich bei diesem Spruch um politische Propaganda, die ja eher den kindlichen Exkrementen der Sprache nahe ist. „Ma Maati Manush“: So lautete der zu den Wahlen des Jahres 2011 veröffentlichte Wahlkampfslogan der All India Trinamool Congress-Partei, geleitet von der Landesmutter Mamata Banerjee, der gegenwärtig immer noch amtierenden Chief Minister des indischen Bundesstaats Westbengalen. Mit diesem Spruch gewann ihre Partei im Mai 2011 die Wahlen und beendete damit eine 34-jährige, ununterbrochene demokratische Regierung der Kommunisten.

Im Frühjahr 2019 standen sich nicht mehr die Kommunisten und die Anhänger des Mutterlandes gegenüber. Es hat sich jetzt vielmehr massiv das Vaterland des Präsidenten Modi zu Wort gemeldet. An die Stelle der Linken sind - wie in so vielen Ländern - die religiösen Fanatiker getreten. Ich beschreibe hier eine Reise nach Kolkata, also eine Reise nach Westbengalen, betrachtet von einem Fremden, der keiner der vielen Sprachen mächtig ist, die in dieser Stadt gesprochen werden. Welche Sprache lässt sich bei einem Blick, der äußerlich bleiben muss und nicht in die Grammatik eindringen kann, genauer verstehen? Verstehen kann ich zumindest die symbolische Sprache der Gesten, der Körper. Die Sprache des Straßen-Theaters, des Theaters auf den Straßen. Unsere Reise fand statt im letzten Oktober. Noch hat Westbengalen eine starke Identität, die allerdings viele nach der großen indischen Wahl im Mai 2019 zurecht als bedroht ansehen. Die Bharatiya Janata Party - die sich gern als gesamt-indisch gebende Partei des Premierministers Modi - hat bei den letzten Wahlen vor weniger als einem Monat 18 Sitze erhalten, die TMC nurmehr 23. In Kolkata glaubt man nicht an dieses Ergebnis, spricht von Wahlfälschung. Noch immer toben die Straßenkämpfe. Die BJP-Anhänger haben dabei eine Statue von Vidyasagar zerstört, dem bengalischen Sozialreformer und Gelehrten, der als Begründer der modernen bengalischen Sprache gilt.

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„Ma Maati Manush“ - woher kommt dieser eingängige Wahlspruch? Er entstammt dem Theater, dem Jahrhunderte alten Wander- und Volkstheater des Westbengal, das man „Jatra“ nennt. „Mutter, Mutterland, Menschen“ – ist der Titel eines Jatra-Stücks aus den Siebziger Jahren, eines der populärsten bengalischen Theaterstücke der vergangenen Dekaden, aufgeführt von der Natta Company. Die Politik hat sich das dem Volk längst Geläufige des Titels nur zu Nutze gemacht. Ich konnte das Stück vor Ort nicht sehen, fand nur eine kurze Zusammenfassung der Handlung: Ein junges Ehepaar vom Land zieht nach Kalkutta. Sucht dort Arbeit. Eine Investorengruppe will zugleich im Heimatort des Paares Land erwerben. Baut dort eine Fabrik. Das Paar fühlt sich nach kurzer Zeit von der Großstadt bedroht, gerät in prekäre Verhältnisse, will zurück aufs Land, aber auch dort ist inzwischen der ländliche Frieden zerstört: Die neue Fabrik ist gebaut, alle Verhältnisse entfremdet.

