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Übersetzen als Dialog

Den Dialog auf jede mögliche Art und Weise unterstützen.1
Hans-Georg Gadamer 

 

Für mich beginnt der Dialog mit dem Autor viel früher als das Übersetzen selbst. Manchmal ist das eine lebhafte Begegnung, manchmal eine imaginäre Begegnung, wenn Zeilen aus dem Text plötzlich zu einer persönlichen Erfahrung werden, zu etwas, worauf man reagieren, das man beanstanden oder auf das man nachfragen möchte. Wenn der Autor nicht da, diese Erfahrung aber überwältigend ist, dann suche ich nach jemandem, mit dem ich das Gelesene teilen möchte. Jemanden, dem ich sagen könnte: „Also, hör mal, das ist ein ganz toller Gedanke. Das ist ganz genau erfasst, das trifft voll zu!" Oder: „Genau das habe ich auch immer gedacht, ich konnte es nur nicht so gut formulieren.“ Dieser mir nahestehende „Jemand“, an den ich mich wende, kann oder versteht nicht immer Deutsch oder Englisch, aber ich glaube, dass er von dem Gedanken, der mich ergriffen hat, ebenso ergriffen sein wird, wenn es mir gelingt, diesen Gedanken auf Russisch auszudrücken. 

Und dann versuche ich, in meiner eigenen Sprache „Quasi dasselbe mit anderen Worten zu sagen“2. Auf diese Weise beginnt ein Dialog und setzt sich fort. So wird jemandes Text zu meinem eigenen. Wenn das gelingt, fasziniert mich der Prozess des Übersetzens selbst und ist für mich wie ein magischer Akt, der nicht von mir abhängt, nicht von mir gelenkt wird. Wenn das nicht gelingt und wenn man lange nach dem richtigen Wort suchen und immer und immer wieder alle unpassenden Wörter verwerfen muss, dann verfluche ich den Moment, als ich diesen unmöglichen Auftrag angenommen habe, und ich fühle mich wie ein Tausendfüßler, der verlernt hat, wie man läuft.

© Max Korostelyov

Das heißt konkret, das Übersetzen besteht aus zwei Dialogen, die in mir, als Übersetzerin, ununterbrochen miteinander verwoben sind: ein Dialog mit dem Autor, der entweder weit entfernt oder schon lange verstorben ist und ein zweiter Dialog mit dem Leser, der den Autor über meinen Text kennenlernen wird. Und der, während er seinen eigenen Dialog mit dem Autor aufbaut, sein Verständnis und sein Unverständnis, seine Freude und seine Unzufriedenheit, seine Fragen und seine Einwände an diesen meinen Text richten wird. In diesem Dialog zwischen Leser und Autor bleibe ich eine unsichtbare Vermittlerin und, das ist eines der Paradoxa des Übersetzens: Je besser ich meine Aufgabe erfülle, desto weniger bin ich sichtbar. 

Die Texte, die ich für eine Übersetzung auswähle, sind Texte, die auf die eine oder andere Weise mit meinem Hauptinteresse, der Existenzphilosophie und der Existenzpsychotherapie verbunden sind: Texte von Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Ludwig Binswanger, Alice Holzhey-Kunz, Emmy van Deurzen und Ernesto Spinelli.

Der Prozess der Existenzanalyse selbst ist für mich ebenfalls ein besonderer Dialog, ein Dialog des Menschen mit sich selbst, in dem ich als Psychotherapeutin zur Übersetzerin werde. Dabei handelt es sich um jene Art von Übersetzung, über die der deutsche Philosoph Friedrich Schleiermacher, der Platon übersetzte und einen wunderbaren Text über das Übersetzen schrieb, als „Nothwendigkeit auch innerhalb der eigenen Sprache und Mundart zu übersetzen“3 sprach. 

