Topografien des Übersetzens
Jenseits touristischer Hotspots hört man in Buenos Aires auf den Straßen meist Spanisch, doch es hat eine italienische Melodie. Auch gestikulieren die meisten Porteños, wie die Einwohner der Stadt genannt werden, wie Napolitaner. Die Einwanderung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem aus Südeuropa prägt bis heute die Stadt. Ihr Grundriss im Schachbrett-Muster ist jedoch typisch für eine rationale amerikanische Planstadt. Verschiedenste kulturelle Einflüsse amalgamieren also in der Metropole am Río de la Plata. In den vergangenen Jahrzehnten kamen Einwanderer aus den lateinamerikanischen Nachbarländern, Chinesen, Koreaner, Kapverdier, Dominikaner und Senegalesen hinzu. Die Stadt lässt sich beschreiben als ein Palimpsest, auf dem Spuren verschiedener Siedler und ihrer kulturellen Vermächtnisse abzulesen sind.
Wie aber übersetzt sich eine solch hybride Großstadt an der Peripherie der westlichen Welt in Literatur? Ist Buenos Aires im Ursprung eine Projektion von Stadtplanern und Architekten im Auftrag einer Kolonialmacht? Oder emergiert sie beständig neu aus einer Sehnsuchtsgeografie, die ihre einheimischen und zugezogenen Barden – Schriftsteller, Tangokomponisten, Rapperinnen und Taxifahrer – entwerfen? Existierte zuerst die Stadt oder die Idee von ihr, ihre eigentliche Identität?
Fragen, die mich auf dieser Reise in die argentinische Hauptstadt im Oktober 2019 begleiten. 1998 hatte ich an der Universidad de Buenos Aires ein Jahr Literatur studiert, war danach mehrmals für Buch- und Übersetzungsprojekte zurückgekehrt. Nun sollte ich im Auftrag von TOLEDO und unterstützt vom Goethe Institut Buenos Aires herausfinden, ob es in der Stadt eine besondere Übersetzungskultur gibt.
Der Stadtplan ploppt schon vielsprachig auf: Buenos Aires erscheint als Geflecht von Namen unterschiedlicher Provenienz. Seine Topografie aber hat ihren Ursprung in der Zeit der spanischen Kolonialverwaltung, die sich nicht an natürlichen Gegebenheiten wie vorhandenen Wasserläufen aufhielt, sondern die Landschaft in ihrer Gänze überschrieb. Mehrere Flüsse und Bäche in Rohre unter die Erde gezwängt und das Stadtgebiet in Blöcke von rund hundertzehn Metern Kantenlänge zerlegt. Nach der Unabhängigkeit von Spanien folgte eine weitere Überschreibung des Geländes. Der erste Bürgermeister von Buenos Aires, Torcuato de Alvear (1883-1887), ließ breite Schneisen in die mittlerweile dichte Bebauung der Innenstadt schlagen – wie die Avenida de Mayo – mit dem Beispiel von Georges-Eugène Haussmanns Paris vor Augen: repräsentative Boulevards, Monumente, Plätze und Parks. Bald sollten unter seinen Nachfolgern Diagonalen und eine Nord-Süd-Achse, die Av. 9 de Julio durch den Abriss ganzer Straßenzüge entstehen.
Sind wir hier bereits Zeugen eines Übersetzungsvorgangs? Wie übertrage ich Paris in den Süden? Entsteht dabei trotz der zahlreichen neobarocken Bauten in einer mehrheitlich von Migranten und ihren Nachfahren bewohnten Stadt nicht zwangsläufig ein zweites New York? Wie trotzen wir der Kontingenz der Begegnungen in dieser flirrenden Metropole einen Sinn ab? Denken wir an Großstadtromane, müssen wir zugeben, dass jede moderne Metropole sich anders in die Sprache ihrer Literatur einschreibt. Da ist die Anmutung ihrer Viertel, das besondere Flair ihrer Straßen und Plätze, da sind ihre exponierten Bewohner, Pförtner und Straßenverkäufer, Kioskbetreiber und Hundeausführer, Wachmänner und Halbweltgestalten, die die Stadt auf unterschiedlichen Wegen durchmessen und sie dabei auf ihre Weise imaginieren. Diese Eindrücke und Beschreibungen sind immer subjektiv und von der eigenen Erfahrung geprägt. Zwangsläufig fällt dabei etwas durchs Raster, landet im blinden Fleck einer Sprache: Wenn auf den Punkt gebracht werden soll, was eine Stadt darstellt, sehen wir, dass all die Bilder für die Stadt bloß Metaphern sind, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nur andeuten und schon im Moment dieses Erfassens – im schlimmsten Fall – nicht mehr aktuell und aussagekräftig genug erscheinen. Gerade eine dynamische Stadt wie Buenos Aires, die sich immer wieder neu erfindet, sich häutet, erfordert immer wieder neue Beschreibungen, neue Übersetzungen.
