Selbstverständlich kann man sich wegen mangelnder Qualität oder aus ethischen Überlegungen heraus gegen die Übersetzung eines Textes entscheiden. Als literarische Übersetzerin musste ich solche Entscheidungen nicht treffen, wohl aber als Fachübersetzerin für Übersetzungsagenturen (übrigens eine sehr lehrreiche Erfahrung, aber das ist ein anderes Thema). Ich übersetzte Werbeslogans oder Newsletter für bekannte Unternehmen. Ich teilte weder die Ideale noch die Werte dieser Unternehmen, doch die Erfahrung war angenehm, und die Arbeit machte Spaß. Bis zu dem Tag, als das Spiel für meinen Geschmack zu weit ging. In einem Artikel, den ich übersetzen sollte, preiste ein Chemiekonzern (den man in Frankreich in erster Linie als Hersteller der guten alten Kassetten kennt), die Vorteile eines seiner Produkte mit Argumenten an, die wissenschaftlich schlicht und ergreifend falsch waren. Wir wiesen den Konzern auf die inhaltlichen Ungereimtheiten hin, worauf wir eine neue Version des Textes erhielten: Die Fehler waren nicht etwa korrigiert, sondern „verwischt“ worden. Die entsprechende Passage war noch unpräziser formuliert, so dass der Fehler nicht gleich ins Auge stach. Ich bat darum, nicht mehr für diesen Kunden arbeiten zu müssen.
Wie und warum ist aber aus Noll der Titel L’Instant choisi (Der ausgewählte Moment) geworden? Darüber könnte man diskutieren und den Weg nachzeichnen, der zur Entscheidung für einen Titel führt. Ich berichte darüber an anderer Stelle in diesem Journal.
Actes Sud, 2017; Originalausgabe: Wir haben Raketen geangelt, Hanser, 2014.
Ein Buch einem Verlag zur Übersetzung anzubieten, ist ein zeitfressendes und in der Regel unbezahltes Unterfangen und beinhaltet die Vorstellung des Autors, ein Exposé über das Buch, sowie eine Übersetzungsprobe. Mein Traum wäre es, dass deutschsprachige Verlage eine·n Übersetzer·in damit beauftragen, das Dossier zu erstellen, und zwar nicht wie üblich auf Englisch, sondern in der Zielsprache des Landes.
In Wirklichkeit hätte ich mir keine Sorgen machen müssen … Menschen, die ihr Wort halten, sind Sterne, an denen man sich orientieren kann und die einen weiterbringen …
UND SIE LEBTE GLÜCKLICH UND ZUFRIEDEN UND BEKAM VIELE, VIELE ÜBERSETZUNGEN …
Von Isabelle Liber, übersetzt von Odile Kennel
Wie hat die Geschichte angefangen? Wie bin ich zur Übersetzerin dieses Romans geworden?
Das werde ich häufig gefragt: Wie wähle ich die Bücher aus, die ich übersetze?
Die ehrlichste Antwort darauf, oder sagen wir, die statistisch genauste, ist ziemlich enttäuschend: Ich wähle die Bücher nicht aus, der Verlag schlägt sie mir vor.
Indem ich aus dem Übersetzen meinen Beruf gemacht habe, akzeptiere ich auch, mich einer weiteren Instanz jenseits der Kunst zu beugen, die viele Gesichter hat – Autor·in, Verlag, Buchmarkt, Kalender – so viele Faktoren bestimmen meinen Beruf! Man kann natürlich davon träumen, immer nur seinem (guten) Geschmack und seiner Lust zu folgen.01 Ob sich das allerdings auszahlt, ist nicht gesagt. Außerdem steckt – und hier wird es interessant – in der von so vielen Faktoren eingeschränkten kreativen Übung des Übersetzens eine erstaunliche Erfahrung: Die „Pflicht“-Begegnungen sind bisher ausnahmslos gute Begegnungen gewesen. Vielleicht habe ich einfach nur Glück und habe immer mit „guten“ Verlagen zusammengearbeitet? Wie dem auch sei, ich habe mich mit den Büchern, die ich übersetzen sollte, immer angefreundet oder sogar eine tiefe Zuneigung für sie entwickelt. Als würde man mir wilde Kinder anvertrauen, die noch fremd in ihrer neuen Umgebung sind, und ich würde in dem Maße, in dem ich mit ihnen lebe und sie „erziehe“, ihnen die nötigen Umgangsformen und eine Sprache beibringen, damit sie ihr Leben im Adoptionsland meistern.
