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Meine schlechteste Übersetzung

Vor etwa zehn Jahren erhielt ich den schönen Auftrag, den autobiographischen Roman einer deutschen Autorin ins Ungarische übersetzen. Dass die Autorin in meinem Alter war, schien zunächst irrelevant zu sein, aber schon während der ersten Lektüre des Buches empfand ich, was ich hin und wieder gegenüber Autorinnen und Autoren, deren Werke ich übersetze, empfinde: eine Vertrautheit, ja seelische Verwandschaft, als seien wir Zwillinge. Mich beeindruckte vor allem der sachliche, distanzierte und ironische Erzählton, der angesichts der dargestellten Größe der Gefühle und Tragik der Ereignisse wohltuend wirkte und den ich auch in meinen eigenen Texten gerne anklingen lasse. Kurzum: ich hörte meine eigene Stimme in dem Buch, es beflügelte meine Arbeit.

Lektorin und Cheflektorin waren zufrieden mit dem Manuskript. Sie beauftragten einen externen Lektor (seinerseits ein Autor ersten Ranges, nebenbei bemerkt), die Übersetzung mit dem Original zu vergleichen, denn auch in den ungarischen Verlagen sitzen kaum noch Lektoren, die des Deutschen mächtig sind. Hier und da wurden Bemerkungen und Korrekturen vorgenommen, wie es üblich ist. Die Vorschläge der drei waren ganz im Sinn des Originaltextes und meiner Intention. Der Text war also bestens aufgehoben.

Bis der oberste Chef, der Direktor des Verlages, ins Bild trat. Er las das übersetzte Manuskript (nicht das Original) durch und behauptete, die Sprache des Romans sei zu kühl, trocken, emotionslos, fast ungenießbar, sie käme der ungarischen Leserschaft nicht entgegen. Er bat mich gar nicht erst, meine eigene Übersetzung zu bearbeiten, sondern beauftragte eine Kollegin damit, den Text seinen Instruktionen entsprechend umzuschreiben. Was sie ohne Skrupel tat. Das Ergebnis war dieselbe französische Apfeltorte, nur mit viel Schlagsahne obendrauf. Auch lecker. Ich wurde gebeten, die aufgeschäumte Version zu überprüfen, mir fehlten aber sowohl die Lust als auch die Zeit dazu. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, die Ruinen meiner Arbeit zu begutachten. Aus urheberrechtlichen Gründen war es natürlich nicht möglich, den Namen der Kollegin als Verfasserin der Übersetzung anzugeben, obwohl ich das in einem peinlichen Telefongespräch mit der Chefredakteurin vorschlug. Man hat mich wohl selten so schreien sehen: Ich stand an der Rezeption des Goethe-Instituts in Budapest und schrie ins Telefon, weil meine Zwillingsschwester nicht in meiner Stimme erklingen durfte. Ja, es war wohl auch eine narzisstische Kränkung, ich gebe es zu. Meine Übersetzung war verworfen worden, abqualifiziert als schlechte Übersetzung – allein in den Augen einer einzigen Person zwar, aber auch das ist manchmal zuviel.

Was tat ich dann? Tatsächlich habe ich die frisierte Fassung am Ende zugelassen. Das Urteil des Verlagschefs verunsicherte mich nämlich tief in meiner Rollenauffassung als literarische Übersetzerin. Was, wenn er recht hat?, überlegte ich. Was, wenn ich mit meinem Zwillingsschwester-Konzept und der distanzierten Ironie die ungarische Übersetzung überstrapaziert, die feinen Unterschiede zwischen den beiden Kulturen ignoriert habe? Ist in diesem Fall das Ergebnis eine verfehlte, eine schlechte – wie der Chef sich äußerte: fast ungenießbare – Übersetzung? Bin ich dem Text bzw. der Autorin im wahrsten Sinne des Wortes zu nahe getreten und habe andere übersetzerische Erfordernisse dabei vernachlässigt? Oder wurde ich einfach nur Opfer der verlegerischen Willkür und bestand mein Fehler einzig darin, das Diktat akzeptiert zu haben, anstatt zu rebellieren und auf meine Rechte als Urheberin zu pochen? Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass der Verlagschef seine (vermeintlichen) kommerziellen Interessen über mein übersetzerisches Berufsethos stellte und seine Macht mißbrauchte. Aber die Frage nach der „schlechten Übersetzung” – mit und ohne Anführungszeichen – ist eine der interessantesten und heikelsten in unserem Metier. Die Kriterien sind schwammig, es gibt kein gemeinsames Maß, nach dem sich die übersetzerische Freiheit oder Willkür beurteilen lässt. Wir Übersetzer·innen selbst können wahrscheinlich am meisten dazu sagen, scheuen uns aber davor, eine Kultur der Übersetzungskritik zu entwickeln. Wir alle gehen einem unterbezahlten Beruf nach, umso größer sind die Sensibilitäten. Inwieweit lassen wir Kritik überhaupt zu, „unter uns” im Kollegenkreis, in der Arbeit mit den Verlagen, in der Öffentlichkeit? Die hier zu Tage tretenden Berührungsängste und -tabus wären eine längere Erörterung wert...

 

18.12.2020
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© József Szabó

Lídia Nádori lebt als Übersetzerin und Autorin in Budapest. Sie übersetzte u.a. Ingo Schulze, Terézia Mora, Judith Schalansky, Herta Müller, Martin Walser und Botho Strauß ins Ungarische. Sie ist Vorstandsvorsitzende des Vereins Ungarischer LiteraturübersetzerInnen (MEGY).

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