Journale Prosa Weiße Haie, schwarze Schafe.

Weiße Haie, schwarze Schafe.

Journal zur Übersetzung des Romans Phone von Will Self

»Phone« ist ein schwarzes Bakelittelefon mit einer Wählscheibe, es ist aber zugleich ein Smartphone, dessen Klingelton ein altes Bakelittelefon nachahmt, das kratzig klingelt, und zwar über sechshundertsiebzehn absatz- und kapitellose Seiten des englischen Originaltexts, bis endlich jemand drangeht. Here he comes and snatches up the black give-a-dog-a .... schreibt Self und meint den Hundeknochen aus einem alten Kinderlied. Es ist der demenzkranke ehemalige Psychiater und R.D. Laing-Schüler Zachary (Zack) Busner, ein alter Bekannter des Will-Self-Universums, der sich den Hundeknochen schnappt. Das Smartphone mit dem Retroklingelton vereint Anfangs- und Endpunkt jener Zeitspanne, über die sich die Handlung von Selfs monumentaler Romantrilogie erstreckt, eine doppelte Familiengeschichte über zweitausend Seiten, einhundert Jahre und drei Kriege: »Umbrella« (Erster Weltkrieg), »Shark« (Pazifikkrieg) und »Phone« (Irakkrieg).

This old man
he played one
he played knick-knack on my thumb
knick-knack paddywhack
give a dog a bone.

Mit dem einen Druck auf den Touch-Response-Bildschirm seines Handys setzt Busner etwas in Bewegung, das ein Leben zerstören und gleichzeitig vollenden wird. Am anderen Ende der Leitung, die keine ist, befindet sich sein Enkel Ben, der einen Geheimdienstler erpresst, der ein Verhältnis mit einem verheirateten britischen Offizier hatte. Der Anruf schließt etwas kurz, er löst die Autophagozytose einer Datenmenge aus, die ein ganzes Leben ausmacht. Busners Bewusstsein vergeht in einer Art Kalter Fusion, der Tod ist ein Upload, die Erleuchtung, nach der er strebt, ist digital. This old man came rolling home.

Natürlich ist Handy kein schönes Wort und vor allem kein schöner Titel für einen ernsthaften, alles andere als handlichen Roman, und so hat sich der deutsche Verlag für »Phone« entschieden, wie zuvor schon für »Shark«, den zweiten Band der Trilogie, dessen englischer Titel sich auf die Haie bezieht, die beim Untergang des amerikanischen Kreuzers USS Indianapolis am 30. Juli 1945 die Ertrinkenden umkreisen und immer wieder umkreisen, bis sie sie endlich fressen. »Shark« bezieht sich aber ebenso auf Steven Spielbergs »Der weiße Hai«, der auf Englisch allerdings »Jaws« heißt, "Maul" oder "Kiefer" also. So macht der englische Titel des Romans den Bezug für den Leser der deutschen Übersetzung deutlicher als für den Leser des Originals.

Nicht nur die Haie kreisen, sondern auch die Zungen eines Liebespaares am Korallenriff des Zahndamms, und auch die Menschen auf dem Wiener Ring kreisen, auf dem Graben, auf der Londoner King William Street, einer der unzähligen Verweise auf T.S. Eliots »The Waste Land«, auf die unwirkliche Stadt und die vielen, die schon verblichen sind. Die ganze schwindelerregende Trilogie ist von dieser kreisenden Bewegung geprägt, in »Phone« kreist an den entscheidenden Stellen, wenn das Weltbewusstsein laggt, das Regenbogenrädchen auf dem Handybildschirm.

Unreal City,
Under the brown fog of a winter dawn,
A crowd flowed over London Bridge, so many,
I had not thought death had undone so many.
Sighs, short and infrequent, were exhaled,
And each man fixed his eyes before his feet.
Flowed up the hill and down King William Street,
To where Saint Mary Woolnoth kept the hours
With a dead sound on the final stroke of nine.