Doch zurück zu unserer Geschichte. Auch wenn die Auswahl der Werke, die vom Deutschen ins Französische übersetzt werden, oft Sache der Verlage ist, hat man immer auch die Möglichkeit, Lieblingsbücher vorzuschlagen oder zumindest auf diesen oder jenen Titel aufmerksam zu machen. Darum geht es auch beim Georg-Arthur-Goldschmidt-Programm, einem Ausbildungsprogramm für junge Übersetzer·innen, an dem ich 2005 teilnahm. Ich hatte den Roman Noll von Nina Jäckle ausgewählt und reichte bei französischen Verlagen eine Übersetzungsprobe ein. Mehrere Verlagshäuser waren an dem Projekt interessiert, am Ende kam das Buch 2006 bei dem französischen Verlag Autrement unter dem Titel L’Instant choisi02 heraus.

Das französische und das deutsche Buchcover. © Autrement und Berlin Verlag
Selbst wenn es nicht häufig passiert, ist es also möglich, wünschenswert, ja sogar nötig!, dass Übersetzer·innen auch aktuelle (oder weniger aktuelle) Literatur über die Grenzen tragen. Weil es spannend ist und Spaß macht, und weil die Diversität und der Reichtum an übersetzten Titeln in der Literaturlandschaft umso größer wird. Und weil es manchmal sogar klappt! Was unsere Geschichte hier angeht, so stand sie von vorneherein unter einem guten Stern – besser gesagt unter zahlreichen guten Sternen.
Der erste Stern * heißt Karen Köhler. Eine wunderbare Schriftstellerin, eine wunderbare Frau, und nach einer gemeinsamen Lesereise in Frankreich zur Vorstellung von Bêtes féroces, bêtes farouches03, der französischen Übersetzung ihres Erzählbandes, nach zahlreichen Zugreisen, Apéros und unvergesslichen Lesungen, bat ich sie, mir ein paar ihrer Lieblingsbücher zu nennen. Sie nannte drei Titel, darunter auch Töchter von Lucy Fricke. Es war April 2018, ich las das Buch, ich mochte es, ich mochte es sogar sehr und beschloss, es den Verlagen vorzuschlagen, mit denen ich regelmäßig zusammenarbeite. Ich fing eine Übersetzungsprobe an, beendete sie aber nicht, weil ich in einer anderen Übersetzung steckte. Dennoch hakte ich immer wieder bei den Verlagen nach. Ein von mir sehr geschätzter Lektor, den ich monatelang behelligt habe, kann davon ein Lied singen. Doch vergeblich. Meine Begeisterung reichte nicht aus.04
Der zweite Stern * ging erst viel später auf. Es handelte sich um Michael Wenzel von der Literaturagentur Editio Dialog, der Rowohlt in Frankreich vertritt und Töchter französischsprachigen Verlagen anbot. Ich hatte ihn am Anfang meiner Verlagssuche kontaktiert. Im Juni 2019 schrieb er mir, dass er ein Angebot für das Buch erhalten habe. Ich informierte die Verlage, die ich bereits kontaktiert hatte. Noch konnten sie, wenn sie wollten, mit einem eigenen Angebot einsteigen, um den Titel zu erstehen. Einer der Verlage hätte beinahe ebenfalls ein Angebot gemacht, aber dann … doch nicht.
Für eine·n Übersetzer·in eine unangenehme Lage: Ich wusste, dass der Roman auf Französisch erscheinen würde, wusste aber nicht, wo. Der Literaturagent durfte mir zu diesem Zeitpunkt der Verhandlungen den Namen des Verlags nicht nennen, der die Rechte kaufen würde. Doch er versprach, dem Verlag mein Interesse zu signalisieren. Das reichte mir nicht: Ich fürchtete, er könnte dann doch keine Lust haben, es zu tun, oder er würde es vergessen oder meine Adresse zu spät weitergeben...05 In diesem entscheidenden Moment war mein dritter Glückstern * niemand anderes als Lucy Fricke selbst. Ich nahm mit ihr über den Literaturport Kontakt auf. Sie antwortete sofort sehr freundlich: Ihr Roman werde auf Französisch bei Le Quartanier erscheinen.
