Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

GENAU HINHÖREN

Von Isabelle Liber, übersetzt von Odile Kennel


Was ist denn das bitte sehr?

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Ich würde gerne über den Ton des Textes schreiben, weil das einer der Aspekte ist, an dem ich beim Übersetzen besonders gerne arbeite. Als ich die ersten Zeilen dieses Artikels schrieb, habe ich mich gefragt, wie ich dieses klangliche Phänomen nennen sollte – Musik, Musikalität, Stimme? Schließlich entschied ich mich für „tonalité“1, aus mehreren Gründen.

Wenn ich nach der Lektüre des Buches mit der Übersetzung beginne, versuche ich, an die Stimme des Autors oder der Autorin zu kommen. Ich meine hier, an die reale Stimme: Ich gehe auf Lesungen oder höre mir Aufnahmen an. Und schon sind wir ziemlich nah an dem, was sich im Lexikon Trésor de la langue française informatisé unter „tonalité“ findet:

tonalité und Stimme, Seite des Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales

(B.- Gesamtheit einer Anzahl von Klängen, vor allem von der Stimme hervorgerufen)

Ich habe sogar schon einmal eine Autorin, die ich gut kannte, gefragt, ob sie mir eine kurze Passage ihres Textes aufnehmen könnte.2

Momente des Innehaltens, Atmung, Betonung – die Stimme ist so etwas wie ein Kompass, um sich im Universum der Schriftstellerin zurechtzufinden und auf dem Weg der Übersetzung weiterzukommen. Für mich ist es jedes Mal so etwas wie eine Offenbarung, wenn ich Autor·innen ihren Text lesen höre. Eine Tür, die sich zum Universum des Romans öffnet.

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Lucy Fricke liest einen Ausschnitt aus Töchter beim Festival Ham.Lit 2018

Was in diesem Lesungsausschnitt deutlich wird, ist der Ernst des Textes und eine gewisse Spröde der Sprache – die durch Lucy Frickes „Lesart“ noch einmal deutlicher wird. Zugleich bekommt der Roman durch die Stimme der Autorin aber auch etwas sehr Lebendiges, Dichtes, er ist ein Durcheinander an Bildern und Launen, die das Publikum „durchrütteln“ und so manche – befreiende – Lacher auslösen.

Für die Übersetzung bedeutet das: auf Schnörkel verzichten, auf den Rhythmus achten, Umständlichkeiten vermeiden. Nachdem ich mir Lucy Fricke angehört hatte, dachte ich an einen in Holz geschnitzten Pfeil, rau, lebendig und schnell, der zischend die Luft teilt. Und … Treffer!

Manchmal sind auch Hörbücher meine klangliche Eingangstür. Wenn ein·e Schauspieler·in den Text liest, ist der Effekt ein ganz anderer: Es geht nicht so sehr darum zu verstehen, wer den Text geschrieben hat, sondern was in dem Text steht. Eine für ein Hörbuch inszenierte Lesung offenbart den Rhythmus, die klangliche Atmosphäre jenseits des gedruckten Textes. Und auch wenn es sich um eine Interpretation handelt, so vermag sie doch manchmal Unklarheiten zu beseitigen oder eine Richtung zu weisen, in der man den Text verstehen kann.

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Auszug aus dem Hörbuch Töchter, gelesen von Sabine Arnhold (Lübbe Audio)

Und, wenn ich „Ton“ als Begriff so mag, dann auch, weil das Wort auch Farben meinen kann:

tonalité und Farbe, Seite des Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales

(II. Im Bereich der Farben//A.- Gesamtheit einer Mischung von Farben (…) - Im übertragenen Sinne. Gesamteindruck; kennzeichnende Farbgebung)

Was wäre die „Farbe“ von Töchter? Es gibt Beispiele von nicht gelungenen Covern, aber in diesem Fall gibt die Farbpalette der deutschen Ausgabe des Buches den „Ton“ ziemlich gut wieder: Ein Knallorangerot – für den Schwung und die Lebendigkeit, die den Roman durchziehen– steht im Kontrast zu den Grüntönen, damit es eben „knallt“ und man schallend lacht. Und ein gedämpfter dunkler Grünton und das sienabraune Band der unbefestigten Straße stehen für die Nüchternheit, für die nur angedeuteten heftigen Momente im Roman.

Ob hör- oder sichtbar, ob als beharrliche Melodie im Kopf oder als Abdruck auf der Netzhaut – diesen Ton möchte ich in der französischen Fassung vermitteln, diese Erfahrung mit den französischsprachigen Leser∙innen teilen. Der „Gesamteindruck“ steht am Ende der Übersetzungsarbeit. Um sicherzugehen, dass ich den richtigen Ton getroffen habe, lese ich mir Teile der Übersetzung laut vor, lausche seiner Musik. Diese Musik muss natürlich dem Original entsprechen, muss aber auch in sich kohärent sein. Das größte Kompliment, das mir je ein Verleger gemacht hat? Mich zu fragen, ob ich Musikerin sei …

Wenn ihr bis hierher gelesen habt, fragt ihr euch vielleicht, was die merkwürdigen Geräusche am Anfang meines Artikels bedeuten sollen … Da von Tönen, Geräuschen und Musik die Rede war, wollte ich ein kleines Tonrätsel aufgeben: Zu welcher Passage des Romans gehören diese Geräusche? Habt ihr es herausgefunden? Klickt hier für die Antwort.

Wenn ihr mehr zum Thema erfahren wollt, dann besucht auch diese Station: MUSICA!

 

Auf der Route bleiben.

Fußnoten
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