Als Gawain, ein homosexueller britischer Offizier im Irakkrieg, wegen einer Sicherheitslücke die Telefone seiner Untergebenen einsammelt und in einer Plastiktüte davonträgt, passt das hässliche Wort Handy plötzlich sehr gut. Der "SeeOh" (CO, Commanding Officer, befehlshabende Offizier) mit den verräterisch breiten Hüften "schwingt die Handytasche und lauscht dem gespenstischen Ullalullalullalullulla!, das vom Haupttor herübertönt". Das mag ein wenig klischeehaft klingen, aber es entfaltet sich eine stellenweise sehr zärtliche Liebesgeschichte, die Self mit W.H. Audens traurig-schönem »Funeral Blues« umspielt und umschmeichelt, einem Gedicht, das über den Text verteilt beinahe in ganzer Länge zitiert wird und auf verschiedenste Weisen anklingt.

He was my North, my South, my East and West,
My working week and my Sunday rest,
My moon, my midnight, my talk, my song:
I thought that love would last forever, I was wrong.

Eine Grundmetapher zieht sich durch den Roman, von Schafen und Böcken, es wird geblökt und geschoren und auch gerammelt, denn Gawain, der Grüne Ritter, dient bei einem Bataillon mit dem Namen Fighting Rams. Self spielt mit allem, was das Thema hergibt, sogar mit Bachs Geburtstagskantate. Hier wird ein irakischer Übersetzer im Dienst der Besatzer gerissen, sein Name ist Asif oder as-if …, dort schaut jemand sheepishly … schüchtern, verlegen und warum eigentlich nicht schäfisch? Ein dipped sheep ist ein Agent, der eine neue Identität bekommen hat. Als der demente Psychiater versucht, einen Satz zu bilden, will es ihm nicht gelingen, seine … revenons à nos moutons ... Wörterschäfchen ins Trockene zu bringen. Auch das Random Access Memory (RAM!) des Smartphones gehört in dieses Feld, es geht um Möglichkeiten und Geschwindigkeiten des Datenzugriffs, die Welt in »Phone« scheint an mehreren Stellen, in der Software wie in der mit Amyloidplacken belegten Wetware des alternden Psychiaters, zu laggen.

Schafe können sicher weiden, 
Wo ein guter Hirte wacht. 
Wo Regenten wohl regieren, 
Kann man Ruh und Friede spüren 
Und was Länder glücklich macht.

(BWV 208)

Gawains Freund Jonathan, ein Geheimdienstler, wirkt unter dem Namen der Schlachter – sein Vater, der seinen größten Auftritt in »Shark« absolviert, hat seine drei Söhne nach einem alten Kinderlied benannt: der Schlachter, der Bäcker, der Kerzenzieher. Jonathan wird den Rammbock, der eigentlich ein Lämmlein ist, am Ufer des Flusses Irwell in Manchester zur Schlachtbank führen. Wenn in einem solchen Kontext der Ausdruck bad apples auftaucht, jauchzt der stille Übersetzer im Lesesaal der Staatsbibliothek plötzlich laut auf, er fühlt sich beschenkt, denn er darf schwarze Schafe schreiben – eine verbrauchte, etwas müde Redewendung, der nun plötzlich neues Leben eingehaucht wird. Kurz darauf baut er sogar noch den Hammelsprung ein, wo die britische Parlamentsordnung nur den Gang in die division lobby vorsieht.

Rub-a-dub-dub,
Three men in a tub,
And who do you think they be?
The butcher, the baker, the candlestick maker,
And all of them out to sea.

»Shark« oder »Hai«, »Phone« oder vielleicht doch »Der Anruf«, es ist so eine Sache mit den Titeln. Der erste Roman der Trilogie, »Umbrella«, in dem der junge Zack Busner, ein literarischer Wiedergänger von Oliver Sacks, einige Opfer der Europäischen Schlafkrankheit aus ihrer Starre erweckt und so den Ersten Weltkrieg quasi in die Gegenwart der Siebzigerjahre holt, heißt im Deutschen »Regenschirm«. Eine Anspielung auf Ulysses: Ein Bruder wird so leicht vergessen wie ein Regenschirm, übersetzt Hans Wollschläger. Beim Titel reden immer eine Menge Leute mit, Verlagsvertreter und Marketingleute, man sollte sich von einem Titel – vor allem einem übersetzten Titel – weder abschrecken noch vereinnahmen lassen. »Regenschirm«, dessen emotionales Zentrum der Grabenkrieg von Wipers (Ypres) bildet, ist ein hochkomplexer, abgründiger, ergreifender und erschütternder Antikriegsroman, der Einstieg in eine monumentale Trilogie, die mit »Phone«, mit dem Druck auf die Touch-Response-Taste eines Smartphones, ihren elektrisierenden Abschluss findet.

