Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

WIE ÜBERSETZT MAN EIGENTLICH TUSSI?

Von Sinéad Crowe, übersetzt von Rasha Khayat


«Ah so», sagte sie, und wir fanden es fast ein bisschen schade, dass sie nicht einmal versuchten, uns die Handtaschen zu klauen. Zum Trost bestellten wir Aperol Spritz, was wir zu Hause nie taten, weil zu Hause Kreuzberg war und wir keine Tussis. Die Tussi-Werdung hoben wir uns für das Alter auf, wenn wir sonst nichts mehr zu tun hätten. (Töchter, S. 93)

Betty und Martha haben es also endlich nach Genua geschafft und brauchen nach der haarsträubenden Parkplatzsuche in einer Tiefgarage erstmal einen Drink. Sie finden eine Bar auf einem der leicht heruntergekommenen Plätze der Stadt, setzen sich und bestellen Apérol Spritz. Nie im Leben würden sie zu Hause in Kreuzberg Apérol Spritz bestellen, versichert Betty, weil nur Tussis Apérol Spritz trinken. Und sie sind ja keine Tussis. Zumindest noch nicht.

Ah, Tussi. Trotz der leicht frauenfeindlichen Bedeutung (die Lucy hier natürlich nur rein ironisch benutzt), ist Tussi wahrscheinlich eines meiner deutschen Lieblingsworte. Zum Teil allein wegen seines Klangs (zischt so schön!), zum Teil aber auch, weil jeder Deutsche, den ich kenne, eine andere Vorstellung davon hat, was genau eine Tussi ist. Schon lange bevor ich anfing, Töchter zu übersetzen, haben meine Freundinnen und ich einmal leicht angetrunken versucht, unserer amerikanischen Freundin Jen das Konzept „Tussi“ zu erklären – und sind kläglich gescheitert. Und da ist es plötzlich wieder, das Wort mit all seinen Widersprüchen!

Meine ersten Quellen, sämtliche deutsch-englischen Online-Wörterbücher, sind keine besonders große Hilfe. Pons schlägt chick, girl, bird vor, was die Abschätzigkeit von Tussi überhaupt nicht trifft.  dict.cc bietet immerhin einige wenige Optionen, die abschätzig klingen, aber mal ehrlich: bimbo? Broad? Sagt das noch irgendwer, der jünger ist als achtzig? Und bitch klingt einfach zu gemein.

Übersetzungen von Tussi auf dict.cc

Im Duden findet man folgende Definition: auf ihr Äußeres sehr bedachte, oberflächliche, selbstbezogene weibliche Person. Nicht gerade hilfreich. Ebenso wenig wie Wikipedia, wo ich aber immerhin den faszinierenden Ursprung des Wortes finde: Tussi stammt vom Namen der Tochter eines Cheruskerfürsten: Tusnelda.

Die Wörterbücher helfen nicht weiter, also texte ich meinen Freund·innen: Wie würden sie Tussi definieren? Ihre Antworten zeigen einmal mehr, wie unterschiedlich die Assoziationen sind, wenn es um Geschlechterrolle, Sexualität, soziale Schicht, äußere Erscheinung oder Intellekt der Tussi geht. Für Mo ist eine Tussi „eine Frau, die nicht besonders intelligent ist, immer viel Make-up trägt und sich eher nuttig anzieht“. Sarah sieht die Tussi etwas anders: „So eine Art aufgebrezelte Schnepfe aus Blankenese“, schreibt sie. Auch ich bin mir sicher, dass ich schon gehört habe, wie die Hamburger Vorortschnepfen als Tussis bezeichnet werden. Für Rasha ist Tussi eine „meist abwertend gemeinte Beschreibung einer hyper-femininen Frau, die sich oft teuer aber immer trashig und geschmacklos anzieht, gern auch schrill und laut und übermäßig mädchenhaft spricht.“ Außerdem fügt sie hinzu, „gehört zum Tussi-sein vor allem das unemanzipiert sein oder zumindest vorgeben: immer hilflos tun, usw.“ (Was vermutlich bedeutet, dass eine Tussi eher nicht in der Lage ist, einen Reifen zu wechseln, wie die junge Dame in dem Bild weiter oben.)  Rashas Mutter Anne hingegen glaubt, dass eine Tussi alles andere als dumm ist: „Tussis sind immer auch abgezockt, tun aber immer extrem naiv und hilflos und reden wie kleine Mädchen, vor allem bei Männern, um ihr Ziel zu erreichen und Männer zu manipulieren.“