Als ich das erste Mal nach Buenos Aires kam, überwältigte mich diese rastlose Moloch – so viele Taxis und Busse, so viele Menschen, Stimmen, grelle Farben und Gerüche. Das erste Foto draußen schoss ich erst nach drei Monaten. An einem Sonntag, an dem in der Innenstadt nur wenige Fahrzeuge zirkulierten, knipste ich den Obelisken. Vor diesem Tag gelang es mir nicht, einen Ausschnitt zu wählen, einen Rahmen für das, was ich durch meine eigenen Linsen wahrnahm, eine Sprache für die auf mich einprasselnden Bilder. All das ging mir jetzt durch den Kopf, als ich eine Stimme vernahm: „Cabin Crew, prepare for landing“.
Tag I
„Einen Fluss kann man töten“ schreibt Gabriela Cabezón Cámara in einer literarischen Chronik, die sie im Oktober 2019 nach einer Bootsfahrt auf dem Riachuelo verfasst hat. An Flüssen wurden zwei viel bemühte Allegorien der Übersetzung formuliert, die Brücke und der Fährmann. Doch in Gabrielas Gabezóns Camaras Text hat der Fährmann seinen Dienst eingestellt, der Riachuelo, der Buenos Aires im Süden umfließt, erweist sich als unwirtlicher Ort, ein „Tor aus ekelhaftem Geruch“, eine „Grenze aus Scheiße“, den sie in ihrer Kindheit mit dem Zug Richtung Meer überquerte. Nun auf dem ölig-braunen Gewässer dümpelnd wird Selbiges zur unüberwindbaren Barriere, in deren unmittelbarer Nähe nur den Marginalisierten das Überleben gelingt, die südlichen Vorstädte, der erinnerte Weg zum Meer, erscheinen unerreichbar.
Für die „Topografien des Künftigen“, einem von TOLEDO unterstützten Projekt, gehen sechs Schriftsteller*innen aus Argentinien und Deutschland jeweils zu zweit auf Stadterkundung, an die Orte, wo zurzeit die größten Transformationen stattfinden, sich das künftige Antlitz der Stadt Buenos Aires offenbart. Ihre Eindrücke fließen in Texte ein, die wiederum von Übersetzer*innen in die jeweils andere Sprache gebracht werden. So entstehen Stadtbeschreibungen fast in Echtzeit.
Gabriela Cabezón Camara und die Berliner Autorin Lucy Fricke sind gemeinsam in das Boot der Aufsichtsbehörde Acumar gestiegen, die für die Sanierung des Riachuelo zuständig ist. Über dem Fluss, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts noch gebadet wurde, herrscht seit 2008 der Umweltnotstand. Der Oberste Gerichtshof hat die Stadtregierung zur Einstellung jeglicher kommerziellen Nutzung des Flusses verurteilt, bis dieser gereinigt ist. Zumindest der an der Wasseroberfläche treibende Müll, aber auch die pittoresken Schiffswracks und verfallenen Hafenanlagen sind weggeräumt, das Gift sitzt jedoch weiterhin im Schlamm. Wird die Sanierung des Flusses einmal gelingen, werden die Slumbewohner von den dann attraktiven Ufergrundstücken vertrieben. Auf perverse Weise garantiert ihnen der krankmachende Fluss ein Obdach. Durch die Reise an Buenos Aires' südlichen Rand wird mir bewusst, wie stark der Stadt noch immer ein soziales Gefälle geografisch eingeschrieben ist. In Anspielung auf die derzeitige Wirtschaftskrise beklagt Gabriela Cabezón Camara den Zustand des Flusses aus einer ökokritischen Perspektive: „Nicht einmal zum Dekontaminieren nutzt die ökonomische Lähmung.“ Lucy Fricke dekontaminiert ihre Eindrücke mit bitterer Ironie: „(…) heute ist hier alles tot, der Fluss, aber auch die Fabriken, Lagerhallen und Werften. Einzig die Autobahnbrücke über uns ist ein Ausdruck von Leben.“