Das alles klingt nach einem marxistischen Lehrstück. Aber ausgerechnet mit diesem Stücktitel wurden ja die Kommunisten abgelöst. Hat man eine Revolution, die im Theater bereits erprobt war, auf der politischen Bühne viel später real umgesetzt? Ich lese in der 2014 erschienenen Doktorarbeit „Schaubühnen der Öffentlichkeit“ von Hans-Martin Kunz, dass der Begriff des „bengalischen Theaters“ in Indien lange Zeit synonym verwendet wurde zu politischem Theater an sich. Jatra ist ein Volkstheater, das gesichert seit etwa 400 Jahren und bis in die Gegenwart im Westbengal, in Bangladesch, Bihar, Assam, Orissa, Tripura praktiziert wird. Im Norden Kolkatas, im Stadtbezirk Chitpur, sollen derzeit noch 45 Theater-Kompanien beheimatet sein. Gespielt wird allerdings nicht vornehmlich in der Stadt, es handelt sich nicht um Stadttheater, sondern um Theater auf dem Land, in der Provinz, gespielt oft im Freien. Die bengalische Mittelschicht von Kolkata nimmt das Jatra-Theater - eine Mischung aus Musical, Melodram und Sozialkritik - wohl eher als Unterschichten-Unterhaltung wahr. Es kommt in seiner gegenwärtigen Gestalt in den Medien wenig vor, gilt als vulgär, billig, laut, subaltern. Wobei man zugleich gern klagt, das ursprüngliche Jatra sei verloren oder nicht mehr existent. Dagegen spricht, dass es im Westbengal über 3000 praktizierende Theatergruppen mit mehr als 20.000 Spielern gibt, darunter auch Bollywood-Stars, die sogar ihr Geld in der sogenannten „Jatra-Industrie“ verdienen. Immer noch finden in der Saison allabendliche Auftritte vor mehreren tausend Zuschauern statt. Unter allen indischen Volkstheatertraditionen bleibt das bengalische Jatra bis heute die populärste.

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Jatra, যাত্রা, ein altes Sanskrit-Wort, heißt im Wortsinn Reise oder Prozession. Die genauen Ursprünge liegen im Dunkeln. Manche verweisen auf das 9. Jahrhundert, wo sich das Carya Pada-Theater in Bengal entwickelt hat. Sicher scheint, dass sich das Theater - wie der Name schon sagt - aus religiösen Prozessionen heraus entwickelt hat, denen dann zunehmend eine dramatische Handlung gegeben wurde. Das alte mythologische Jatra kreiste um das Leben der Götter Krishna und Ram. Es wurde in Episoden vorgetragen, dauerte zumeist eine ganze Nacht.

Das Jatra hatte immer schon eine sehr eklektische, variable und hybride Form, es gibt aber im klassischen Jatra, das sich seit dem 16. Jahrhundert herausgebildet hat, ein paar bleibende formale Strukturen:

1. Das Jatra ist kein urbanes Theater, es ist angelegt auf ein Massenpublikum. Oft findet es vor tausenden von Menschen statt.

2. Die Jatra-Saison beginnt im September und endet vor dem Monsun-Regen.

3. Die Bühne ist ein einfaches Podium, das „Azar“ genannt wird.

4. Als Requisit ist zumeist - den Ansprüchen des Wandertheaters gemäß - nur ein einziger Stuhl vorhanden, der verschieden ausgeschmückt und als Thron oder Bank genutzt wird. Alle anderen Requisiten sind portabel.

5. Die Spielweise der Akteure kennt - wie bei Brecht - keine dritte, ja nicht einmal eine vierte Wand. Denn das Publikum sitzt zumeist rund um die Bühne. Die Schauspieler spielen also nach allen vier Seiten. Ihre Spielweise ist hysterisch, überzeichnend, unmittelbar. Nie herrscht Stille auf der Bühne, das Geschehen gleicht eher einem Wettkampf, alle Sätze sind direkt auf Anschluss gesprochen.

6. Jatra-Theater arbeitet immer mit Musik und vermischt Melodram, Dialoge und Lieder. Das Orchester ist auf beiden Seiten der Bühne positioniert, etwas niedriger als das Podium. Auf der einen Seite Percussion, bestehend aus Mondira, Tobla und Dhol, auf der anderen Seite Flötisten, Harmonium, zwei Trompeten, Kornet, Klarinette.

7. Dramaturgisch beginnen die Stücke meist gleich mit der Klimax der Handlung, wobei der Fortgang der Struktur eher lose ist. Mythologische Geschichte verbindet sich mit aktueller sozialer Berichterstattung.

8. Es gibt eine hohe soziale Partizipation. Das Jatra macht sich die politischen Themen des Tages zu eigen. Es gilt als „Mutter des Straßentheaters“. Oft singt das Publikum mit.