Wenn ich also über Dialoge nachdenke, die in meiner psychotherapeutischen Praxis miteinbezogen sind, dann handelt es sich dabei nicht ausschließlich um Gespräche mit den Klienten über deren Leben und Schwierigkeiten, sondern auch um Dialoge, mit den von mir übersetzten Autoren, die – als Menschen ebenfalls in das wackelige Boot namens Leben geworfen – das Leben nicht nur auf ihre eigene Weise verstehen und mit dessen Herausforderungen umgehen, sondern die auch darum bemüht sind, ihre Erlebnisse zu reflektieren und ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen. 

Ich „befrage“ Heidegger nach den Feinheiten der Unterscheidung von „Daseins-Analyse“ und „Daseins-Analytik“ und Binswanger nach seinen berühmten Patienten und seiner Freundschaft zu Freud, die trotz theoretischer Differenzen über viele Jahre hinweg andauerte. Mit Alice Holzhey-Kunz, über die sich mir sowohl die Texte von Heidegger als auch die klinischen Beschreibungen von Binswanger aufs Neue eröffneten, bin ich seit über zehn Jahren persönlich verbunden. Ich habe ihre Seminare und Vorträge, die sie auf Konferenzen in Litauen, Russland und in Belarus gehalten hat, gedolmetscht. Der Dialog mit ihr über die „besondere Hellhörigkeit“ für das Enthaltensein des Ontologischen im ontischen Geschehen, für das Dasein als „Philosoph wider Willen“ und für das Leiden an diesem Sein hat mir nicht nur geholfen, ihr Buch Leiden am Dasein4 zu übersetzen, sondern veränderte auch grundlegend meine eigene psychotherapeutische Herangehensweise. Auf meinem Schreibtisch liegt nun ihr neues Buch Emotionale Wahrheit. Der philosophische Gehalt emotionaler Erfahrungen, der Übersetzungs-Dialog geht also weiter. Allein schon der Buchtitel wirft so viele Fragen auf, dass er für sich genommen bereits eine Einladung zum Dialog ist. Wie kam es, dass Emotionen, die Träger und Ausdruck jener Wahrheit unseres Seins sind, die sich jeglicher Rationalisierung entzieht und uns nur durch unsere sinnliche Erfahrung zugänglich wird, als etwas Unlogisches und Kommunikationsverzerrendes aufgefasst wurde, als etwas, das nicht nur das rationale Denken, sondern auch all das behindert, was allgemein als „normales“ Leben und als „normale“ Kommunikation angesehen wird?! Und wie lässt sich dies so umkehren, dass man den Emotionen wieder ihre wichtige Bedeutung als Träger der existenziellen Botschaft rücküberträgt? Das Buch wurde bereits ins Englische und Griechische übersetzt, und ich wünsche mir, dass es auch in der russischen Übersetzung nicht nur für Fachleute eine Entdeckung sein wird.

Zum ersten Mal besuchte ich vor fast zwanzig Jahren im litauischen Birštonas, am Ufer der Memel, ein Seminar des zeitgenössischen britischen Psychotherapeuten Ernesto Spinelli. Damals war gerade sein neues, kleinformatiges Buch The Mirror and the Hammer: Challenging Orthodoxies in Psychotherapeutic Thought erschienen.5 Es besteht aus zehn Kapiteln, von denen jedes ein Dialog über die Widrigkeiten der modernen Existenztherapie und über die Schwierigkeiten des Psychotherapeutenberufs darstellt. In jedem Kapitel wird eine andere orthodoxe These der psychotherapeutischen Praxis in Frage gestellt – Thesen über die soziale Rolle der Psychotherapie und das therapeutische Setting, über Identitätstheorien und die Banalität des Bösen, über den Sinn des Unbewussten bis hin zu Thesen über das Unbewusste im künstlerischen Schaffen. Der Autor fordert Psychotherapeuten dazu auf, aus ihrer bequemen und sicheren Position, von der aus sie die Worte und Erlebnisse ihrer Klienten „spiegeln“, herauszutreten, diesen Spiegel mit einem Hammer zu zerschlagen und „ein paar Schritte hin zu einer menschlicheren Psychotherapie“ zu machen, was nichts anderes bedeutet als in einen Dialog mit dem Klienten zu treten, indem sie sich ihm zur Seite stellen und nicht auf dem Sockel ihres Status‘ als Therapeut stehen bleiben. Ich bin gerade dabei, sein neuestes Buch zu übersetzen.6 Es stellt meiner Ansicht nach ein echtes Lehrbuch für Existenztherapeuten dar, das ihnen hilft, in sich den Mut zu finden, diesen Dialog fortzusetzen und in ihm zu praktizieren. 