Vor dieser Grenzerfahrung treffe ich Übersetzer*innen in dem traditionsreichen Café La Poesía mitten in San Telmo. Im etwas ruhigeren Hinterzimmer wird bald lebhaft über Übersetzung diskutiert. Es geht den Anwesenden vor allem um die Frage, in welches Spanisch übersetzt werden soll. Bei Aufträgen für größere Verlage werde meist auf ein neutrales, lateinamerikanisches Spanisch geachtet, wie Martina Fernández Polcuch berichtet. Die Verleger hoffen, dass die Übersetzung auch in anderen Teilen der hispanischen Welt Leser*innen findet. Nicolás Braessas, der selbst aus dem Koreanischen übersetzt, verteidigt dagegen den Gebrauch der lokalen Variante des Spanischen: Gerade wenn – wie in der Lyrik – die Sprache selbst zum Gegenstand werde, müsse diese nah am Leser sein. Außerdem wer setze denn die Standards eines vermeintlich „neutralen“ lateinamerikanischen Spanisch? Linguisten, Lektoren lateinamerikanischer Romane, die bei Verlagen wie Seix-Barral, Alfaguara oder Anagrama erscheinen oder doch die Studios, die die Stimmen von Hollywoodstars von mexikanischen Sprechern synchronisieren lassen?
Abends fahre ich mit einem Bus, der immer abrupt beschleunigt, nach Belgrano. Neben der Hochtrasse der Eisenbahnlinie Mitre steht ein grauer Pailou mit roten Dachschindeln und markiert den Anfang des Barrio Chino. Um die Calle Arribeños herum ist das Chinesenviertel seit den 1980er-Jahren, als vor allem Einwanderer aus Taiwan hierher kamen, stetig gewachsen: Restaurants, Asia-Shops, Geschenkläden und ein buddhistischer Tempel. Mir fallen sofort die Straßenschilder auf. 2016 wurden sie zweisprachig aufgehängt, in Spanisch und Mandarin, um „zur Identität des Viertels beizutragen und die Konvergenz beider Kulturen zu fördern“, wie ein Vertreter der Stadtregierung erklärte. Eigentlich wollte ich Ariel Magnus treffen, dessen Roman „Un chino en bicicleta“(Buenos Aires, Norma, 2017) genau dort spielt, doch der muss leider erkältet absagen. Cecilia Pavón ist gekommen. Sie hat Dietrich Diderichsen, Mercedes Bunz und Monika Rinck aus dem Deutschen und Lorrie Moore, Tracey Emin und Chris Kraus aus dem Englischen übersetzt. In der Cantina Chinatown bestellen wir Garnelen mit Pilzen und scharf angebratenes Rindfleisch mit Cashewnüssen, ein Mix aus asiatischen und argentinischen Aromen. Cecilia Pavón erinnert sich, wie sie 2002 auf der Flucht vor einer dramatischen Wirtschaftskrise nach Berlin kam und in der freien Literaturszene, bei Performances und auf Lesebühnen, junge deutsche Schriftsteller*innen kennenlernte. 2004 kehrte sie mit einem Stipendium für Multiplikatoren des Goethe Instituts dorthin zurück und absolvierte einen Deutschkurs. Damals begann sie zu übersetzen – fasziniert vom Geist der Berliner Kulturszene, erzählt sie.