9. Die Aufführungen dauern auch heute noch mitunter mehr als zehn Stunden.

10. Im klassischen Jatra gab es fixe Rollen wie die Heldin, den Helden und den Bibek - eine Rolle, die dem Chor im griechischen Theater ähnelt. Verpflichtend dabei ist immer auch eine Souffleuse, die alle Texte etwas vorweg mitsprechen muss.

Was mich bei meinen Recherchen verblüfft hat: Hier ein Volkstheater zu sehen, das in seinen ästhetischen Prinzipien, in seinen Themen und in seiner Spielart Bert Brechts Epischem Theater, Piscators politischem Theater und Frank Castorfs Volksbühnen-Ästhetik ähnelt. Ich bin nicht der erste, dem das auffällt. In den sechziger und siebziger Jahren kam es zu einer Überkreuzung von Einflüssen der epischen Theater aus Europa und der Jatra-Tradition. Dafür steht vor allem ein Schauspieler und Theatermacher dieser Zeit: Utpal Dutt, der allen Indern als Comedian und Bollywood-Schauspieler vertraut ist. Tatsächlich war er aber auch ein wichtiger Pionier des modernen indischen Theaters. Seine Little Theatre Group brachte Brecht in Verbindung mit dem Jatra-Theater, was Rusthom Bharucha in seinem Buch „Rehearsals of Revolution“ ausführlich darstellt. Zwischen 1968 und 1982 hat Dutt 19 Jatra-Stücke inszeniert und dabei Themen verhandelt wie die Kämpfe der Naxaliten-Bewegung (als deren Unterstützer Dutt ins Gefängnis wanderte) oder den Vietnam-Krieg. Das Stück „Ajeva Vietnam" (Unbesiegbares Vietnam) wurde sogar in die DDR eingeladen, in Rostock aufgeführt und auf Schallplatte veröffentlicht. Hier eine sehr deutliche Stellungnahme von Utpall Dutt zu seinem Theaterbegriff:

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Ausgehend von Dutts Aneignung entwickelte sich eine neue, politische Form des Jatra, das sich als flexible Form erwiesen hat, die offen für Adaptionen ist. Soweit ich sehe, ist das bis heute so geblieben, trotzt einer zunehmenden, mit dem eingangs erwähnten Vaterland in Verbindung stehenden Kommerzialisierung. Die indische Regierung behauptet gern, das Jatra-Theater sei eine aussterbende Tradition, aber das Gegenteil ist der Fall. Berühmte Bollywoodschauspieler spielen mit und ziehen das Publikum an. Zwar findet die Form in Kolkatta wenig Anerkennung. Aber auf den Jatra-Bühnen werden immer noch Debatten der öffentlichen Kultur in den ländlichen Regionen ausgetragen - und es ist zu hoffen, dass das in Westbengal so bleibt.

Auf einer Seite der All India Trinamool Congress“-Partei findet sich „Branding Material“. Das Ministerium rät, bei Jatra-Aufführungen folgende Nachricht zu verbreiten: „The medium of Jatra is very effective for spreading the message of same drinking water and sanitation to the large audience as their shows have free entry.“ Hier zeigt sich: es gibt eine lebendige soziale Praxis dieses Theaters.

Am vorletzten Tag seiner Reise fuhr das Toledo-Team zum Tempel von Ramakrishna, an den Ufern des Ganges. Ramakrishna ist unter den hinduistischen Mystikern derjenige, der die Gleichrangigkeit aller Religionen gepredigt hat. Sein Schüler Vivekananda trug diese Botschaft bekanntlich in die USA, hat 1893 in Chicago als erster Hindu vor dem Weltparlament der Religionen gesprochen. Eine berühmte Anekdote, eine Rede mit enormen Folgen, bis in die Hippie- und New-Age-Generation hinein. Auch diese Szene hat Eingang in das Jatra-Theater gefunden. Auch hier wird eine Revolution erprobt, die immer noch nicht stattgefunden hat: Die erprobte Revolution gegen einen falschen, religiös geprägten Nationalismus wie er Indien (aber nicht nur Indien) heute bedroht. Lässt sich auch hierzulande vom Jatra-Theater lernen? Wo bleibt das Volkstheater für Eisenhüttenstadt und die brandenburgische Provinz?

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