Umbrellas, umbrellas to mend
Mend y'umbrella, lady?
Umbrellas? Mend by hand, lady
Umbrellas to mend

– Flanagan and Allen (1939)

Man kann sich als Übersetzer seinen Autor nicht immer aussuchen. Ich bleibe an dieser Stelle bewusst beim Maskulin: Als männlicher Übersetzer werden mir beinahe ausschließlich Bücher von männlichen Autoren angeboten, erstaunlicherweise, wie ich finde, geht man doch davon aus, dass der Übersetzer/die Übersetzerin sich in andere Sprachwelten, in andere fiktionale Welten hineindenken kann, dass er/sie selbstverständlich auf dem fliegenden Teppich seines/ihres Computers nicht nur Sprachräume überwinden kann, sondern auch Zeitalter und Kontinente. Offenbar traut dem männlichen Übersetzer jedoch kaum jemand zu, sich in die Stimme des anderen Geschlechts hineinzudenken, die ihn seit seiner Geburt, tatsächlich sogar schon vorher, umgibt und wärmend einhüllt.

Man kann sich als Übersetzer seinen Autor nicht immer aussuchen. Die Toten mischen sich nicht ein, beantworten aber auch keine Fragen. (Zwei der Autoren, die ich übersetzt habe, sind inzwischen verstorben: Kurt Vonnegut … so it goes, und Leonard Cohen ... that's how it goes / everybody knows.) Unter den Lebenden gibt es solche, die die Zielsprache können (oder zu können glauben), sie mischen sich gern ein, ich habe mich von solchen Aufträgen immer ferngehalten. Andere interessieren sich überhaupt nicht für ihre Übersetzer, sie würdigen die Arbeit nicht und unterschätzen möglicherweise auch den deutschen Buchmarkt. Wieder andere, wie die Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe, deren Romane in viele Sprachen übersetzt wurden, ordnen sich dem Übersetzer beinahe unter, machen sich selbst ganz klein und sind voller Dankbarkeit.

Was ist das Original gegen eine gelungene Übersetzung, was vermag der gefangene Dichter gegen das mächtigste Handwerk der Welt, was die Selbstbehauptung gegen die dienende Tat? (F. Hoppe)

Auch Will Self gehört zu den Autoren, die ihren Übersetzern respektvoll begegnen und ihre Arbeit zu schätzen wissen. Self ist für mich der Idealfall des zu übersetzenden Autors: Er kann kein Deutsch, ist aber germanophil – eine der zahlreichen konträren Positionen dieses sehr öffentlichen Autors, der seine Rolle als Enfant terrible des britischen Establishments hinreißend spielt. Und er beantwortet geduldig alle meine Fragen. Er weiß, dass seine Romane beinahe unübersetzbar sind, tatsächlich spielt er mit der Unübersetzbarkeit und reizt die idiomatischen und dialektalen Möglichkeiten des Englischen voll aus. In »The Book of Dave« aus dem Jahr 2006, das ohne Russell Hobans kultigem, als unübersetzbar geltendem Roman »Riddley Walker« wohl nicht denkbar wäre, entwickelt er einen eigenen, auf dem Sprachgebrauch eines Londoner Taxifahrers basierenden Zukunftsdialekt.

Eyem glad, yeah, coz thass wottul a´ppen 2 U if U go on fukkinabaht in ve zön wiv Tonë!

