Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

DIE ICH-ERZÄHLERIN

Von María Tellechea, übersetzt von Christiane Quandt


DAS MAN IST UNIVERSELLER ALS FRAU SO DENKT

Ein literarisches Werk zu übersetzen, das in der ersten Person von einer weiblichen Stimme (und nicht von einer männlichen) erzählt wird, brachte mich in ein unerwartetes Dilemma. Im Folgenden werde ich auf das eingehen, was für mich zum Hauptproblem wurde: Verallgemeinerungen.

Im Roman Töchter spricht eine Ich-Erzählerin. Das heißt, das erzählende Subjekt ist weiblich. Prinzipiell sollte das kein Problem darstellen, denn im Spanischen wird jeder Artikel, jedes Adjektiv oder Substantiv in weiblicher Form dekliniert, wenn das sprechende Subjekt eine Frau ist. Aber was passiert, wenn diese Erzählerin allgemeingültige Aussagen trifft, die sich auf alle Menschen beziehen, aber vor allem auf sie selbst? Das heißt, wenn sie verallgemeinernde Dinge sagt, die hauptsächlich und offensichtlich das meinen, was allen Menschen zustößt, aber eigentlich von den Erlebnissen der Erzählerin ausgehen? Sehen wir uns zunächst an, welche sprachlichen Möglichkeiten die Übersetzerin hat, um solchen Verallgemeinerungen Rechnung zu tragen.

Auf abstrakter Ebene oder auf Basis komparativer Übersetzungstheorien bietet das Spanische mehr als eine Alternative zur Übersetzung von Textpassagen mit dem Personalpronomen man (im „unpersönlichen“ Sinne). Man ist ein Personalpronomen der dritten Person Singular und homophon (gleichklingend) wie das Substantiv „Mann“. Das ist natürlich kein Zufall, denn wenn dem nicht so wäre, müssten wir uns wohl nicht mit diesem Problem auseinandersetzen. Aber man schreibt sich anders als „Mann“ und es wird in unpersönlichen Aktiv-Sätzen verwendet, um allgemeine Aussagen zu treffen. Das heißt, um Handlungen zu beschreiben, bei denen das Subjekt, das sie ausführt, kein konkretes ist, sondern alle gleichzeitig. Jeder Artikel, jedes Adjektiv oder Substantiv, die das Pronomen man begleiten (im Folgenden „Bezugswörter“) steht gemäß den grammatikalischen Regeln im Maskulinum. Daher könnte man auf die Idee kommen, das spanische Personalpronomen uno (wörtl. „einer“) wäre die angemessene Entsprechung dafür (obwohl man als Entsprechung von man-Sätzen auch das „unpersönliche ‚se‘“1 verwenden könnte). Uno stimmt also mit einem allgemeinen Subjekt wie „die Leute“ und den spezifischen bzw. negierenden Pronomen „jemand“/„niemand“ („alguien“/„nadie“)2 überein, mit seinen entsprechenden Bezugswörtern (für/zu) „sich selbst“ (a/para „sí mismo“), Adjektiven, Personalpronomen usf. im Maskulinum.

Natürlich ist es kein Zufall, dass in beiden Sprachen die jeweiligen Generalisierungsmöglichkeiten vom Maskulinum regiert werden – zumindest auf Deutsch und Spanisch ist „das Universelle“ immer maskulin. Eine der besten und stimmigsten Möglichkeiten, man-Sätze ohne auf uno zurückzugreifen ins Spanische zu übersetzen, ist die zweite Person Singular.3 Weiter unten zeige ich, warum diese Option bei der Übersetzung von Töchter nur eingeschränkt nutzbar war.

Da dieser Text keine wissenschaftliche Abhandlung zur Übersetzung Deutsch-Spanisch werden und keinerlei akademischen Ambitionen zur Schau stellen soll, beziehe ich mich nur auf diesen konkreten Übersetzungsfall. Denn er hat mich dazu genötigt, über diese Gemengelage nachzudenken und natürlich auch dazu, eine einheitliche Entscheidung für die Übersetzung dieses Romans zu treffen.

Die Ich-Erzählerin in Töchter, Betty, interagiert und spricht mit den anderen Figuren, aber sie fügt auch ständig Überlegungen und Gedanken ein, die von persönlichen Erlebnissen berichten und gleichzeitig allgemeingültige Aussagen ausdrücken. Einige dieser Verallgemeinerungen beziehen sich eher auf „die Frauen“ oder bestimmte Generationen von Frauen, da sie im Kontext einer persönlichen Reflexion auftreten, also von dem, was die Erzählerin am eigenen Leib und in ihrer Geschichte erlebt. Aber manchmal beziehen diese Gedanken alle Menschen ohne Unterscheidung nach Geschlecht – und dabei unvermeidlicherweise auch alle Frauen – mit ein. Wie also das eine vom anderen differenzieren? Und wenn es denn gelänge, die Passagen eindeutig zu identifizieren, wäre dann ein Abwechseln zwischen den Pronomen uno   (einer“/ „man“) und una („eine“/„frau“) mit ihren jeweiligen Bezugswörtern angemessen? Würde diese Übersetzungsstrategie der textinternen Kohärenz und der Erzählstimme gerecht? Was würde dieses Abwechseln mit den Leser∙innen machen? Und wenn ich mich dafür entschiede, nur una zu nehmen, um der weiblichen Erzählstimme „treu zu sein“, würde ich damit das Original, sowohl auf Sprach-Ebene (im Deutschen steht durchgehend man mit den entsprechenden Bezugswörtern im Maskulinum), als auch auf Sinn-Ebene (wie bereits gesagt, beziehen sich die Verallgemeinerungen auf alle, inklusive der Erzählerin) adäquat „respektieren“?