All diese Dialoge haben mich dazu gebracht, über das Übersetzen als Dialog und über den Dialog als Übersetzung nachzudenken: Wie baut sich das eine im anderen auf? Wie entsteht überhaupt erst so ein Übersetzungs-Dialog oder aus welchen Gründen entsteht ein solcher nicht? Woraus besteht er, wie lässt er teilhaben, wodurch ist er in seiner launischen Bewegung motiviert? Wie wird ein solcher Übersetzungs-Dialog zu einer Kommunikationsmethode, zu einem Modus, der alles Mögliche übermittelt – einen Text, Erfahrungen, Wissen, Zweifel? Wenn alles auf diesem ganz eigenen Dialog beruht, wie kann man ihn dann isoliert und für sich genommen betrachten? Für all diese Fragen ist die Unterstützung von Philosophen unumgänglich. 

Einer meiner Lieblingsphilosophen ist der bereits erwähnte Friedrich Schleiermacher, dessen Überlegungen zum Übersetzen so sehr mit meinen übereinstimmen, dass ich manchmal den Eindruck habe, dass wir uns schon seit langem in einem Dialog miteinander befinden. Mir gefällt seine Idee von zwei möglichen Herangehensweisen an das Übersetzen: Bei der einen orientiere ich mich so eng wie möglich am Originaltext und bleibe dem Wort und den Buchstaben des Autors so treu, wie es beim Übergang von der einen in eine andere Sprache eben möglich ist. Schleiermacher spricht hier von einem Streben danach, den Autor in Ruhe zu lassen, da, wo er steht, und den Leser zu ihm hin zu bringen, d.h. ihn dazu anzuregen, sich anzustrengen, um sich in den ihm fremd und unvertraut scheinenden Text zu vertiefen. Und selbst, wenn in diesem Fall der Text bisweilen etwas fremd erscheint, wird die Mühe des Lesers nicht umsonst gewesen sein. Die andere Herangehensweise entspringt dem Bedürfnis, den Leseprozess so angenehm wie möglich zu gestalten.7 Hier geht es um den Versuch, den Autor zum Leser zu bringen, indem man den Text so in einer Sprache wiedergibt, dass der Leser sie kaum von der eigenen unterscheiden kann. Etwa auf die Weise, wie ich jetzt versucht habe, Schleiermacher wiederzugeben. Wenn Sie allerdings mehr am Original von Schleiermachers Text oder an der akademischen Übersetzung ins Russische interessiert sind, so sind diese einfach zu finden.8 Ich habe jedoch keine wissenschaftlich abgesicherte Referenz im Russischen auf den Übersetzer finden können, um diesen danach zu fragen, welche der beiden Methoden er selbst angewandt hat. Der Text ist gemächlich und verschnörkelt, als sei vor dem Fenster immer noch das 19. Jahrhundert anzutreffen. Doch in der russischen Übersetzung wurden viele Wiederholungen, Erläuterungen und Längen, offensichtlich des besseren Verständnisses für moderne Leser wegen, weggelassen. Allerdings war Schleiermacher davon überzeugt, dass die beiden von ihm beschriebenen Übersetzungsmethoden niemals miteinander vermischt werden sollten, da damit das Risiko verbunden sei, dass sich Autor und Leser nie begegnen.