Tag II
Es geht ein paar Treppen nach oben, dann stehe ich im dunklen Gang eines typischen Altbaus im Stadtteil Villa Crespo. „Casa Chorizo“, Wursthaus, werden diese Gebäude genannt, weil sich in ihnen die Zimmer in einem langen Schlauch aneinanderreihen. An der Wohnungstür empfängt mich Nurit Kasztelan. Die Dichterin und Verlegerin von Excursiones betreibt den Buchladen Mi casa in ihrer Wohnung. Sie führt durch einen Innenhof, der voller hochgewachsener Pflanzen steht, in ein Zwischengeschoss. In weißen Holzregalen finden sich nach Verlagen sortiert sorgsam ausgewählte Editionen aus Argentinien, Chile, Peru, Mexiko, vor allem zeitgenössische Lyrik und Erzählprosa, aber auch Kinderbücher und Übersetzungen: angelsächsische, italienische, französische Gegenwartspoesie. Unten in der Küche sitzen Verlegerinnen zu einer Materunde bei süßem Gebäck. Vanina Colagiovanni rechnet vor, dass ein Drittel der bisher von ihrem Verlag Gog & Magog veröffentlichten Bücher Übersetzungen sind, zuletzt Gedichte von Sharon Olds, Bände von Philipp Larkin, Mark Strand, Francis Ponge, der Algerierin Samira Negrouche, der Slowenin Svetlana Makarovič und Klassiker wie Dante Alighieri, Apollinaire oder Pasolini. Das erstaunlichste Buch ist eine Sammlung mit 100 zeitgenössischen chinesischen Gedichten, Frucht eines längeren China-Aufenthalts des Dichters und Übersetzers Miguel Ángel Petrecca, der den Verlag Gog & Magog 2004 mitgegründet hat. Auch Miguel Balaguer hebt die Bedeutung von Übersetzungen für seinen Verlag Bajo la Luna hervor, der 1990 von seiner, vor Kurzem verstorbenen Mutter Mirta Rosenberg gegründet wurde, die selbst eine bedeutende Übersetzerin war (u.a. von Katherine Mansfield, Anne Sexton, Derek Walcott und Seamus Heaney). In Bajo la Luna sind Texte von Marguerite Duras, Odilon Redon, Alda Merini, Herman Melville, Peter Sirr, Hwang Ji-woo auf Spanisch erschienen.
Mariano Blatt vom Verlag „Blatt & Ríos“ zeigt „Otoño alemán“, eine literarische Chronik über den Herbst 1989 in Deutschland. Verfasst wurde das Buch von einer argentinischen Architektin, die für ihren ersten Job Ende der Achtziger Jahre nach Berlin zog und den Mauerfall aus ihrer Sicht schildert. Auch ihr Buch könnte in gewissem Sinn als Übersetzung gelesen werden, da sie über das rein Journalistische hinausgeht, nicht nur sehr genau auf die Feinheiten der deutschen Sprache und Kultur blickt, sondern immer wieder die Grundlagen ihrer eigenen Kultur befragt, von der aus sie die Ereignisse in Deutschland beschreibt.
Tag III
Unweit von Mi Casa treffe ich am nächsten Mittag Jorge Fondebrider in einem alteingesessenen Grillrestaurant in Palermo. Im Hof von El bochín nehmen wir Platz auf Plastikstühlen. Fondebrider, selbst Dichter und Übersetzer aus dem Französischen (Perec, Flaubert, Henri Deluy) und Englischen (vor allem irischer Autoren wie Anthony Cronin, Claire Keegan, Joseph O’Connor oder Moya Cannon) empfiehlt ein Steak – medium raw, bestellt selbst aber hausgemachte Nudeln. 2009 hat Fondebrider mit Julia Benseñor den Club de Traductores Literarios de Buenos Aires (Club der Literaturübersetzer von Buenos Aires) gegründet. Monatlich stellen sie in der Bibliothek des Goethe Instituts neue Übersetzungen und ihre Übersetzer vor und erörtern übersetzungstheoretische Fragen. Lange Jahre arbeitete Fondebrider an dem 1986 gegründeten Diario de Poesía mit. Die vierteljährlich in einer Auflage von 5.000 Exemplaren erscheinende Zeitung wurde an Kiosken verkauft und widmete sich ausschließlich der Lyrik. Viel zeitgenössische Poesie aus dem angelsächsischen Raum (u. a. von der New York School of Poets) wurde dafür erstmalig übersetzt. Für Fondebrider ist das Übersetzen Teil der DNA der argentinischen Literatur: „Argentinien war ein Land, das mithilfe der Übersetzung gegründet wurde“, erklärt er. Viele der ersten Präsidenten waren gleichzeitig Übersetzer. Bartolomé Mitre übertrug die Divina Commedia, Juan B. Justo Das Kapital und Mario Moreno Du contrat social ou Principes du droit politique; Pessoa und Montale wurden früh in Buenos Aires übersetzt, ebenso Miłosz, Rilke, Kafka und Faulkner. Ich muss an Juan Domingo Sarmiento denken, den ersten Präsidenten Argentiniens und Autor von „Facundo. Civilización y Barbarie“ (1845). Das Buch ist eine Mischung aus journalistischer Reportage, historischer Chronik und Roman. In diesem Gründungsbuch beschreibt Sarmiento Argentinien, seine politische Organisation und die Weiten der Pampa, die er aus eigener Ansicht gar nicht kannte. Er musste dafür Reiseberichte englischer Autoren übersetzen!
