Von Liebe und Arbeit.
Ein Journal zur Übersetzung des Romans Wie hoch die Wasser steigen von Anja Kampmann
Einleitung
Anja Kampmanns Wie hoch die Wasser steigen begleitet eine Figur, die im Buch mal Waclaw und mal Wenzel Groszak genannt wird, ein 52-jähriger Deutscher polnischer Abstammung, der seit mehr als einem Jahrzehnt auf einer Offshore-Ölplattform arbeitet. Zu Beginn des Romans verschwindet Waclaws Kabinengenosse und engster Gefährte Mátyás bei einem Sturm. Dieser Tod setzt eine Odyssee der Trauer in Gang, auf der wir lernen, wie die Arbeitsjahre Waclaws Bande mit seinem einstigen Leben gelöst, und es durch eine einzige tiefe Freundschaft und die trostlose Aneinanderreihung langer Schichten auf immer weniger ertragreichen Ölplattformen ersetzt haben, abgewechselt von Alkohol-, Glücksspiel-, Drogeneskapaden und Erschöpfungsphasen zu Land. Über Waclaws Reisen, die ihn in Mátyás’ ungarisches Heimatdorf führen, nach Italien, wo er einen alten Freund seines Vaters besucht, in die Bergbaustadt im Ruhrgebiet, in der er groß geworden ist, und schließlich in das polnische Dorf, in dem er einst mit einer Frau namens Milena lebte, der er sich vollkommen entfremdet hat, zeichnet das Buch eine Liste von Verlusten nach – dem eines geliebten Menschen, von Bodenreichtümern und der darauf aufgebauten Lebensart – und den Weg zurück ins Leben. In jedem Moment ist das Buch höchst poetisch, in dem Sinne, dass es einem Rhythmus folgt und dem Klang der Sprache, in dem Sinne, dass die Geschichte eher fühlbar gemacht, als dass sie (aus-)erzählt wird, hervorgerufen durch kristallklare Bilder und Momente, die nach einer uneingeschränkten Aufmerksamkeit verlangen und die einen durch ihre emotionale Schlagkraft belohnen. Gleichzeitig setzt das Buch auf makellose Genauigkeit, gestützt auf eine Grundlage von Wissen und Fakten: über Funktionsweise und soziale Codes der zeitgenössischen Ölindustrie und der Bergbauindustrien zurückliegender Generationen, über Landschaften und Städte in der ganzen Welt, über verschiedene Sprachen, und über unzählige weitere sehr spezifische Themengebiete, vom Brieftaubenwettbewerb bis zur Maßschneiderei.
Die Arbeit an Wie hoch die Wasser steigen bedeutet für mich vielerlei erste Male. Es ist das erste Mal, dass es mir gelang, erfolgreich ein Buch bei einem Verlag unterzubringen, was gleichzeitig bedeutet, dass es das erste Buch ist, das ich liebte, noch bevor ich anfing, es zu übersetzen; es ist das erste Projekt in Buchlänge, das ich aus Liebe zum Text übersetzt habe. Es ist weiterhin das erste Buch, das ich übersetzt habe, das aus der Feder einer Freundin stammt, und es ist das erste Buch, für das sich eine Freundin stark gemacht und es lektoriert hat: noch mehr Liebe. Für kein anderes Projekt habe ich auch nur einen Bruchteil so viel Zeit aufgewendet, um mit der Autorin zusammenzuarbeiten (auch das sicher ein Beleg für Freundschaft) und um zu recherchieren; in diesem Sinne war das Projekt vielstimmiger als alle bisherigen. Es war die schwierigste Übersetzung, an der ich jemals gearbeitet habe, gemessen an der Zeit, die ich investiert habe. Es war auch die einfachste Übersetzung, in dem Sinne, dass es einfach ist, etwas zu tun, was man liebt.
Einige Fragen, I
Was ist Arbeit? Ist sie befriedigend und angenehm oder zehrend und zerstörerisch? Ist Schreiben Arbeit? Ist Übersetzen Arbeit? Ist Trauer Arbeit? Hat Waclaw zwölf Jahre lang in Zwölfstundenschichten seinen Körper geschunden und aufs Spiel gesetzt, nur damit ich mich mit der Sprache amüsieren und seine Geschichte erzählen kann?