Unübersetzbar ist vor allem der Cockney Rhyming Slang, dessen sich Self immer wieder bedient. Ich übersetze You'd both be brown bread als "Ihr wärt beide erledigt" (bread – dead); wooly woofter reimt sich auf poofter und ist demnach eine "Tunte" oder "Schwulette"; have a butcher's ist "mal kurz reinschauen", ein Wortspiel über zwei Banden, denn zum Metzger gehört ein Metzgerhaken, der butcher's hook, und der reimt sich auf look. Was ich hier an Bedeutung verloren habe, nämlich den Anschluss an den Themenkomplex – Linguisten würden sagen frame – der geschlachteten Rammböcke (auch wooly gehört dazu!), habe ich an anderer Stelle, siehe oben, ausgeglichen. Ich bin, zumindest bei diesem Trilogieprojekt, das mich seit nunmehr acht Jahren beschäftigt, ein Verfechter der Kompensation, manchmal gelingt es dem Übersetzer, in der Zielsprache Dinge zu tun, die der Autor, würde er in eben dieser Zielsprache schreiben, vermutlich auch getan hätte. Der Übersetzer sollte diese Gelegenheiten unbedingt nutzen, wie es Hans Wollschläger in seinem Ulysses getan hat, so entsteht neben dem unvermeidlichen Übersetzungsverlust auch ein Gewinn.

Man muss sich eine beliebige Seite des Originals ansehen, um zu begreifen, wie dieser Text funktioniert. Es ist eine Art Stream-of-Consciousness-Literatur in einer Zeit, in der sich die Vorstellung von einem zusammenhängenden, identitätsbildenden Bewusstsein überlebt zu haben scheint. Es ist der Bewusstseinsstrom von vielen miteinander verflochtenen Figuren und Erzählsträngen und Datensätzen, die Perspektive wechselt ständig und schleichend, die Übergänge finden teilweise mitten im Satz, mitten in einem sprachlichen Bild statt. Das macht die Übersetzungsarbeit spannend und manchmal auch unmöglich.

Am liebsten arbeite ich in Bibliotheken, und ein Sammlertyp bin ich auch nicht, aber seit ich die Romane von Will Self übersetze, habe ich mir eine feine, etwa zwölf Kilogramm schwere Sammlung von Slang-Wörterbüchern zugelegt, darunter drei verschiedene Ausgaben von Heinz Küppers »Wörterbuch der deutschen Umgangssprache« und das wirklich fette »New Partridge Dictionary of Slang and Unconventional English« von Tom Dalzell und Terry Victor. In der zweiten Auflage von 2013 ist das Wort poofter als australischen Ursprungs gekennzeichnet, was zwar nicht so recht zum Cockney passen will, wohl aber zu Will Self, der ein, wie er selbst sagt, kompliziertes Verhältnis zu Australien hat. Überhaupt ist Will Self der einzige Autor, den ich kenne, dessen Englisch einerseits wahrhaft global ist und andererseits sehr konkret dialektal. Auch mit dem Jiddischen spielt er, seine Mutter war eine Jüdin aus Queens, New York. Leider muss ich trotz meiner beträchtlichen Wörterbuchsammlung gelegentlich auf urbandictionary.com zurückgreifen, einer von Nutzern verfassten Website, auf der sich gerade bei sexuellen Themen frustrierte Männer unter Aliasnamen wie "fuckshu" hervorzutun versuchen. Bei »Shark« waren es die street names von allerlei Drogen, die mich beinahe in den Wahnsinn und schließlich zu urbandictionary.com getrieben haben, wo tatsächlich eine Menge Expertenwissen über Sex und Drogen versammelt ist. Vielleicht ist die Übersetzungsarbeit nicht nur in dieser Hinsicht gelegentlich ein schmutziges Geschäft. Manchmal möchte man sich die Hände waschen danach, doch zur Reinigung genügt es schon, sich diese Zeilen in Erinnerung zu rufen: He was my North, my South, my East and West

Bennies: A slang term for the drug "Benzedrine" that came into the U.S. around 1928 as inhalers, and later on in tablet form. It is a stimulant similar to methamphetamine. "I havnt slept for 3 days man, them bennies got me goin." Austin Westerveld, October 17, 2006