Und wenn ich als Psychotherapeutin dem Menschen, der zu mir kommt, helfe, sich selbst zu begegnen? Soll ich versuchen, ihm seine Erlebnisse so wiederzugeben, dass sie für ihn durch und durch fassbar werden und sich ihm auf eine ihm gewohnte und vertraute Weise erschließen? Oder soll ich ihn im Gegenteil dazu bringen, sich darauf zu konzentrieren, etwas Neues und Unbekanntes zu sehen, etwas, das ich sehe, das für ihn aber ein totales Kauderwelsch darstellt? Und ist es möglich, beide Arbeitsweisen miteinander zu kombinieren? Ich wünschte, ich könnte Schleiermacher danach fragen.

Dann würde ich mit ihm auch über die Idee des hermeneutischen Zirkels sprechen, die der Philosoph, ein Mann des Glaubens, formuliert hat, indem er betonte, dass der den Text als Ganzes durchdringende Geist, stets seine Spuren in den einzelnen Teilen hinterlässt. Die Teile sollen auf der Grundlage des Ganzen und das Ganze als innere Harmonie seiner Teile erfasst werden.9 Wenn man die Hermeneutik als Praxis des Verstehens und Deutens von Texten betrachtet, dann erweist sich das Übersetzen gerade als eine solche hermeneutische Praxis: Von der allgemeinen Vorstellung über einen Text – zu Titel und Inhaltsverzeichnis, dann, mit einem neuen Verständnis des Ganzen - zu den einzelnen Kapiteln, von denen jedes seinen eigenen Titel und die dazugehörigen Absätze und Passagen beinhaltet. Wie oft habe ich mich zuerst für eine bestimmte Übersetzungsvariante eines Wortes entschieden, dessen Bedeutungen je nach Kontext unterschiedlich sein können, und nach ein paar Seiten, mit Blick auf den Text als Ganzes, musste ich feststellen, dass alles nochmals überarbeitet werden muss. Der Sinn des Ganzen verändert die Bedeutung eines einzelnen Wortes und umgekehrt. Häufig möchte ich den Autor fragen, was genau er meinte, worüber er in dieser Lebensphase nachdachte, auf welche seiner Fragen er in dieser Zeit eine Antwort suchte, an wen er seinen Text richtete und mit wem er im Dialog stand.

© Max Korostelyov

Wenn man das wiederum auf die Psychotherapie anwendet, kann im Grunde jede Problemsituation, jede Beziehungsgeschichte und letztlich das menschliche Leben als Ganzes, als ein Text betrachtet werden. Im therapeutischen Dialog vollzieht sich ein hermeneutischer Zirkel: Wenn einzelne Punkte geklärt sind, wird auch der Sinn des Großen und Ganzen klarer und wenn ein neuer Sinn im Ganzen erfasst wird, verändert sich auch die Wahrnehmung für die Einzelheiten. Deshalb kommt eine Depression oder Krise nicht für sich genommen vor, es geht immer um eine einzigartige Lebensgeschichte und um die einzigartige aktuelle Situation.

Über hermeneutische Paradoxa als solche, unter anderem sowohl über das Übersetzen als auch über den therapeutischen Dialog, hat auch ein weiterer, von mir sehr geschätzter Philosoph geschrieben: Hans-Georg Gadamer. Die Worte im Epigraph dieses Textes stammen von ihm. Seine Lebensdaten, von 1900 bis 2002, sind mit den einhundertzwei Jahren, die das gesamte 20. Jahrhundert umfassen, gleichermaßen beeindruckend wie verblüffend. Als junger Mann besuchte Gadamer Vorlesungen von Husserl und Heidegger, bis 1979 hielt er selbst Vorlesungen an Universitäten in den USA, und im Jahr 2000 gelang es ihm noch, die Ehrendoktorwürde an der Staatlichen Universität Moskau verliehen zu bekommen. Im August 2001 nahm er an seinem letzten Hermeneutik-Symposium teil, welches von seinen amerikanischen Studenten organisiert worden war. Seine während des Krieges geschriebenen Artikel mussten nach dem Niedergang des Nationalsozialismus nicht übereilt korrigiert werden, und seine, Ende der 1990er Jahre im TV ausgestrahlten, Philosophievorträge zeichneten sich durch besondere Gedankenklarheit und Präzision der Darlegung aus.