Eine erstaunlich beliebte Frage bei Lesungen ist – und zwar nicht nur von Studierenden und Kindern – wie lange haben Sie dafür gebraucht? Diese Frage hat mich immer etwas in die Enge getrieben. Was soll man einrechnen? Die Zeit, die ich aufs Lesen, Denken, darüber Sprechen verwendet habe? Oder nur die Zeit, die ich zum Tippen brauchte? Stellen sich die Fragenden einen Arbeitstag vor, der um 9 Uhr beginnt und um 17 Uhr endet? Erwarten sie eine Antwort in Monaten oder Jahren, wobei sie der Übersetzerin Zeit zum Schlafen und Essen zugestehen wie anderen Menschen auch? Oder meinen sie buchstäblich die Minuten, die ich mich genau diesem Projekt und nichts anderem gewidmet habe, als wäre eine solche Rechnung so einfach? Dieses Mal beschloss ich tatsächlich nachzuzählen, was zum Teil meiner lebenslangen Faszination für die Frage geschuldet war, was eigentlich Arbeit ist, und zum anderen als Hommage an Waclaws streng getaktete Schichten und die Arbeitswelt, die den Hintergrund für dieses Buch bilden. Ich lud mir eine App herunter, für alle, die es ganz genau nehmen, sie hieß “Productivity Challenge Timer” (Produktivitätssteigerungsstoppuhr) und war mit sowjetisch anmutenden Symbolen versehen, die rastlos arbeitende Menschen darstellen sollten. Die Uhr läuft, während ich dies hier schreibe; in einigen Minuten wird ein Gong ertönen, der eine Fünfminutenpause ankündigt, die ich mir gestatten könnte, wenn ich denn wollte. Sobald die Pause vorbei ist, wird der schrille Pfiff eines Sportlehrers (Gefängniswärters?) mich daran erinnern, dass es Zeit ist, wieder an die Arbeit zu gehen, und der Ton wird sich in immer kürzeren Abständen wiederholen, begleitet von aggressiven, Schuldgefühle weckenden Aphorismen, bis meine “Stechuhr wieder rattert”. Erhöht sich die durchschnittliche Anzahl der täglichen Arbeitsstunden, steigt man vom “reuelosen Bummelanten” zum “gelangweilten Aufseher” und diverse andere Stufen auf, die ich nie erreicht habe. In diesen Tagen, da das Buch in die Druckerei geht, habe ich 236 Stunden und 21 Minuten daran gearbeitet, im Durchschnitt eine Stunde und 22 Minuten pro Tag (die App macht einem schnell klar, dass jeder Tag ein Arbeitstag ist), die Zahl gibt also den Durchschnittswert aller Tage an, einschließlich jener, an denen ich gar nicht gearbeitet habe. Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt lächerlich wenig.
Was also habe ich die ganze Zeit gemacht, an all den Schreib- und Arbeitstischen, in den Zügen und Hotelzimmern? Vielleicht ist es sinnvoll, die Arbeit in zwei Kategorien zu unterteilen – Recherche (Arbeit?) und Schreiben (keine Arbeit?) und sie auf unterschiedliche Weise anzugehen, auch wenn es in der Praxis für mich wichtig war, sie nicht voneinander zu trennen. Vielleicht, um mich, wie so oft, selbst davon zu überzeugen, dass ich wirklich die ganze Zeit “gearbeitet” habe, vielleicht, um zu verhindern, dass der eine Bereich den anderen verschlingt oder andersherum.
In Wie hoch die Wasser steigen sind die Leser∙innen unmittelbar mit einer Welt konfrontiert, mit der nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung vertraut ist, und zu der sowohl die Welt, die ich als literarische Übersetzerin bewohne, als auch diejenige der hauptsächlichen Leserschaft des Buches eine große Distanz hat. Mehrmals habe ich Leserinnen und Kritiker über Waclaw, einen Bohrarbeiter auf einer Ölplattform, als einer Figur “am Rande der Gesellschaft” sprechen hören – eine ironische Wahrheit, die sich weniger auf seine manuelle Arbeit als vielmehr auf seinen Arbeitsplatz, der sich geografisch am Rand befindet und deshalb für viele unerreichbar ist, anwenden lässt. Kampmanns Sprache lässt diese Welt so deutlich hervortreten, dass das Unbekannte greifbar und somit zum Selbstverständlichen wird. Das spezialisierte Vokabular wird mit einer solchen Unumgänglichkeit und Genauigkeit verwendet, dass es den Leser nicht befremdet oder verwirrt, sondern ihn in den Text hinzieht. Es wird auf beinahe magische Weise nachvollziehbar und klingt in keinem einzigen Augenblick nach Fachjargon. Als ich während meiner Recherchen Videos wie dieses hier anschaute, überkam mich das seltsame Gefühl, die Bilder bereits gesehen zu haben, dort gewesen und den Menschen, die im Hintergrund zu sehen waren, schon begegnet zu sein. Hätte die Kamera einen Moment lang auf den Männern in den Fluren, der Kantine oder dem Fitnessstudio der Bohrinsel geruht, ich hätte sie alle beim Namen nennen können: Petrov, Shane, Francis – Nebenfiguren des Buches.
