Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

DIES IST KEIN ESEL

Von Isabelle Liber, übersetzt von Odile Kennel


Mein kleiner Bruder, dem ich eines meiner übersetzten Bücher geschenkt hatte, meinte eines Tages: „Als ich das Buch gelesen habe, hatte ich den Eindruck, ich lese einen Brief von dir.“ Oh nein! Wie konnte er meine „Handschrift“ bemerken, wo meine Rolle doch gerade die war, hinter dem Stil der Autorin oder des Autors zu verschwinden und ihr voll und ganz das Wort zu überlassen?

Die Idee der „durchsichtigen“ Übersetzerin, die durch Abwesenheit glänzt, ist natürlich illusorisch. Man muss nur zwei, drei Sätze von unterschiedlichen Personen übersetzen lassen, um festzustellen, dass die Ergebnisse völlig unterschiedlich ausfallen und offenbar Spuren der Person enthalten, die sie übersetzt hat.

Wegweiser auf dem Eselsweg auf Santorin

Wenn wir uns einem Text nähern, tun wir dies nicht als Übersetzungsmaschine, sondern als denkendes, fühlendes, sprechendes Wesen, dessen Aufmerksamkeit, Wissenstand und Erfahrung sich von anderen unterscheidet.

„Wir blickten uns direkt an. Seine Augen waren pechschwarz, umgeben von einem weißen Fell. Auch seine Schnauze war weiß, wie seine Zähne, die geradezu leuchteten in der Dunkelheit. Ich hörte einen Schrei, der vom Meer zu kommen schien und doch nur mein eigener war. Der Esel vor mir blieb ganz ruhig, sah mich lange an, bevor er seinen Weg fortsetzte, ich ihm zitternd und mit großem Abstand folgte. Wenn er stehen blieb, stand auch ich. Wenn er ging, ging ich ihm nach. Es war ein Spiel, ich hatte lange nicht gespielt und verstand nicht, wer hier wie gewinnen sollte. Erst als ich weiterging und er sich nicht rührte, wurde mir klar, dass dieser Esel auf mich wartete, dass das sein Sieg wäre: Wenn ich ihn einholte und das Angebot annahm. Wenn ich ihm vertraute, hätte er gewonnen.“ (S. 233)

In dieser Passage gegen Ende des Romans von Lucy Fricke steht die Erzählerin Betty, die ihrer Vergangenheit entfliehen will, als diese droht, sie in den Abgrund zu ziehen, plötzlich vor einem Esel. Wenn diese Szene mich berührt, dann nicht nur wegen der Rolle, die sie in der Geschichte spielt1, sondern auch – und darum geht es in diesem Beitrag – weil sie sehr persönliche Assoziationen über meine Lektüre hinaus auslöst. Der Esel der Schriftstellerin ist natürlich nicht mein Esel – und kann es auch nicht sein. Über den beschriebenen Esel legt sich ein Esel, der aus all dem zusammengesetzt ist, was ich mit „Esel“ assoziiere.

Mein Esel ist zunächst das Abbild all der Esel, die meine Kindheit begleitet haben: Meine Mutter liebte diese Tiere, und wenn wir mit dem Auto aufs Land fuhren, hielten wir ständig an, um die Esel, die am Straßenrand weideten, zu streicheln, ihnen zu schmeicheln, sie zu fotografieren. Das familiäre Bücherregal war voller Bücher über Esel, und einmal gab es anlässlich eines Geburtstages sogar eine Wanderung in Begleitung eines freundlichen Grautiers.2

Stichprobe der ikonographischen Familiensammlung (Postkarten und Buch, G. Rossini, Mémoires des ânes et des mulets, Équinoxe, 2003)

Mein Esel ist aber auch ein philosophischer Fuchs, denn die Begegnung zwischen Betty und dem Esel erinnert mich unweigerlich an die Szene zwischen dem Kleinen Prinzen und dem Fuchs in dem – trotz exzessiven Merchandisings – nach wie vor wundervollen Buch von Antoine de Saint-Exupéry.

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Begegnung zwischen dem Fuchs und dem Kleinen Prinz in dem Film Le Petit Prince, 2015

Mein Esel bewegt sich aber auch „zwischen den Welten“ auf den georgischen Pfaden des Malers Niko Pirosmani, dessen Werk mich seit mehreren Jahren begleitet. Kennengelernt habe ich es durch einen guten Freund; später saß ich fasziniert in einem dunklen Kinosaal und schaute mir den Film von Gueorgui Chenguelaia über den Künstler3 an. Schließlich lektorierte ich den Katalog über den Künstler anlässlich der sehr schönen Ausstellung, die 2018/19 in der Albertina (Wien) und der Fondation Van Gogh (Arles) gezeigt wurde.

Pirosmani in Griechenland oder Betty in Georgien – wenn unterschiedliche Projekte sich begegnen.

Ohne dem Original zu widersprechen oder ihm etwas überzustülpen, trägt jedes der Worte, mit denen ich den Esel in dieser Passage beschreibe, winzige Spuren all der Esel in sich, die meinen Weg gekreuzt haben. Oder mit den Worten von Jean-René Ladmiral: „Ein übersetzerisches Schreiben ist ohne die vermittelnde Subjektivität der Übersetzer∙innen unmöglich“.4 Subjektivität, die Übersetzung so faszinierend macht...

 

Auf der Route bleiben.

 

Fußnoten
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2
3
4
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