Self ist einer der bekanntesten Vertreter der modernen Psychogeographie, ein Wanderer in der Dämmerung der Stadt, der London kennt wie die Innentasche seines Tweedjacketts (in der sich ein in Würde gealtertes iPhone verbirgt). Die ausgedehnten dérives und Nachtwanderungen, die er mit einer Gruppe von Freunden unternimmt, fließen in seine Romane und Erzählungen ein, die eine teils sehr konkrete Topographie haben. In »Phone« sind dies bestimmte Teile von London (Hampstead Heath, Vauxhall), aber auch die unwirtlicheren Viertel von Manchester und eine Militärbasis im südlichen Irak. Ich habe Self bei einigen dieser, sagen wir, Spazierungen durch London begleitet, er war so nett, mir die Häuser und Straßen zu zeigen, die in der Trilogie beschrieben werden, darunter zwei Gebäude in der Chapter Road in Willesden, die das antipsychiatrische Konzepthaus nach R.D. Laing in »Shark« beherbergen. Wir haben eine ganze Thermoskanne Bialettikaffee getrunken und Bleistifte gekauft, und das war alles sehr, sehr nett, aber die Übersetzung hätte ich wohl auch ohne diese Ortsbegehungen hinbekommen.

No one perhaps has ever felt passionately towards a lead pencil. But there are circumstances in which it can become supremely desirable to possess one; moments when we are set upon having an object, an excuse for walking half across London between tea and dinner. (V. Woolf)

Ich komme mit Street View gut zurecht und bin – wie wohl die meisten Übersetzer – inzwischen sehr geübt in dem, was man als "deep googling" bezeichnen könnte. So habe ich unter Einsatz verschiedener boolescher Operatoren erfahren, dass sich Selfs Ausdruck Currie-stirrer nicht auf einen indischen Hilfskoch bezieht, sondern auf den ehemaligen Premier John Major, der eine Affäre mit einer Abgeordneten namens Edwina Currie hatte und die Existenz des SIS (Secret Intelligence Service) 1994 zum ersten Mal öffentlich bestätigte.

Well, since the Service’s public avowal, courtesy of the Currie-stirrer, the fish-eye lens had been inverted ...

Wie hat man so etwas übersetzt, als es das Internet nicht gab? Ich brauche unter zwei Minuten, um herauszufinden, dass der Two-Forty-Eight nicht etwa ein Bus der Linie 248 ist, sondern ein Bus, der King's Cross um 14:48 Uhr verlässt. Wie haben die großen Alten des Geschäfts, wie hat ein Hans Wollschläger, ein Kurt Wagenseil das gemacht? Wie lange hätten sie gebraucht, um eine solche Frage zu beantworten? Hätten sie es überhaupt versucht? Hätte Swetlana Geier in der Freiburger Universitätsbibliothek, möglicherweise über die Fernleihe, nach einem Busfahrplan von London (oder Sankt Petersburg) gesucht? Hätte der kürzlich verstorbene Dieter E. Zimmer zu solchen Fragen mit Dimitri Nabokov korrespondiert, über Wochen oder gar Monate? Verfügten Übersetzer, auch solche, die weder Redakteursposten noch Lehrstühle innehatten, etwa über Assistenten? Wie hoch war das Seitenhonorar damals, inflationsbereinigt?

Ich brauche den Autor nicht für das, was man googlen kann, ich brauche ihn für das Lexikalische, das Dialektale, das (historisch) Soziolektale, für Schizophrasie, Palilalie und bedröhntes Gelalle, für diejenigen Stellen also, die in der Kommentarleiste der Rohübersetzung, die ich für meine Notizen verwende, mit dem Kürzel "WTF?" versehen sind. WTF? steht für What the fuck? und markiert zum Beispiel das Wort fee-say-shuss-lee. Das sagt ein Grundschüler, der in Phonics unterrichtet wird, einer auf Phonetik basierenden Lehrmethode, die im englischsprachigen Raum eine Zeitlang sehr beliebt war. (In den USA war Laura Bush die prominenteste Befürworterin.) Das Kind lernt die Wörter lautlich, bevor es sie schreiben muss. Das Wort, um das es geht, ist facetiously (scherzhaft, mokant), nur leider hat der Junge seine Phonics nicht richtig gelernt, es müsste heißen: fuh-see-shuss-lee. Der Fehler liegt nicht beim Autor, sondern bei dem Jungen Ben, der später mit seinem Anruf das Upload auslösen wird.