Mithilfe einer bekannten Suchmaschine fand ich heraus, dass dieser Verlag … in Montréal sitzt. Mist. Ich hatte keine Ahnung von der Verlagslandschaft in Québec und rechnete damit, dass ein·e kanadische·r Übersetzer·in den Auftrag erhalten würde. Ich glaubte schon nicht mehr daran, dass ich Töchter übersetzen würde. Doch da betrat der vierte Glücksstern * die Bühne: Meine Kollegin und Freundin Sonja Finck, die in Quebec lebt. Sie war zu dem Zeitpunkt gerade in Berlin, kam zum Abendessen, und ich bat sie um ihre Meinung. Was ich nicht wusste: Sie arbeitet schon seit langem mit Le Quartanier zusammen und riet mir gleich, mich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen. Die Vorgeschichte einer Übersetzung könnte man natürlich auch aus Sicht des Verlags erzählen. Céline Hostiou, Lektorin bei Le Quartanier, schrieb dazu einen schönen Verlegerbrief, den es hier zu lesen gibt.
So viele gute Sterne *, die über das französischsprachige Schicksal von Töchter gewacht haben! Ich möchte am liebsten selbst ganz viele davon verteilen: Und Sie, die Sie mir den Weg gezeigt, mir geholfen, an mich geglaubt haben, darf ich Ihnen die Sterne vom Himmel holen?
Denn das Schicksal einer Übersetzung hängt oftmals von einer helfenden Hand, einem hilfreichen Tipp, einem geglückten Versuch, einem Glücksfall oder Würfelwurf ab … Und nicht zu vergessen: Der letzte Stern * war wohl ich selbst, denn am Ende fertigte ich für Le Quartanier eine Probeübersetzung an und durfte dann schließlich Töchter übersetzen.
Wenn ihr mehr zum Thema erfahren wollt, dann besucht auch diese Stationen: DIE REISE BEGINNT und ROUTENPLAN ZUR ÜBERSETZUNG.
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Selbstverständlich kann man sich wegen mangelnder Qualität oder aus ethischen Überlegungen heraus gegen die Übersetzung eines Textes entscheiden. Als literarische Übersetzerin musste ich solche Entscheidungen nicht treffen, wohl aber als Fachübersetzerin für Übersetzungsagenturen (übrigens eine sehr lehrreiche Erfahrung, aber das ist ein anderes Thema). Ich übersetzte Werbeslogans oder Newsletter für bekannte Unternehmen. Ich teilte weder die Ideale noch die Werte dieser Unternehmen, doch die Erfahrung war angenehm, und die Arbeit machte Spaß. Bis zu dem Tag, als das Spiel für meinen Geschmack zu weit ging. In einem Artikel, den ich übersetzen sollte, preiste ein Chemiekonzern (den man in Frankreich in erster Linie als Hersteller der guten alten Kassetten kennt), die Vorteile eines seiner Produkte mit Argumenten an, die wissenschaftlich schlicht und ergreifend falsch waren. Wir wiesen den Konzern auf die inhaltlichen Ungereimtheiten hin, worauf wir eine neue Version des Textes erhielten: Die Fehler waren nicht etwa korrigiert, sondern „verwischt“ worden. Die entsprechende Passage war noch unpräziser formuliert, so dass der Fehler nicht gleich ins Auge stach. Ich bat darum, nicht mehr für diesen Kunden arbeiten zu müssen.
Wie und warum ist aber aus Noll der Titel L’Instant choisi (Der ausgewählte Moment) geworden? Darüber könnte man diskutieren und den Weg nachzeichnen, der zur Entscheidung für einen Titel führt. Ich berichte darüber an anderer Stelle in diesem Journal.
Actes Sud, 2017; Originalausgabe: Wir haben Raketen geangelt, Hanser, 2014.
Ein Buch einem Verlag zur Übersetzung anzubieten, ist ein zeitfressendes und in der Regel unbezahltes Unterfangen und beinhaltet die Vorstellung des Autors, ein Exposé über das Buch, sowie eine Übersetzungsprobe. Mein Traum wäre es, dass deutschsprachige Verlage eine·n Übersetzer·in damit beauftragen, das Dossier zu erstellen, und zwar nicht wie üblich auf Englisch, sondern in der Zielsprache des Landes.
In Wirklichkeit hätte ich mir keine Sorgen machen müssen … Menschen, die ihr Wort halten, sind Sterne, an denen man sich orientieren kann und die einen weiterbringen …