Es ist jedoch eine Sache, diese Wirkung zu erleben und eine andere, sie zu erzeugen. Zumindest beginnt die genaue Nachahmung dieses Gefühls mit einem genaueren Blick als dem, den die Leser∙innen haben (hoffentlich zumindest - wenn der Zauber denn wirkt). Erste Seite des ersten Kapitels: Was sind Stahltampen, was ist ein Trittbrett, der Bohrturm und vor allem Inselbeine? Was für Stifte, was für ein Gurt? Diese Fragen brauchen sich die Leser∙innen nicht zu stellen, denn die Bedeutung ist so klar wie nötig. Die Übersetzerin aber muss die Antworten darauf gut genug kennen, damit die Leserin sich die Frage nicht stellt. Es folgten Stunden, in denen ich technische Zeichnungen auswertete, Bild für Bild verglich und Wort für Wort, und die Erkenntnis, wie wenig eine Zeichnung Licht ins Dunkel bringen kann, wenn man keine Ahnung von der Wirklichkeit hat, auf die sie sich bezieht, wenn man sich nicht vorstellen kann, wie es aussieht, wenn die Dinge in Aktion sind, wenn man sich nicht vorstellen kann, wohin genau ein Mann sein Gewicht auf einem Gerüst verlagern oder wie sein Arm in eine Maschine geraten kann. Eine Zeichnung legt nicht nahe, wie ein Mensch im Sturm verloren gehen und niemals wiedergefunden werden kann.
Ich bin mir noch immer nicht sicher, wie das alles funktioniert, aber ich weiß jetzt, ohne nachschauen zu müssen, bei welchem Teil auf der obigen Zeichnung es sich um das Gestänge handelt.1
Dann gab es die Momente, in denen ich mühsam den entsprechenden Begriff auf Englisch herausgefunden hatte und mich dagegen entschied, ihn zu verwenden, Momente, in denen die Genauigkeit im Englischen die Poesie verraten hätte und in Fachjargon gekippt wäre, oder eine Wirkung erzeugt hätte, die mir ganz anders zu sein schien als die im Deutschen. Oder andere Momente, in denen mich die Sprache, und mochte sie auch eine noch so lebendige Wahrheit in sich tragen, ratlos zurückließ. Es ist verführerisch zu glauben, vor allem für eine Autorin oder einen Leser, dass eine klare Beschreibung eine Wirklichkeit auch unzweideutig wiedergeben muss, wenn man nur genau genug liest. Um diese Hypothese zu prüfen, zeichnen Sie bitte folgende Apparatur:
„Über dem Ring spannte sich ein spitz zulaufendes Netz aus groben Tauen, an denen sich die Arbeiter, wenn sie in die Höhe gehoben wurden, festhielten.“
Meine Version2 erfüllt die Beschreibung haargenau, wirkt aber erschreckend unwahrscheinlich. Als ich aber meine Übersetzung, die ich mir mit Hilfe meiner Zeichnung zurechtgelegt hatte, einem Bohrarbeiter vorlegte, war es nicht die Beschreibung der Konstruktion, die ihn beunruhigte:
Anne: Ich hatte Schwierigkeiten, mir diese Passage vorzustellen, und ich weiß nicht, ob, was ich geschrieben habe, überhaupt Sinn ergibt. Tut es das? Sagt man “slewing crane” für Schwenkkran, und wie verhält es sich mit dem Netz und den Tauen?
“Waclaw had been out barely a year and watched anxiously as the slewing crane began to move, and lowered the big ring. Over the ring stretched a tapered net of heavy ropes, which the workers held onto when they were lifted up. Bringing prostitutes or others onto the platform wasn’t allowed; the fear of piracy was great, and the possibility that instead of Caribbean rum the crates might contain a detonator had been drummed into their minds—particularly those of the younger ones.”
“Waclaw war erst ein knappes Jahr dort draußen und sah mit Unbehagen, wie sich der Schwenkkran in Bewegung setzte und den großen Ring hinabließ. Über dem Ring spannte sich ein spitz zulaufendes Netz aus groben Tauen, an denen sich die Arbeiter, wenn sie in die Höhe gehoben wurden, festhielten. Es war nicht erlaubt, Fremde oder Prostituierte auf die Plattform zu nehmen, die Angst vor Piraterie war groß, und die Vorstellung, dass die Kisten statt karibischem Rum einen Zünder enthalten konnten, war vor allem den Jüngeren eingebläut worden.”