Über Katzenkopfpflaster gehen wir ein paar Querstraßen weiter nach Südwesten. Fondebrider schlägt vor, noch einen „anständigen Kaffee“ zu trinken. Im Restaurant Florentina, Soler Ecke Malabia, sitzt Deborah Yanóver. Deborah und Jorge kennen sich, wussten jedoch bislang nicht, dass sie das gleiche Lokal frequentieren, wenn auch zu anderen Uhrzeiten. In Buenos Aires, wird hier deutlich, pflegen viele Literaten ein halböffentliches Leben, sind präsent in Cafés, Restaurants und Buchläden. Manche lassen sich sogar ihre Korrespondenz in die Stammbar zustellen.
Debora Yanóver, die oft zum Mittagstisch ins Florentina kommt, ist Buchhändlerin der legendären Librería del Norte. Der von ihrem Vater Héctor 1967 an der Av. Las Heras gegründete Buchladen war die erste Adresse für Autoren wie Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares oder Fabio Morábito. Die vollständigste Sammlung lateinamerikanischer Lyrik ist dort zu finden, aber auch viele übersetzte Werke, die sich in zweiter und dritter Reihe bis unter die Decke stapeln.
Am späten Nachmittag spaziere ich ins tiefste Palermo, das hier „Palermo Hollywood“ genannt wird, weil besonders viele Film- und Fernsehstudios dort ihren Sitz haben. Eterna Cadencia ist eine fancy Buchhandlung mit viel gelesenem Blog, wöchentlicher Bestsellerliste und angeschlossenen gleichnamigen Verlag, wo die angesagten Autor*innen Argentiniens erscheinen. Ich treffe dort Gabriela Adamo, die Direktorin des Festival Internacional del Libro de Buenos Aires (Filba) und Herausgeberin der Studie „Traducción literaria en América Latina“ (2012) ist. Gabriela betont in perfektem Deutsch die Bedeutung der Übersetzung in Argentinien: „Übersetzen ist Teil unserer Identität“. Sie verweist auf die migrantische Herkunft vieler Argentinier und ihre bis heute anhaltende Offenheit und ihr Interesse für das, was in anderen Ländern geschrieben wird
Nach einem Besuch des Botanischen Gartens mit seinen mächtigen alten Bäumen schreite ich die Treppen des Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires (MALBA) hinauf. „Topografien der Übersetzung“ werden bei einem von Carla Imbrogno geleiteten Podiumsgespräch diskutiert. Die Übersetzerin und Schriftstellerin Mariana Dimópulos, die selbst mehrere Jahre in Berlin gelebt hat, erinnerte in ihrer Key Note daran, dass die Übersetzung sowohl Handlung als auch Ergebnis ist („la traducción es tanto acción como efecto“) und dass es beim Übersetzen nicht nur um Sprachen und Bedeutungen gehe, sondern auch um „la matería ahí en el mundo“ (den Stoff da in der Welt). Sie verdeutlicht Letzteres anhand ihrer Schwierigkeiten mit einer Beschreibung einer berlinischen Szenerie in dem Roman „Teil der Lösung“ von Ulrich Peltzer. An der Elsenbrücke, unweit der Skulptur Molecule Man, sieht Pelzers Erzähler einen „Kamm von schuppigen Glasriegeln am Flussufer“, für den Mariana Dimópulos in ihrer Erinnerung an den Ort keine Referenz, keine Bilder findet. Auch die Nachfrage beim Autor hilft ihr nicht weiter, der lediglich vorschlägt das Adjektiv „schuppigen“ zu streichen. So bleiben am Ende nur Wörter, übersetzte Wörter, ohne Gegenstand noch Erinnerung, wie Dimópulos leicht resigniert feststellt. Das Material, aus dem die Stadt gemacht ist, tritt dabei deutlich hervor, gerade weil die Übersetzerin an dieser Stelle auf den Autor und seine Übersetzung seiner Eindrücke der Materie, dem Stoff, vertrauen muss.