Das große Dilemma sprang mir bei folgendem Absatz ins Auge oder wurde vielmehr unumgänglich:

Mit jemandem zu reden, der einen längst verlassen hatte, war etwas, das man nur für sich tat. Ob es sich dabei um eine Trennung oder den Tod handelte, war fast egal, man sprach sowieso nur noch zu sich selbst. Der Verlassene wollte immer reden. Leider war er in der Regel damit allein.

Als ich Lucy fragte, ob sie einverstanden wäre, wenn ich diesen Absatz im Femininum übersetzen würde, stimmte sie zu und gab mir freie Hand, zu entscheiden, was zu tun sei. Das sei in der Tat auch ihre ursprüngliche Idee gewesen, aber dann habe sie sich doch überzeugen lassen, es nicht zu tun. Als ich sie allerdings zu den restlichen man-Stellen befragte, die mich meiner Ansicht nach in das gleiche Interpretationsdilemma brachten, sagte sie, es sei ihr lieber, wenn ich dort ein „nicht markiertes“ Geschlecht einsetzen würde. Es seien Verallgemeinerungen, die alle Menschen einschließen sollten, das sollte ich auf jeden Fall berücksichtigen. In ihrer Wahrnehmung waren die übrigen Passagen mit man nicht „markiert“.4 Und das, obwohl die Erzählerin eine Frau ist und – wie  aus dem oben zitierten Abschnitt und vielen weiteren hervorgeht – in erster Linie von sich selbst spricht. Denn eines der immer wiederkehrenden Themen des Romans ist das Verlassenwerden.

Wie oben erwähnt, ist eine der Übersetzungsmöglichkeiten für man im Spanischen die zweite Person Singular. Das geht nicht immer, aber wenn es um Verallgemeinerungen im Bereich der Gefühle und zwischenmenschlichen Erlebnisse geht, ist es durchaus eine gängige und funktionierende Option. Leider wurde mir dieser Weg in dem Moment versperrt, in dem die Erzählerin mitten im Roman anfängt, eine andere Figur direkt mit Du anzusprechen. Das bedeutet, diese zweite Person Singular wird zur Figur und kann nicht mehr im Sinne von „alle Menschen“ eingesetzt werden. 5

Wenn ich also alle markierten Stellen als weiblich übersetzen würde, könnte man mir vorwerfen, dass ich einerseits diese Äußerung auf eine weibliche Identifikationsfläche eingrenzen oder beschränken würde. Andererseits würde ich meine eigene Wahrnehmung und Interpretation des Textes in den Vordergrund rücken, indem ich mich darauf festlege, die Erzählerin spreche eigentlich/eher von sich selbst und von verlassenen Frauen. Was also tun mit diesen Entscheidungen im gesamten Textverlauf? Wenn ich eine Stelle weiblich markiere, muss ich es dann überall tun? Oder verwende ich eine weniger markierte, aber unpersönlichere und „objektivere“ Möglichkeit wie das „unpersönliche ‚se‘“?

Dank diesem konkreten Übersetzungsfall konnte ich feststellen, dass – zumindest in meiner Wahrnehmung – Verallgemeinerungen in der uno-Form (und hier spreche ich nur noch über das Spanische, denn das ist die einzige Sprache, über die ich mit gewisser Sicherheit bestimmte Dinge im Bereich Sprachgefühl behaupten kann) die persönlichsten der unpersönlichen/allgemeinen Formen für solche universellen Aussagen sind. Ich stellte fest, dass es nicht dasselbe ist zu sagen: „wenn einem das und das passiert “ („cuando a uno le pasa tal cosa“) wie „wenn dir das und das passiert“ („cuando te pasa tal cosa“) oder wie „wenn jemandem das und das passiert“ („cuando a alguien le pasa tal cosa“) oder „ wenn uns das und das passiert“ („cuando nos pasa tal cosa“). Bei dieser Differenzierungsarbeit, zu der mich die Übersetzung dieses Romans zwang, konnte ich verstehen (oder fühlen?), dass die Äußerungen mit uno sowohl etwas Persönliches als auch etwas Allgemeingültiges haben. Vielleicht hat diese Wahrnehmung damit zu tun, dass das Pronomen uno von dem unbestimmten Artikel un (ein)  abgeleitet ist; „ein Individuum“, „eine einzelne Person“. Wenn ich also das Persönliche (Menschliche?) an diesen Verallgemeinerungen beibehalten wollte und gleichzeitig eine der möglichen Übersetzungen für viele dieser Passagen wegfiel, musste ich mich für diese Option entscheiden. Auch zu dem Preis, dass die weibliche Leserin, die sich mit der Erzählfigur identifiziert, sich nicht mehr ausdrücklich gemeint fühlt.