Andrew: Echt jetzt, Prostituierte und Rum in einem Transportkorb? Kann man sich da bewerben? Also, “slewing”/ ”schwenken” ist der korrekte Begriff, wenn sich der Kran horizontal bewegt, auf einer Achse von links nach rechts. “Ring” nennt man einen Transportkorb, in dem man Personen befördert, es handelt sich um eine kegelförmige Konstruktion aus steifen Netzen, an denen man sich festhalten kann, wenn einen der Kran von der Bohranlage zum Crew-Boot hinüber befördert.
Die Übersetzung war offenbar in Ordnung, ich aber konnte das Ganze erst ruhen lassen, als ich wusste, dass die Arbeiter in Sicherheit waren – oder zumindest ein kleines bisschen sicherer, als es sich für mich dargestellt hatte.
Nachdem man so viel Zeit in einer Welt verbracht hat, die aus Wörtern gemacht ist, einer Welt, die die echte Welt so überzeugend spiegelt, dass man das Gefühl hat, man hätte tatsächlich etwas Neues erlebt, ist es eine eigenartige Erfahrung, plötzlich mit den Vertretern der gelebten Realität dieser Welt konfrontiert zu sein. Als ich zu Recherchezwecken nach Aberdeen fuhr, erwartete ich aus irgendeinem Grund einen pittoresken Werkshafen, rau, aber schön, so wie Sprache eben schön ist, stattdessen jedoch empfingen mich schwergewichtige Industrieanlagen, die erschütternd unmenschlich wirkten. Sie waren gar nicht schön und drückten mir auf die Stimmung. Die Wörter im Buch zauberten für mich eine lebhafte Fantasiewelt herbei, als ich Andrew aber meine Fragen stellte, gab das magische Wesen plötzlich Widerworte, und die Gefahr wurde spürbar.
Anne: Gibt es so etwas wie “creeping gases”/”kriechende Gase” (die auf einer Bohrplattform eine Explosion auslösen können)?
Andrew: Also, was du meinst, nennt sich “Kick”. Ein Kick bezeichnet das Einströmen von Gas oder Öl in die Bohrflüssigkeit (auch “Bohrschlamm” genannt, eine Mischung aus Grundöl und Baryt). Wenn man ein Loch bohrt, stehen das Gas und das Öl, das man fördern will, unter enormem Druck, wegen des Gewichts der Erde, des Meeres, etc. Es sammelt sich in kleinen Taschen (‘pay dirt’ genannt, eine Art ‘Goldader’) und wird durch den enormen Druck wahnsinnig komprimiert. Wenn man nun in diese Taschen hineinbohrt, setzt man den Druck über das Bohrloch in die Atmosphäre frei. Um zu verhindern, dass Mutter Erde durch das Bohrloch nach oben, durch den Drehtisch hindurch, herausgeschossen kommt, befindet sich oben auf dem Bohrloch eine dichte Flüssigkeit. Hydrostatischer Druck ist im Grunde Höhe x Dichte, so lässt sich ausrechnen, wie hoch der Druck sein muss, um einen “Kick” zu verhindern, indem man die Dichte des Bohrschlamms erhöht und somit den Gegendruck auf die Gas- bzw. Öltasche. Auch das Gegenteil kann eintreten, wenn der Druck des Bohrschlamms zu hoch ist, und das Hineinbohren in die Gesteinsformation misslingt, dann verliert man das, was man fördern wollte, weil der Schlamm direkt in die Formation hineinläuft. Lange Rede, kurzer Sinn, wenn Gas in den Bohrschlamm eindringt, ist das die Vorstufe zu einem Kick, der eine Explosion auslösen kann.
Anne: Ergibt das hier Sinn: “The big tongs, they said, had sprung back and smashed into his shoulder; his head had hit one of the structures as he fell.” (“Die große Zange, sagten sie, war zurückgeschnellt und gegen seine Schulter geprallt, im Sturz war sein Kopf gegen eine der Aufbauten geschlagen.”) Kann man das so sagen, “big tongs” / “große Zange”? Ich vermute, dass hier das Steigrohr in das zementierte Bohrloch eingeführt wird, aber ich bin mir nicht sicher. Und gibt es ein genaueres Wort für “structures” (“Aufbauten”)? Irgendetwas, das jemanden am Kopf treffen könnte bei dem Unfall, der beschrieben wird?
Andrew: Manuelle Rohrzangen gibt es tatsächlich, und sie sind wahnsinnig gefährlich. Heutzutage werden elektro-hydraulische Zangen verwendet, für die es keine Menschen braucht, um die Bohrvorrichtungen hoch- und runterzufahren. Statt “structure” für “Aufbauten” würde ich den Begriff “derrick” verwenden, denn jede Etage auf einem Bohrturm ist ein Derrick.