On and on – boring into you, on and never off – can’t turn ’em off, no off-switch ... Can’t turn ’em off-and-on, which usually fixes the problem . . . You’re not bored, though? Sorta phonics he’d come up with – and not fee-say-shuss-lee . . . Bored?

Acht Jahre habe ich im Stollen der Selfschen Wörtergrube geschuftet, wie Self es einmal ausgedrückt hat. Die Übersetzung von »Phone« ist fertig, ich bin bereit, das Manuskript – es sind 736 Normseiten geworden – an den Lektor zu schicken. Doch dann entdecke ich in der Kommentarleiste noch eine Notiz, die zu bearbeiten ich vergessen habe: annamit, annamere, gissitere … WTF? Einmal mehr die Frage, was mich geritten hat, dieses Projekt überhaupt anzunehmen. Ich habe diese Wörter (Wörter?) über Wochen und Monate immer wieder angestarrt, hoffend, dass sich ihr Sinn erschließen würde. Ist das Englisch? Ich habe Wörterbücher gewälzt und bin in die Schlammgrube von urbandictionary.com hinabgestiegen. Ich habe die Phonics auf dem Weg zur Stabi laut vor mich hingesprochen: gissetere, gissetere …, bis sich an der Ampel andere Fahrradfahrer nach mir umgesehen haben. Irgendwann habe ich aufgegeben und den Abschnitt zurückgestellt. Und vergessen. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich frage Self, er eiert: "Well, it’s half-way to being comprehensible, deliberately so: she’s probably trying to say something like: ‘Wait a bit’ (demotic; ‘Hang on a bit’), ‘I’ve got them here in my hand’, and  ‘Give it here’, as she passes the pills to the Butcher and asks him for the money. However, she’s so stoned that she slurs and mumbles …" Wartma, happsie, gippehr …, übersetze ich, um dem deutschen Leser ein wenig entgegenzukommen, ich bin ein Brückenbauer, ich will, dass man versteht. Es ist eine von hundert möglichen Lösungen, eine der freundlicheren. Ich schicke das Manuskript mit einem Klick ab. Ein Regenbogenrädchen dreht sich, und als die Datei schließlich versandt ist, atme ich auf. »Regenschirm«, »Shark« und nun »Phone«, über zweitausend absatzlose Seiten, zwölf Kilo Slang, acht Jahre Schufterei. Ich habe es geschafft.

Will Self © Dean Kuipers


Diese zweisprachige Leseprobe gibt es ebenfalls als PDF zum Download.

 


 

Die Übersetzung von »Phone« wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert und erscheint im Frühjahr 2021 bei Hoffmann und Campe. Zum Abschluss meiner Arbeit an der Trilogie danke ich Constanze Neumann, die Will Self für Hoffmann und Campe akquiriert hat, meinem Wunschlektor Rainer Wieland, der »Phone« und zuvor schon »Regenschirm« mit Kompetenz und Zurückhaltung betreut hat, und Aurélie Maurin, die als Herausgeberin der TOLEDO-Journale mild-freundliche Erinnerungsmails geschrieben hat. Vor allen anderen aber danke ich dem unvergleichlichen Will Self.

 

Leseprobe PDF

©Lorenz Brandtner

Gregor Hens, geboren 1965 in Köln, ist Schriftsteller und Literaturübersetzer. Er hat Werke von Jeffrey Eugenides, Leonard Cohen, Kurt Vonnegut und anderen ins Deutsche übertragen. Mit der Übersetzung von »Shark«, dem zweiten Band von Will Selfs Trilogie, stand er auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Hens schreibt Romane und Essays, sein neues Buch »Die Stadt und der Erdkreis« erscheint im Juni 2021 als Band 438 der Anderen Bibliothek.

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