Da ich die Übersetzerin des Textes bin und diesen nicht originär erschaffe (wohl aber seine erste spanische Version), beschloss ich nun, mich bei der Entscheidungsfindung im Sinne der Kohärenz des gesamten Textes auf zwei Punkte zu stützen: 1) Die Autorin hätte andere Strukturen zur Verallgemeinerung nutzen können (Hätte sie? Ich weiß es nicht, aber diese Frage ließe sich sicherlich philologisch und sprachphilosophisch untersuchen), entschied sich aber nicht dafür. Außerdem hatte sie mich gebeten, für bestimmte Passagen, die ich im Femininum übersetzen wollte, dies nicht zu tun, ihr wäre es lieber, wenn sich alle von diesen Passagen angesprochen fühlen würden. 2) Bei der Lektüre zeitgenössischer auf Spanisch verfasster Romane von Autorinnen mit Ich-Erzählerin stellte ich fest (und es fiel mir extrem schwer, die uno-Passagen zu finden, da ich als Leserin so sehr von der Geschichte gefesselt war, dass ich sie auf den ersten Blick übersah), dass die Erzählerinnen der etwa fünf Romane, die ich gelesen hatte, nicht nur immer uno und die entsprechend männlichen Bezugswörter nutzten, sondern dass sie es auch taten, wenn sie – so könnte man sagen – praktisch nur von sich selbst sprachen.6

Zuletzt, bei der Endkorrektur des Romans, bestätigte sich noch etwas, etwas Offensichtliches, das wir Übersetzer∙innen nie müde werden zu wiederholen: Kontext ist alles. Es gab einige Verallgemeinerungen, bei denen ich doch die zweite Person Singular nutzen konnte, weil sie nicht „in der Nähe“ jener anderen zweiten Person Singular waren, die als Figur auftaucht und weil der Inhalt keine Verwechslung zuließ. In anderen Passagen arbeitete ich zwar mit uno (und an keiner Stelle mit una), versuchte aber unnötige Wiederholungen zu vermeiden und die Bezugswörter so zu wählen, dass die männlichen Formen nicht allzu sehr herausstachen.

Kehren wir also zum Schluss zurück zur Eingangsfrage: Hätte ich, wenn die Erzählerin nicht weiblich gewesen wäre, mir all diese Fragen zum Gebrauch von uno gestellt? Hätte ich es als Übersetzungsproblem empfunden, als echten inneren Konflikt, bei dem meine feministische Haltung und mein Wille, den von „dem Männlichen“ dominierten Status quo zu verändern, auf dem Spiel stand? Angesichts dieser Möglichkeit (die ich nie hatte oder nicht genutzt habe) würde ich sagen, wahrscheinlich nicht. Wenn das sprechende Subjekt männlich ist und eine allgemeine Aussage trifft, wobei es von sich selbst aber auch von allen anderen spricht, bringt das keine Probleme mit sich. Und ich frage mich, warum. Die Antwort könnte so offensichtlich wie bedauerlich sein − denn wir werden geboren, leben, zeugen und erschaffen in einem patriarchalen System, das auch in der Sprache Ausdruck findet (auf sprachlicher und grammatikalischer Ebene genauso wie auf Bedeutungs- und Inhaltsebene). Um also jenes angenommene universelle Subjekt darzustellen, das dies oder jenes fühlt, denkt oder erlebt, nutzen wir – ganz und gar nicht zufällig – stets die männliche Form.

Ein Buch zu übersetzen sei eine einzigartige, vielleicht die gründlichste Form der Lektüre. Es geht womöglich darum, sämtliche Schichten und Ebenen offenzulegen – von der „objektiven“ sprachlichen Struktur, den Satzzeichen, dem Klang, der inneren Struktur, bis hin zum „Sinn“, der „Botschaft“, dem Inhalt, der als subjektiv und daher anfälliger für die Interpretation durch seine Leser∙in-Übersetzer∙in gilt. Ich habe keinen Zweifel, dass ich beim Übersetzen dieses Romans eine Reihe festgefahrener Paradigmen auflösen musste, nur, um doch wieder auf den gleichen ausgetretenen Pfad zurückzukehren. Doch habe ich in diesem Prozess einen Teil meiner Selbst unausweichlich in den Text eingebracht und dank einer Art Wechselwirkung hat das Werk dasselbe mit mir gemacht. Denn nach einer Übersetzung wie dieser ist frau nicht dieselbe wie zuvor.

 

Auf der Route bleiben.

 

Fußnoten
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3
4
5
6
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