Gadamer spricht von der paradoxen Mehrdeutigkeit der Worte, die wir bewusst oder unbewusst aus der Vielzahl an Wortmöglichkeiten auswählen, um unseren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Wir können einzelne Wörter lang und sorgfältig auswählen, oder im Gegenteil, flüchtig und ohne weiter darüber nachzudenken, die ersten Wörter verwenden, die uns gerade in den Sinn kommen – so oder so bleibt jedes Wort unweigerlich mehrdeutig. Selbst bei der treffendsten Variante, wird die Bedeutung, die wir einem Wort in einer konkreten sprachlichen Äußerung zuzuweisen versuchen, nur einen seiner Aspekte vermitteln können. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Bedeutung eines Wortes für den Hörer genau dieselbe ist, wie für den Sprecher. Jede an einem Dialog beteiligte Person wird das Gesagte und das Gehörte, das möglicherweise nicht identisch ist, ausgehend von ihrer jeweiligen individuellen existenziellen Situation verstehen. 

Da jegliche sprachliche Äußerung motiviert ist, kann eine und dieselbe Wortkombination je nach Kontext und Intonation zugleich eine Bestätigung und eine Frage, ein Ansuchen und einen Befehl, eine Bitte und eine Verwünschung ausdrücken. Ich glaube, es war Stanislawski, der bei Theaterproben die Schauspieler dazu aufgefordert hat, mit dem einzigen Wort "Brand" vierzig verschiedene Botschaften zu vermitteln. Und wenn wir zum Beispiel nach einer Antwort auf eine Frage suchen, dann ist es notwendig, dass wir nicht nur ihre verbale Form und ihren semantischen Inhalt verstehen, sondern auch die Motivation, die dieser Frage zugrunde liegt. Wir müssen verstehen, von welcher Richtung her, aus welchem Kontext heraus, zu welchem Zweck eine Frage an uns gerichtet wird. 

In der sozialen Kommunikation stellen und beantworten wir Fragen oft automatisch, ohne darüber nachzudenken, denn wir sind darauf trainiert, „richtig“ zu sprechen und zu antworten, wir wissen im Voraus, was von uns erwartet wird. Der so genannte small talk mit der üblichen Nachfrage „Wie geht’s“ impliziert die Notwendigkeit des Zuhörens einer Antwort gar nicht. Hierbei haben die Wörter selbst oft keine Bedeutung, vielmehr kommt es auf die Intonation und den Gesichtsausdruck der Sprechenden an.

Ähnliches kommt auch in der Psychotherapie vor: Ich erfasse die Bedeutung dessen, was gesagt wird, nicht nur über die Wörter, die ich höre, sondern auch durch die Atmung, das Tempo des Sprechens, die Pausen, die Lautstärke und den Tonfall des Sprechenden. Bei Texten, die ich übersetze, ist das allerdings nicht möglich. Ich kann den Sinn der einzelnen Wörter aus dem Gesamtzusammenhang nur hinzudenken, erahnen, herausfischen. Der Autor hat jedoch immer die Möglichkeit, die jeweilige Bedeutung eines Wortes hinter Ironie, einem Witz oder einem Zitat zu verstecken, das Wichtigste beiläufig, indirekt, wie nebenbei mitzuteilen. 