Auch wenn die Erdölindustrie vielleicht das exotischste von den vielen Themengebieten war, zu denen ich recherchierte, und dasjenige, das mir die meiste Aufmerksamkeit abverlangte, war es paradoxerweise eins der zugänglicheren Themen, was das Übersetzen angeht. Erdöl und Erdölförderung sind eine universelle Wirklichkeit; die Prozesse und die Kultur sind vereinheitlicht, sind vollkommen international. Auch wenn Kampmanns Waclaw Deutsch spricht, hätte der “echte” Waclaw in seinem Arbeitsleben hauptsächlich Englisch gesprochen, und zwar auch mit Mátyás.3 Globales Englisch ist Standard innerhalb der Industrie; es gibt keine Nischen mit kulturellen Eigenheiten, die sich einer Übersetzung ins Standardenglisch entziehen, da die Begriffe und Codes in Kampmanns Buch in gewisser Weise selbst bereits Übersetzungen aus dem Englischen sind, wenn auch aus einem etwas anderen Dialekt.
Von der Bergbaukultur des Ruhrgebiets lässt sich das nicht behaupten, die ihren Höhepunkt in einer Zeit hatte, als die heutige Globalisierung noch gar nicht vorstellbar war. Wenn Arbeiter wie Waclaws Vater und dessen bester Freund auch aus Polen oder Italien stammten, kamen sie dennoch nicht aus Ländern wie Australien oder dem Iran, und Waclaws anderer Name, Wenzel, ist Zeichen eines starken Hangs zur Assimilierung. Der Freund, den Waclaw als Alois kennt, wurde in Italien als Enzo geboren. Die Kultur des Ruhrpotts im Nachkriegsdeutschland ist nicht von der Sprache zu trennen, und lässt sich mit den Bergbaustädten in englischsprachigen Ländern zwar vergleichen, sich durch diese jedoch weder ersetzen noch austauschen. Die Wörter Vierspänner oder Kniffte, gar nicht zu reden von Glückauf, verweisen auf etwas viel Größeres und Spezifischeres als nur auf ein Haus, ein belegtes Brot oder einen Gruß. Kampmann reizt den totemischen Wert der Sprache aus, und der Leser, der deutsche oder englische, muss diese Irreduzierbarkeit akzeptieren und sich mitnehmen lassen hinter genau diese Häuser und hinter keine anderen.
In jeder Sprache muss man entweder aus der Erfahrung heraus zuordnen können, was ein Wort bedeutet oder sich auf unbekanntes Terrain begeben und mit Hilfe einer kraftvoll und gut konstruierten Prosa verstehen, dass ein Wort wie Esse eine ganze Geschichte und Lebensart beinhalten kann. Gelingt meinem Schreiben das? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber auch nicht, ob es bei Kampmann gelingt. Mein Verständnis entwickelte sich in nicht unwesentlichem Maße durch die Gespräche mit Anja, und unseren Skype-Austausch, der sich mit einer ganzen Galerie von Bildern und Links füllte, die einen guten Einblick in die Bandbreite der Recherche geben, die in das Buch geflossen ist, sowohl von ihrer als auch von meiner Seite. Ich bekam viel Hilfe, um das zu erfassen, was nicht unmittelbar auf den Seiten geschrieben stand. Weder Autorin noch Übersetzerin haben Kontrolle über die Erfahrungen ihrer Leser∙innen. Ich bin aber dennoch optimistisch, und zwar aus Gründen, die eher etwas mit Liebe als mit Arbeit und Mühsal zu tun haben.
Einige Fragen, II
Was bedeutet es, einen Text zu lieben? Und was bedeutet es, einen Text, den man liebt, zu übersetzen? Ist es ein selbstloser Akt, eine Dienstleistung? Oder ist es vielmehr ein Akt extremen Egozentrismus, von Selbstbehauptung, Besitznahme oder sogar des Besitzes?
Liebe geht durch den Körper. Wenn es sich um Liebe zwischen zwei Menschen handelt, ist klar, was das bedeutet. Findet diese Liebe jedoch zwischen einem Menschen und einem Text statt, bedeutet dies, wenigstens für mich, dass die Übersetzung des Textes stark auf Intuition, auf Impuls setzt – auf die Art “Wissen”, das im Körper gespeichert ist und nicht im Kopf. Ein wichtiger Bezugspunkt für mein Verständnis dieses Prozesses ist die Musik. Ich bin Musikerin, und noch bevor ich mit dem Übersetzen begann, haben mich immer Texte interessiert, bei denen Klang eine Rolle spielt – ein bestimmter Rhythmus, ein bestimmtes Gefühl dafür, dass die Sprache vielmehr etwas singt, als dass sie es sagt: jenes Verständnis von Sprache, auf der die Poesie beruht. Wer ein Stück Musik vom Blatt spielt, trifft fortwährend irgendeine Wahl, ganz unbewusst – was man im Leben gefühlt, gehört und erlebt hat, ist im Körpergedächtnis gespeichert und wird abgerufen, um physische Entscheidungen zu treffen, die genau jenes “Verständnis” des Stücks transportieren, das man dann als Interpretation bezeichnet. Beim Aufführen von Musik spricht man selten von Verrat, von Untreue oder von einer “falschen” Interpretation, wie es häufig beim Übersetzen geschieht: Bevor eine Musikerin eine Musik spielt, hat diese bis dahin noch gar nicht in einer Form existiert, in der ein Zuhörer sie überhaupt erleben kann.