Podiumsgespräch über „Topografien der Übersetzung: Die Stadt, ihre Kulturen, ihre Versionen“ mit Gustavo Sorá (Anthropologe aus Córdoba), Mariana Dimópulos (Schriftstellerin und Übersetzer aus Buenos Aires), Ulrike Draesner (Schriftstellerin und Übersetzerin aus Berlin), Daniel Saldaña París (Schriftsteller aus Mexiko-Stadt) und Aurélie Maurin, moderiert von Carla Imbrogno (Goethe Institut).
Der Anthropologe Gustavo Sorá aus Córdoba beleuchtet die soziologischen Grundlagen des Austauschs zwischen Argentinien und der Welt. Er rechnet vor, wie viele Theorietexte in Argentinien in den vergangenen Jahren übersetzt wurden und beklagt, dass umgekehrt im Ausland kaum wissenschaftliche Theorie aus Argentinien übersetzt werde: Auf siebzig französische Theorietexte, die in Argentinien veröffentlicht wurden, kommt ein argentinischer in Frankreich. So zeigt Sorá das Machtgefälle in den internationalen Beziehungen auf, welches ein Land wie Argentinien weiterhin an der Peripherie des Westens verortet.
Der mexikanische Schriftsteller Daniel Saldaña París schlägt einen kreativen Umgang mit Übersetzung vor. Er liest Gedichte als Routenbeschreibungen und spaziert geleitet von Versen zeitgenössischer Gedichte durch Städte. Leser*innen können ihm dabei folgen. Es findet also eine Rückübersetzung einst zu Gedichten geronnener Emotionen und Eindrücke statt, das Aufsuchen der Orte, die diese einst inspirierten.
Ein weiterer Tag in Buenos Aires, der mir die vielen Facetten des Übersetzens vor Augen geführt hat: Übersetzung gedacht aus der Perspektive von Verlegern, Autoren, Übersetzern, Soziologen, aber auch den Leser*innen. Buenos Aires präsentierte sich – um Borges zu paraphrasieren – nicht als Garten der Wege, die sich verzweigen, sondern als offenes Feld, wo sich all diese Pfade vielfach überlagern und gegenseitig verstärken.
Letzter Tag
Endlich sind wir im Himmel angekommen. Zu sechst quetschen wir uns in eine Glaskapsel, in der sich einst ein Leuchtfeuer drehte, das noch in Montevideo gesichtet wurde. Von dem Dach des Palacio Barolo ist Buenos Aires plötzlich eine eklektische Ansammlung unterschiedlich hoher, schmutzig weißer Türme mit verwaisten Dachterrassen und vielen fensterlosen Brandmauern.1923 im Auftrag des Textilunternehmers Luis Barolo fertiggestellt war der Palacio für ein paar Jahre das höchste Gebäude der Stadt. In seiner Konstruktion spiegelt sich die Göttliche Komödie: Keller und Erdgeschoss stehen für die Hölle, 1. bis 14. Stock für das Fegefeuer und der 15. bis 22. Stock für das Paradies. Die Höhe von hundert Metern korrespondiert mit der Zahl der Gesänge in Dantes Werk.
Aus Platzgründen ist die Führerin nicht mit in die Leuchtkapsel gestiegen, für einen Moment herrscht entspannte Ruhe, das nie abreißende Getöse der Stadt dringt nur sehr gedämpft nach hier oben. Max Czollek, Ulrike Draesner und Lucy Fricke haben eine Woche mit ihren argentinischen Kollegen Tamara Tenenbaum, Maria Negroni und Gabriela Cabezón Cámara die Stadt erkundet und Texte über ihre Beobachtungen und Erfahrungen geschrieben. Bevor wir weiter zur Bibliothek Miguel Cané im Boedo-Viertel fahren, um Borges einstiges Büro zu besichtigen, blicken wir in einen bewölkten Himmel und sortieren unsere Gedanken. Dass sich ein Textilunternehmer hier einen Palast bauen lässt, der auf einem literarischen Werk fußt, das nicht auf der Landessprache verfasst wurde, zeugt von der Wichtigkeit der Übersetzung und ihre unauflösbare Verflechtung mit der Topografie des heutigen Buenos Aires.