Damit führt uns Gadamer wieder zu Husserl, der dargelegt hat, dass die Bedeutung eines Wortes nicht gleichbedeutend mit den Bildern ist, die in dem Moment entstehen, in dem wir das Wort aussprechen. Gadamer schreibt: „Die innere Rede ist nicht die Vorlage für die geäußerte Rede, sondern das Ganze ist ein Prozess von eigener und geheimnisvoller Struktur.“10

Anders gesagt: Das ausgesprochene oder gehörte Wort ist innerhalb einer Aussage nicht als Puzzleteil eines kohärenten Bildes auf einer festen Position platziert, sondern es entsteht erst im Moment des Sprechens als Resultat einer Konstellation vielfältiger Faktoren, die sowohl mit den Persönlichkeiten des Sprechenden und des Hörenden als auch mit dem Thema, den Umständen, den Bedingungen und der Vorgeschichte des Gesprächs zusammenhängen. Die Bedeutung eines einzelnen Wortes beruht immer auf einem ganzen System von Wörtern: sowohl auf den bereits gesagten als auch auf den noch zu erwartenden sowie auf den ungewählten, unausgesprochenen, aber möglicherweise mitgemeinten Worten. 

Die grundsätzlich jedem beliebigen Wort innewohnende Mehrdeutigkeit verursacht sowohl in den unendlichen vielen Möglichkeiten, die wir zwischen „aussprechen“ und „zurückhalten“ haben, als auch in der ständigen Gefahr, das falsche Wort zu wählen, das Falsche zu sagen, missverstanden zu werden. Diese Gefahr wird im therapeutischen Dialog nahezu greifbar, wenn das Wort, das therapeutisch und heilsam wirken soll, ungewollt kratzt, verletzend wirkt und einen anderen, nicht an der Oberfläche liegenden Sinn anrührt. Dann kann der Dialog in ein Aneinander-Vorbeireden und in Missverständnisse und Entfremdung abgleiten. Dann muss man sich um das Auffinden anderer Wörter bemühen, durch die die voneinander getrennten Gespräche wieder in einen gemeinsamen Raum des Dialogs gebracht werden.

Die Potenz von Wörtern, trotz der Bestimmtheit ihrer in Wörterbüchern festgelegten Bedeutung mehrdeutig sein zu können, macht das Übersetzen von einer Sprache in eine andere zu einem völlig unmöglichen Unterfangen. Gadamer schreibt:

"Denn darin liegt das ganze Elend des Übersetzens, daß die Einheit der Meinung, die ein Satz hat, sich durch die bloße Zuordnung von Satzgliedern zu den entsprechenden Satzgliedern einer anderen Sprache nicht treffen lässt und daß so diese gräßlichen Gebilde zustande kommen, die uns im allgemeinen in übersetzten Büchern zugemutet werden – Buchstaben ohne Geist. Was dort fehlt und allein Sprache ausmacht, ist, dass ein Wort das andere gibt, ein jedes Wort von dem anderen Worte sozusagen herbeigerufen wird und seinerseits selbst den Fortgang des Redens weiter offen hält."11

Jeder, der sich schon einmal in solch einen Prozess vertieft hat und bei der quälenden Suche nach der richtigen Konnotation eines scheinbar einfachen und eindeutigen Wortes, im endlosen Herumblättern in Wörterbüchern steckengeblieben ist, wird genau wissen, wovon Gadamer hier schreibt.

© Max Korostelyov

Ein Text über das Übersetzen und den Dialog wäre aber unvollständig, wenn nicht ein weiterer Philosoph erwähnt würde: der Franzose Paul Ricœur, der oft als Philosoph des Dialogs bezeichnet wird. 1999 veröffentlichte die französische Zeitschrift Esprit einen von seinen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Paris gehaltenen Vorträge mit dem Titel Das Paradigma der Übersetzung12. Darin sagt Ricœur, dass man zwar von Übersetzung im engeren Sinne sprechen und sie als Übertragung einer verbalen Botschaft von einer Sprache in eine andere verstehen könne, dass aber die Übersetzung im weiteren Sinne auch gleichbedeutend mit dem Versuch sein kann, einen Text innerhalb derselben Muttersprache zu verstehen und zu deuten. 

