Journale Ein Übersetzungsroadtrip.

SCHWIERIGE FAMILIENVERHÄLTNISSE

Von Isabelle Liber, übersetzt von Odile Kennel


„Töchter“. „Daughters“ auf Englisch, „hijas“ auf Spanisch. Auf Französisch: „filles“. „Und wo ist das Problem?“, werdet ihr denken. Das Problem ist – aber vielleicht ja auch nur für mich –, dass „filles“ als Titel auf einem Buchumschlag ganz andere Assoziationen auslöst als seine deutsche Entsprechung.

Selbstgebastelter, frei erfundener Buchumschlag

Das Problem ist die Verwandtschaft. Genauer gesagt, die fehlende Verwandtschaft. Im Originaltitel sind in einem einzigen Wort bereits alle Familien- oder quasi Familienbeziehungen enthalten, die den Roman strukturieren, die den Roman ausmachen. Der Begriff „Töchter“ evoziert natürlich zuerst einmal die Eltern-Tochter-Beziehung. Im Plural steckt darin aber auch eine andere, genau so wichtige Gemeinschaft: die der Mädchen, Schwestern, Freundinnen, also die von Martha und Betty.

Auf Französisch hingegen ist „fille“ nicht unbedingt die Tochter ihrer Eltern, „fille“ heißt auch einfach Mädchen/junge Frau, „fille“ ist also auch das Mädchen, das gerade vorbeigeht, oder die junge Frau, mit der man verabredet ist … Wie geht man damit bei einem Romantitel um? Man zermartert sich das Gehirn, ein wenig nach dem Prinzip des Castings beim Käse La Vache qui rit …

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Die berühmte Werbung für La Vache qui rit (1986), in der die richtige Kuhpersönlichkeit für den Käse gesucht wird

Welcher französische Titel also für den Roman von Lucy Fricke? Filles. Nein, passt nicht, aus beschriebenen Gründen.1 Pères et filles? Töchter und Väter, ein wenig platt. Pères, filles, vielleicht? Nicht schlecht, schöner Rhythmus. Im Komma steckt etwas Unerwartetes … Und was sagt das Internet dazu?

Eine ganze Lawine an „Tochter-Vater“-Buchcovern.

Ich stoße auf jede Menge Buchtitel. Irgendwann lande ich bei Nicht ohne meine Tochter, und habe den Faden (den Vater?) verloren …

Um was geht es in diesem Roman? Ich mag den Gedanken, dass die vierzigjährigen Protagonistinnen noch „filles“2 sind … Könnte der Roman Les Grandes Filles3 heißen? Aber die Vater-Tochter-Beziehung bleibt nach wie vor unsichtbar. Leurs Grandes Filles?4 Das dreht die Perspektive um, stellt die Generation davor ins Zentrum. Betty und Martha würden nicht mehr auf der Vorderbank des Autos sitzen und einen sterbenden Vater quer durch Europa kutschieren, plötzlich säßen ihre kranken oder verschwundenen Väter am Steuer, während sie mit der Rückbank Vorlieb nehmen müssten.5 Unmöglich. Und warum nicht Nos pères6 ? Schon besser, wir kommen der Sache näher. Vater unser, unsere Väter, das hat was. 

Anderseits … Wo sind die Töchter, Mädchen oder Frauen in diesem Titel? Etwas zu diskret, scheint mir. Où sont les filles, wo sind die Mädchen – das erinnert mich an ein Lied. Ach nein, das war Où sont les femmes, wo sind die Frauen. Oh les filles hingegen gab es. Hey, das ist nicht schlecht! Das „oh“ gibt den weiblichen Figuren etwas Dynamisches, sie gehen voll drauf los oder nerven auch manchmal, je nachdem, wie man das Ganze betont. Frauen von heute eben.7

Leider ist dann die Tochter völlig aus dem Titel verschwunden. Der Ausdruck „fille de“8 kommt mir in den Sinn. Tochter von wem? Niemandstochter? Tochter von nichts? Lufttochter! „Lufttöchter/-frauen/-mädchen“ spielen heißt auf Französisch fliehen, sich verdünnisieren, abhauen. Und das ist schließlich auch eines der zentralen Themen des Romans. Filles de l’air, Lufttöchter/Luftmädchen/Luftfrauen, warum nicht?

Welchen Titel hat der Roman am Ende? Die Antwort findet ihr auf der Webseite des Verlages.

 

Auf der Route bleiben.

 

Fußnoten
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