Mein Empfinden beim Übersetzen eines geliebten Textes ist ganz ähnlich. Ich lese Anjas Text, ich “höre” ihn in meinem Kopf, und dann versuche ich mein Verständnis dieses Textes – so wie er auf mich wirkte, wie er für mich klang, welche Gefühle er in mir erzeugte – für die Leserin in eine Form zurückzuübertragen, in der sie ihn erleben kann. Weniger durch Überlegung, bewusste Entscheidungsfindung, als vielmehr durch eine intuitive Ausführung, die sich auf das im Körper gespeicherte Wissen stützt. Natürlich wird später eine tragfähige Logik erkennbar sein - weder ist der Körper willkürlich noch ist er dumm -, und natürlich gibt es auch schwierige Momente und solche des Innehaltens. Aber dieses Nachdenken ist weniger ein “was bedeutet das und wie kann ich es korrekt auf Englisch sagen?” als vielmehr ein “was höre ich und wie kann ich es auf dem Papier stattfinden lassen? Was bringt mein Verständnis zum Klingen, was fühlt sich richtig an?”
Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich mit der Arbeit an der Übersetzung von Wie hoch die Wasser steigen begann, an die Aufwärmphase während des ersten Kapitels. Ich wusste, wie es klingen müsste, musste mich aber erst dahin trainieren, diesen Klang entstehen lassen zu können: Fingerübungen, Arbeit mit einem Metronom, Versuche, in welchem Winkel und mit welchem Druck ich den Bogen ansetzen sollte. Ich erinnere mich an das Gefühl, langsam dort anzugelangen, wie, wenn man sich nach dem von der Oboe angestimmten Ton richtet, damit die eigene Note von denen der anderen Instrumente des Orchesters nicht zu unterscheiden ist. Dabei schlüpfte ich in das Bewusstsein der Figur und verstand, meistens jedenfalls, warum dieses oder jenes Bild plötzlich auftauchte, worauf sich ein indirekter Kommentar bezog. Dies war einer der faszinierendsten und herausforderndsten Aspekte für diesen besonderen Text und ein weiterer Augenblick der Liebe. Obwohl der Text in der dritten Person geschrieben ist, wird die Geschichte aus Waclaws Perspektive erzählt: Das Narrativ ist konstruiert aus dem, was er sieht, hört und um sich herum wahrnimmt, und vor allem aus dem, was er erinnert. Was er bewusst denkt und fühlt, wird ebenfalls berichtet – was wir aber darüber erfahren, wird durch sein emotionales Vokabular gefiltert und das ist eher begrenzt. Traurigkeit oder Trauer werden beinahe gar nicht explizit erwähnt. Meist weiß er nur, dass er erschöpft ist. Um zu verstehen, was es für ihn bedeutet, wenn in einem bestimmten Augenblick eine Erinnerung aufscheint, muss der Leser Waclaw deshalb nah genug kommen, und mehr und mehr, auch über sehr zaghafte Hinweise erahnen zu können, welche Erinnerung gemeint ist, wenn lediglich ein Bild evoziert wird.
