Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

 

Ich habe Lucy Frickes Roman Töchter durch Aurélie Maurin kennengelernt, die Leiterin des TOLEDO-Programms. Sie hat im Mai 2019 die Expedition „Montréal – Ville Traductrice “ initiiert, die auch eine Begegnung zwischen Québecer Verlagen und deutschen Übersetzer·innen , Journalist·innen, Kritiker·innen und Leiter·innen von Literaturhäusern vorsah. Zufällig kannte und schätzte Aurélie Maurin Le Quartanier. Einige Autor·innen der deutsch-französischen Zeitschrift La mer gélée, an der sie mitwirkt, sind in unserem Verlag publiziert. Sie haben ihr unser Programm vorgestellt und manche Neuerscheinungen mitgebracht. Aurélie Maurins Neugier hat ein Übriges getan.

 

Im Rahmen von „Montréal – Ville Traductrice“ habe ich ihr gesagt, dass wir eine deutsche Reihe planen und ich auf der Suche nach Titeln sei. Und habe sie gefragt, welche Bücher ihr in den letzten Monaten besonders gut gefallen hätten. Sie hat mir gleich von Töchter erzählt, dass sie Tränen gelacht habe – ein Kommentar, den man von vielen Leser·innen und Rezensent·innen hört, wie ich im Nachhinein festgestellt habe. Die Komik, meinte sie, verbinde sich mit einer ausgefeilten Sprache, einer erzählerischen Kraft. Ich habe den Literaturagenten, der den deutschen Verlag, Rowohlt, im Ausland vertritt, um ein Exemplar gebeten, habe ganz schnell gelesen und meine Begeisterung mit meinen Vorgesetzten geteilt. Le Quartanier hat die weltweite Lizenz für die französische Sprache beantragt und auch erhalten. Mein Dank gilt also Aurélie Maurin.

 

Dann wurden wir direkt von einigen Übersetzer·innen kontaktiert, denen das Buch besonders gefallen hat, die gern damit arbeiten wollten und von unserem Einkauf erfahren hatten. Deren Übersetzungsproben haben wir verglichen und uns für Isabelle Liber entschieden. Sie ist fast fertig mit der französischen Fassung, die im September 2021 erscheint.

 

Die Dynamik von Töchter hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Ich war geradezu begeistert von diesem weiblich perspektivierten Reiseroman, der sich allmählich in einen melancholischen Krimi verwandelt. Bereits mit der ersten Seite findet Lucy Fricke ihren einzigartigen Ton. Jeder Satz ist durchsetzt von bissigem Humor, der zu keinem Zeitpunkt zum Slogan oder zum System verkommt. Lustige Bücher laufen immer Gefahr, derart konstruiert zu sein, dass sich die Erzählung zum Sketch auswächst und die allzu offensichtliche, didaktische Darstellung von Witz den Plot wirkungslos macht. Das ist bei Töchter nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Der Humor geht über die Aneinanderreihung scherzhafter Bemerkungen und burlesker Szenen hinaus und wird zur Bedingung für die Charaktertiefe der Figuren.

 

Die erzählerische Besonderheit von Töchter liegt in der Spannung zwischen der Lakonie der beiden Heldinnen einerseits – einer Lakonie, die jede Äußerung für endgültig, jedes Ereignis für unabänderlich erklärt – und dem ständigen Reisen, den zahllosen Wendungen und Begegnungen andererseits, welche die Karten immer wieder neu mischen und die zuvor skizzierte Lesart für ungültig erklären. Betty und Martha suchen einen Vater, mehrere Väter, und reisen dafür durch halb Deutschland, durch die Schweiz, Italien und Griechenland, aber natürlich kommen sie vor allem sich selbst näher und der Bereitschaft, verpasste Gelegenheiten zu akzeptieren.