Conversations with Friends: WhatsApp Gespräche zum Thema „Tussi“

 

Puh, wie kann ein einziges, kleines Wort bloß so viel bedeuten? Inzwischen habe ich einfach akzeptiert, dass ich kein englisches Äquivalent finden werde, was all diese Facetten abdeckt. Ich gebe „kinds of women“ im Cambridge SMART Thesaurus ein (mein liebster online Thesaurus) und kann wirklich nichts finden, was in den Kontext passt.

 “Kinds of women” im Cambridge Dictionary’s “SMART Thesaurus” 

Frustriert knalle ich den Laptop zu und drehe eine Runde an der frischen Luft. Während ich so durch die Straßen laufe, kommt mir plötzlich das Supermodel Kate Moss in den Sinn (ja, ich weiß, meine Gedanken sind unfassbar intellektuell). Mir fällt ein berüchtigter Vorfall ein, bei dem Kate Moss vor ein paar Jahren mal aus einer easyjet-Maschine geworfen wurde, weil sie (angeblich) zu laut wurde, nachdem sie (angeblich) ein bisschen zu viel von ihren privaten Wodkavorräten genippt hatte. Während sie am Cockpit vorbeigeführt wurde, beschimpfte Moss die Pilotin als „basic bitch“. Heureka! Basic. Okay, nicht ganz dasselbe wie Tussi. Lexico.com, die Onlinevariante des Oxford English Dictionary, definiert basic folgendermaßen: „Jemand, dessen Geschmack, Interessen und Meinungen als durchschnittlich oder konventionell gesehen werden. Üblicherweise als Beschreibung für Frauen gebraucht“. Das jedenfalls kommt all den verschiedenen Beschreibungen bisher am nächsten:  Zunächst mal ist es eine nicht gruselig altmodische Beleidigung für eine Frau; laut The Guardian taucht das Wort erstmals 2009 im Urban Dictionary auf (“A bum ass woman who think she the shit but really ain't“, nur so zur Info).

Außerdem könnte das Wort ganz realistisch Teil von Marthas und Bettys Vokabular sein; die Moss war selbst 41, als sie mit ihrem kleinen Ausbruch das Wort basic zum Mainstream machte. Auch meine englischsprechenden Freund·innen und ich, die wir alle Ende dreißig bis Anfang vierzig sind, benutzen das Wort.

Und überhaupt, ist es nicht furchtbar gewöhnlich, also basic, Apérol Spritz auf einem Platz zu trinken, diesen ultimativen Instagram-Cocktail? Somit passt das Wort auch noch perfekt in den Kontext. (Mehr über die Herausforderung, Alkohol zu übersetzen, findet sich hier.) Letztlich – und das ist wohl das Wichtigste – ist die Beschimpfung als basic einfach witzig. Außerdem kann man basic ganz leicht in ein Nomen verwandeln, ein weiteres großes Plus, und so ist auch mein Problem der Tussi-Werdung auf den nächsten Seiten gelöst: Basicness! Tada!

Somit verliert Lucys Beschreibung von Tussis und Apérol nichts von ihrer Bissigkeit. Es hat eine Weile gedauert, aber nun bin ich extrem stolz auf meine Lösung der Tussi-Challenge:

‘Hmm,’ she said, and we were both a little disappointed that no one even tried to snatch our handbags. To console ourselves, we ordered Aperol spritzes, something we would never do back home, because home was Kreuzberg and we weren’t basic. We were saving basicness for old age, when we wouldn’t have much else to do. (Daughters, p. 81)

 

Wenn ihr mehr zum Thema Tussis erfahren wollt, dann besucht auch diese Station.

 

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