In den meisten Fällen funktioniert das, und das Gefühl zu haben, der Figur so nah folgen zu können – sie zu kennen, gewissermaßen sogar besser, als sie sich selbst kennt – ist beglückend. Diese Technik ist jedoch höchst herausfordernd, und es werden zwangsläufig Momente entstehen, in denen die Leser∙innen zu weit entfernt bleiben von Waclaws (Anjas) Bewusstsein, um es genau nachzuvollziehen. Diese Momente sind, wie ich aus meinen Begegnungen mit der Lektüre anderer Übersetzer∙innen, Verleger∙innen und Korrekturleser∙innen erkennen konnte, für jede und jeden andere. Ich zum Beispiel habe damit gekämpft, folgende Passage zu erfassen, die in dem Augenblick auftaucht, als Waclaw Mátyás Vergangenheit ganz nah ist, die aber eine Szene beschreibt, von der Waclaw selbst nicht hätte wissen können:
“Mátyás war klamm und fror, als seine Mutter ihn im Morgengrauen fand. Sie legte Brennholz in den Ofen, ihre Hände zitterten bei dem Versuch, die Streichhölzer zu entzünden, sie war barfuß und spürte es kalt die Oberschenkel herabrinnen, und während sie hockte und vor sich hin starrte, wanderte ihr Blick hinaus in das erste Licht und den Apfelbaum mit seiner dünnen knotigen Krone, und darin war ein Schatten, lag ihr Junge mit dem Kopf auf dem Moos und die Arme wie Krallen um den Ast gedreht, und kam nicht herunter, als sie längst den Hügel hinaufrannte in einer lautlosen Linie und ihn griff und ihn nicht mehr los ließ, bis die Hitze des Badewassers in seinen Nacken gestiegen war und er schließlich einschlief unter drei Daunendecken und sie verstohlen und plötzlich alt, das war, was sie dachte, an sich heruntersah, knietief in dem Rest von seinem lauwarmen Wasser seifte sie sich, bis die Hände blau waren, und der Duft der feinen Lavendelseife verdrängte jeden Gedanken an die Uniform und die Stiefel in der Nacht und die Kälte, die von der zweiten Person ausgegangen war, an die haarige Hand, nachdem die Tür geschlossen war und sie nur versuchte, leise stets leise zu sein wegen der Kinder, und beim Aufwachen war ein kaltes, vor Zorn blasses Licht über die Häuser gekommen und über den Schuppen, und erst als sie ihren Sohne gefunden hatte, festgekrallt, in dem Baum, hatte sie begriffen, dass dieses Licht nicht wütend war, sondern kraftlos, und ihr Haar in dem lauwarmen Wasser hing in langen Strähnen an ihr herunter, die Seife, sie half gegen nichts.”
Rückblickend kann ich mir vorstellen, dass Leser∙innen aufgrund der vorherigen Erwähnungen des Exils auf dem Lande von Mátyás Familie nach dem politischen Mord an seinem Vater sensibel genug waren, um zu verstehen, dass es in dieser Passage um die Vergewaltigung der Mutter durch einen Soldaten geht. Mir aber erschlossen sich diese Bilder erst, als ich mit Anja darüber sprach.
Andere Stellen hingegen schienen mir vollkommen eindeutig. Dann hast du wohl nicht genau genug gelesen? Wollte ich andere Leser∙innen manchmal fragen. Es ist doch so offensichtlich, wie konnte dir entgehen, dass der “Propeller”, von dem die Rede ist, ganz einfach ein Deckenventilator ist? Wie konntest du die schraffierten Stellen auf den Seekarten für verlorene Seelen halten statt für Untiefen? Dabei machen die Möglichkeiten dieses fantasievollen “Falschlesens” einen Teil der Schönheit von Kampmanns Text aus. Ein genaues Lesen und ein Ohr für – ein Empfinden für oder die Liebe zur – Sprache führen die Leser∙innen zu einem nachhallenden Verständnis der Geschichte. Das jedoch verlangt nach persönlichem Einsatz, der hin und wieder zu einer anderen Lesart führt als die, die die Autorin im Blick hatte. Waclaw und seine Geschichte streben manchmal hinaus in die Freiheit.
Ganz zufällig nahm Anja Kampmann, am selben Tag, an dem ich High as the Waters Rise an meinen Verlag schickte, einen bedeutenden Literaturpreis entgegen. Ich war vor Ort anwesend, in einem lauten, unangemessenen Bierzelt vor den Toren Frankfurts, saß unverdientermaßen auf einem Platz an einem der vorderen Tische und hörte, wie sie über Poesie, das Geschichtenerzählen und über ihr Buch sprach. Ich kann nicht zusammenfassen, was sie sagte, denn, als sie zu sprechen begann, war ich den Tränen nahe, und sobald es halbwegs vertretbar war, aufzustehen, rannte ich davon und schluchzte. Ich war ergriffen, vor Stolz, wegen unserer Freundschaft, aber auch von einem bestimmten Gefühl des Verlustes: Ich wusste, dass die Zeit, in der der Text mein täglicher Gefährte gewesen war, nun vorüber war. Waclaw würde nichts Neues mehr sagen oder erleben, nie mehr, und ich vermisste ihn bereits jetzt schmerzlich. Ich glaube aber rückblickend, dass meine Tränen noch einen anderen Grund hatten. Anja sprechen zu hören – die Autorin, den Kopf, die das Buch, das ich gerade übersetzt hatte, geschaffen hatten –, bedeutete für mich, den Text verkörpert zu sehen, zu sehen, wie sich das Geschriebene fortsetzte, brillant und lebendig und völlig losgelöst von mir. Der Schmerz erwuchs daraus, dass ich einen Text geschaffen hatte, mit dem ich höchst zufrieden war, den ich als richtig und wahr empfand, so, als seien jedes Wort und genau dieser Rhythmus, die einzigen, die auf Englisch für Waclaw, für Anja, in Frage kamen, und die ihnen dennoch niemals gerecht werden konnten, wie mir plötzlich schien.