 

Der Roman spricht außerdem viele aktuelle Themen an, ohne dabei ins Klischeehafte zu verfallen: Gentrifizierung der Großstädte, Vollendung des vierzigsten Lebensjahrs, Ruhestand  der Babyboomer, Befreiung von der eigenen Leidensgeschichte, symbolisches Erbe der Familie oder ihre Abwesenheit, Mobilität der Europäer auf ihrem eigenen Kontinent, Aufforderung zum Glücklichsein, zur Partnerschaft, zur Mutterschaft, zur jahrzehntelangen Freundschaft etc. Und obwohl der Schmerz die Grundlage des Romans bildet, eröffnet sich Martha und Betty allmählich eine entspanntere, freundlichere Einstellung zum Leben.

 

Le Quartanier mit Sitz in Montréal verlegt seit 2003 Romane, Gedichte und literarische Essais im Umfang von rund zwanzig Titeln pro Jahr – hin und wieder auch Übersetzungen aus dem kanadischen Englisch. Fast alle Publikationen sind französischsprachige Originaltexte von Autor·innen, die überwiegend aus Québec stammen, aber auch aus Frankreich oder Belgien. Seit Januar 2019 vertreiben wir unsere Bücher nicht mehr nur auf dem kanadischen, sondern zusätzlich auf dem europäischen Markt. Unsere Ambitionen haben sich seitdem grundlegend verändert, insbesondere durch zahlreiche Empfehlungen von französischen und belgischen Buchhändler·innen, die auf uns aufmerksam wurden und uns unterstützen wollten. Durch unseren Vertrag mit Harmonia Mundi Livre (französischer Zwischenbuchhändler, Anm. d. Ü.) konnten wir unsere etwaige Leserschaft stark erweitern, nämlich mittels des französischen, belgischen und schweizerischen Buchhandels. Der große europäische Markt für frankophone Literatur vermag Auflagen, die höher sind als für uns bislang üblich, besser aufzunehmen. Dadurch kann der Absatz die erheblichen Kosten, die für den Lizenzerwerb und für Übersetzungen anfallen, möglicherweise ausgleichen. Diese Chance hat Éric de Larochellière, Gründer von Le Quartanier und Verlagsleiter, zu einer deutschen Reihe veranlasst. Er hat mir angeboten, die Reihe zu konzipieren, und zwar im Rhythmus von einem Titel pro Jahr. Ich war seit Januar 2017 Redaktionsassistentin im Haus, konnte zufälligerweise Deutsch lesen und interessierte mich schon fünfzehn Jahre lang für die Literatur aus dem deutschsprachigen Raum.

     

Auf diese deutsche Bibliothek weitet Le Quartanier sein Bestreben aus, das ihn bei jedem einzelnen Roman leitet, das ihn in den letzten siebzehn Jahren zu einem der bedeutendsten Verlage für Québecer Literatur gemacht hat, das auch Éric Larochellière antreibt, der mutige und kluge Entscheidungen trifft und vor literarischer Begeisterung geradezu sprüht: das Bestreben, eine unverwechselbare Stimme zu entdecken, die einen eigenwilligen Stil pflegt und auf spielerischen Sprachgebrauch setzt. Die Geschichte steht an zweiter Stelle; alles unterliegt der Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird, ob sie nun zeitgenössisch oder zeitlos ist oder sich mit einem historischen Aspekt befasst, sei er bereits erzählt worden oder nicht. Das kann eine Neuerscheinung sein oder ein Buch von der Backlist eines deutschen, österreichischen oder schweizerischen Verlags, das der Lizenzabteilung durchs Netz geschlüpft ist. Die Autorin oder der Autor sollte noch nicht auf Französisch erschienen sein, denn wir planen von Anfang an mehrere Titel ein. Die Stärke der Literatur, die wir auf Deutsch entdecken und ins Französische übertragen wollen, wird darin liegen, eine Lust, einen Zustand, eine Vorstellung in uns wachzurufen, von der wir zuvor nichts geahnt haben. Das gelingt Töchter ganz hervorragend.

 

Aus dem Französischen von Ina Böhme

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