Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

DAS VERSCHWINDEN

Von Isabelle Liber, übersetzt von Odile Kennel


Lucy Frickes Roman hat 53739 Wörter. 65 davon sind gebeugte Formen des Verbes „verschwinden“, sprich 0,12%. Im Vergleich dazu macht das Verb „trinken“ in unterschiedlicher Form 0,07 % der Gesamtwörter aus. Dabei ist das Thema omnipräsent im Roman, wir haben dazu sogar einen gemeinsamen Beitrag verfasst (allerdings habe ich ein wenig geschummelt: Ich habe weder die Synonyme von „trinken“ mitgezählt, noch die zahlreichen Bezeichnungen für alkoholische Getränke).

Wie dem auch sei: Die häufige Verwendung des Begriffs „verschwinden“ ist auffällig, zumal sich die Erzählerin Betty bereits im zweiten Kapitel selbst als „Meisterin im Verschwinden“ bezeichnet. Ich würde im Roman zwischen zwei „Arten“ von Verschwinden unterscheiden. Zum einen das Verschwinden der Anderen: Marthas Vater, der sich in der Endphase einer Krebserkrankung befindet, Ernesto, dessen Verschwinden für die Erzählerin das Ende der Kindheit bedeutete oder auch Jon, ein Schauspieler aus der Clique, der am Alkohol zugrunde ging – so viel Verschwinden, das weh tut. Die zweite „Art“ des Verschwindens im Roman ist das eigene Verschwinden, bei der Erzählerin aus dem Wunsch, der Notwendigkeit heraus, nicht auf der Weltkarte auftauchen zu wollen.

Die Vielseitigkeit des Begriffs „verschwinden“ wird hier deutlich. Der französische Begriff, „disparaître“ scheint mir nicht ganz so viele Facetten zu beinhalten. Ein Blick in das Online-Wörterbuch Leo zeigt die zahlreichen französischen Verben und Ausdrücke auf den unterschiedlichen Sprachebenen, die dem deutschen „verschwinden“ gegenüberstehen.

Übersetzungsmöglichkeiten des Verbes verschwinden auf Leo.

Aber, werft ihr jetzt vielleicht ein, warum nicht einfach das Wort in der französischen Übersetzung variieren, und immer den Begriff wählen, der in jedem einzelnen Fall am besten passt? Betty und Martha könnten „décamper“ (eher im Sinne von „abhauen“, „die Fliege machen“) oder „filer“ (ebenfalls „abhauen“, aber auch schnell irgendwohin gehen/verschwinden), Kurt hingegen „s'en ira“ (würde gehen). An französischen Synonymen mangelt es nicht. Apropos Synonyme: Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, euch hier zu zeigen, welche Kunst aus dem Nachdenken darüber entstehen kann.1

Das semantische Feld von ,,disparaître“ laut dem Dictionnaire Électronique des Synonymes du CRISCO

Das Problem ist, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lexemen die eigentliche Idee des Verschwindens zu schwächen droht. Die Idee bleibt bestehen, aber die Form verschwindet gewissermaßen. Zugleich ergibt es keinen Sinn, überall, wo „verschwinden“ im Original auftaucht, grundsätzlich „disparaître“ zu verwenden, wir sind schließlich keine Maschinen. Doch die Intensität, die die Wiederholung im deutschen Text hervorruft, muss im Französischen wiedergegeben werden. Fragt sich nur, wie. Ich könnte zum Beispiel in der Übersetzung einen Begriff verwenden, der etwas weniger „unauffällig“ ist, und ihn häufig, aber nicht grundsätzlich einsetzen. Betty wäre dann nicht mehr die „reine de la disparition“, sondern die „reine de l’éclipse“.2

Oder ich könnte mit dem Titel des Romans arbeiten. Noch ist alles offen, und ich werde jetzt über eine zufriedenstellende Lösung nachdenken. Und mit diesen Worten verabschiede ich mich von euch, ich verschwinde, verdünnisiere mich, schleiche mich davon, mach die Fliege, mache mich unsichtbar, mache mich davon, verziehe mich, verflüchtige mich, verdufte …

 

Auf der Route bleiben.

Fußnoten
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