In der Kunst – in der Malerei, der Fotografie, dem Schreiben - sprechen wir davon, etwas “einzufangen”. Ein Gefühl festzuhalten oder einen kleinen Fetzen Wirklichkeit, sie für andere im jeweiligen Medium sichtbar zu machen, wie in einem Zoo – damit sie nicht entkommen können. Ein sehr befriedigendes Gefühl, sowohl für denjenigen, der es erzeugt als auch für denjenigen, der es wahrnehmen kann. Ich weiß das, denn es ist ziemlich genau das, was ich fühlte, während ich an dieser Übersetzung schrieb. Ich ließ etwas durch die Sprache entstehen, erschuf etwas über die Sprache, das erklingen würde, etwas, das ein Mensch fühlen oder erleben oder verstehen konnte, und der Erfolg dieser Wirkung lag ganz in den Händen meines Könnens, in meiner – im musikalischen Sinne – Interpretation. Das Problem ist, dass es nicht dasselbe ist, ob man ein Buch einfängt oder die Wirklichkeit.4 Das, was man einem Text “gerecht” werden nennt, wird vorschnell als eine Art finaler Akt wahrgenommen, als ein transformatorischer Ersatz: Jetzt, da ich dem Text auf meine Weise gerecht geworden bin, ist der Fall geschlossen, das Original – schwierig, weil nicht universell zugänglich – ist gelöst. Meine Übersetzung von Wie hoch die Wasser steigen kann jedoch niemals eine Gestalt annehmen, die das Original ersetzt. Sie kann sich, per definitionem, lediglich aus ihr abspalten.
Für die Literatur und für die Welt ist dies etwas Wunderbares. Aber zu erkennen, dass das geliebte Wesen nicht du selbst bist und auch niemals vollkommen besessen werden kann, ist nicht einfach. Als ich Anja reden hörte, sah ich, dass der Hexenbesen in zwei Teile gehackt worden war, und die eine Hälfte, das Original, fegte munter weiter, tanzte, lebte, tat, wonach immer ihm der Sinn stand, dabei hatte ich doch, als ich ihn entzweischlug, gehofft, mir seine Kräfte anzueignen. Wie lässt sich die Freude über den neuen Besen versöhnen mit dem Kummer, dass unzählige Besen, die nicht unserer Kontrolle unterstehen, weiterfegen oder sogar gegen unseren Willen arbeiten? Wie die Erleichterung über die getane Arbeit mit der Verzweiflung darüber, dass die Arbeit niemals getan sein wird? Die Wahrheit ist, dass ich Wie hoch die Wasser steigen übersetzen wollte, weil ich mir wünschte, das Buch auf diese Weise zu meinem eigenen zu machen. Nicht gerade ein nobler Impuls.
Fazit
Ist die Liebe, die einen zum Übersetzen bringt, die falsche Art Liebe? Ist es die Liebe eines Kindes, das seine Mutter übertrumpfen will, ist sie ein eifersüchtiger Partner, ein Patriot, der zum Diktator wird? Würde ich dies hier schreiben, wenn es so wäre?
Übersetzer∙innen gelten oft als großzügige Menschen: Sie scheuen das Rampenlicht, sie stellen sich in den Dienst eines Autors, einer Autorin oder eines Textes, sie kümmern sich um das Überleben und die Verbreitung von Literatur, ohne Anerkennung und persönliche Vorteile zu erwarten, erhalten einen so minimalen Lohn, dass er ihre Arbeit überhaupt gerade noch so möglich macht, und manchmal nicht einmal das. Noch immer umgibt diese Tätigkeit die Aura einer alten Jungfer. Das kam mir seit jeher seltsam vor. Nicht nur wegen der – recht leidenschaftlichen – Gefühle und Motivationen, die ich hier beschrieben habe, sondern weil Übersetzung, unabhängig vom Übersetzer, etwas zu geben hat. Das Übersetzen sorgt für das Entstehen von immer neuen Besen, ob die Übersetzerin nun will oder nicht. Und das Übersetzen gibt auch dem Übersetzer etwas. Es gibt und gibt, und zwar eine lebenslange Unterweisung darin, wie man liebt.