Für mich lässt sich das auf meine Übersetzungsdialoge beziehen, die sowohl therapeutischer als auch philosophischer, sozialer und pädagogisch-kommunikativer Natur sind. Obwohl es auf den ersten Blick paradox erscheint, dass für den Philosophen die Übersetzung aus der einen Sprache in die andere (ohne die keine gegenwärtigen sozialen Praktiken möglich sind) eine Übersetzung im ‚engeren Sinne des Wortes‘ darstellt, und das Verstehen und die Deutung eines Textes die Übersetzung ‚im breiteren Sinne des Wortes‘ darstellt, gibt es hier in Wirklichkeit keinen Widerspruch. 

Der Dialog wird ja gerade durch das Bedürfnis angetrieben, etwas Neues, zunächst nicht Naheliegendes, Unverständliches oder Unbekanntes zu verstehen und sich anzueignen und damit den eigenen Raum zu erweitern, ganz egal, ob er nun innerhalb einer einzigen Sprache stattfindet oder eine interlinguale Kluft überwindet.

Ricœur geht davon aus, dass jeder Gedanke auf unterschiedliche Weise ausgedrückt werden kann und von jedem auf seine Weise ausgedrückt wird, und dass deshalb das gegenseitige Missverstehen zwischen Menschen die Norm darstellt. Die Mehrdeutigkeit der Wörter und die Einzigartigkeit des jeweiligen Kontextes führen auf die scheinbar vollkommen logische Schlussfolgerung hinaus, dass Übersetzung theoretisch unmöglich ist.

Doch das Leben zeige uns, dass es Übersetzungen schon immer gegeben habe. Die ersten, zunächst nicht professionellen, Dolmetscher und Übersetzer waren diejenigen, die Gespräche mit Fremden führen mussten: Das waren Reisende und Kaufleute, Botschafter und Spione. Daraus lassen sich für Ricœur zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen, dass jeder in der Lage ist, eine Fremdsprache zu beherrschen. Zum anderen, dass das Übersetzte, nun, da es schon mal existiert, auch umsetzbar ist.

Ricœur schreibt, wie erstaunlich die Tatsache sei, dass trotz der Vielseitigkeit der Menschheit und der Sprachen, die sie spricht, eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere Sprache immer möglich ist. Und es stellt sich ihm die Frage, ob wir überdies unsere Muttersprache wie ein Fremder wahrnehmen können, ohne selbst Erfahrungen mit dem Einstieg in eine fremde Sprache gesammelt zu haben?

Ich bin davon überzeugt, dass mein Erfahrungsschatz als Psychotherapeutin ohne meine Erfahrungen aus dem Übersetzen von Texten und ohne meine Dialoge mit ihren Autoren viel ärmer und langweiliger wäre. Erst durch diese Überschneidung und das wechselseitige Ineinandergreifen lerne ich, hinter jedem Text lebendige Menschen zu sehen, die ich verstehen möchte, und hinter jeder Lebenssituation einen Text in einer Fremdsprache zu erkennen, den ich übersetzen möchte.

Fußnoten
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PDF

Irina Gluchowa (Minsk) studierte Psychologie (Diplom) und Philosophie (Magister). Sie ist praktizierende Existenzialtherapeutin und Daseinsanalytikerin. Seit September 2021 ist sie Präsidentin der in Litauen (Birštonas) ansässigen Osteuropäischen Assoziation für Existentialtherapie (East European Association of Existential Therapy und Dozentin am Institut für Humanistische und Existentielle und Psychotherapie (HEPI), ebenfalls in Birštonas. Sie übersetzt aus dem Englischen und Deutschen ins Russische. Zu ihren Übersetzungen zählen u.a. die Zollikon-Seminare von Martin Heidegger sowie Bücher von bekannten zeitgenössischen Psychotherapeuten wie Alice Holzhey-Kunz, Ernesto Spinelli und Emmy van Deurzen. Derzeit lebt und arbeitet sie in Barcelona.

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