Doppeldeutige Aufziehvögel und tiefe Brunnen.
Journal zur Neuübersetzung des Romans Die Chroniken des Aufziehvogels von Haruki Murakami
Worum geht es im Roman?
Die Chroniken des Aufziehvogels gehören zu Haruki Murakamis komplexesten Werken. Sie sind historischer und fantastischer, Abenteuer- und Familienroman zugleich. Die Handlung setzt sich aus realistischen und magischen Strängen zusammen und spielt in verschiedenen historischen Epochen an den jeweiligen Schauplätzen. Erzählt wird aus der Perspektive von mindestens drei Hauptfiguren, die alle durch das Motiv des rätselhaften nur von bestimmten Menschen vernehmbaren „Aufziehvogels“ miteinander verknüpft sind.
Icherzähler Toru Okada hat einige Monate vor Beginn der Handlung seine Stelle in einer Anwaltskanzlei gekündigt. Seine Frau Kumiko arbeitet in der Redaktion einer Zeitschrift und verdient genug für beide. Toru ist nicht ehrgeizig, er ist gern zu Hause. Eines Tages jedoch verschwindet Kumiko, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Toru begibt sich auf eine verschlungene abenteuerliche Suche. Auf dieser begegnet er mehreren mysteriösen Frauenfiguren, die ihm auf ein oder andere Art den Weg weisen, wie die Schwestern Kreta und Malta Kano oder die sechzehnjährige May Kasahara. Letztere zeigt ihm den ausgetrockneten Brunnen im Garten eines verlassenen Anwesens, der zu Torus Zugang in die Unterwelt wird, in der seine Frau Kumiko gefangen ist. Torus Widersacher ist der skrupellose aufsteigende Politiker Noboru Wataya. Er ist der ältere Bruder seiner Frau und die beiden umgibt ein dunkles Familiengeheimnis.
Der zweite große Erzählstrang schildert die Besetzung der Mandschurei, die damit verbundenen Gräuel und ihre Folgen. Leutnant Mamiya, der all das mit- und überlebt hat, erzählt Toru Okada seine Geschichte, die ihn nach Mandschukuo, in die Mongolei, in ein sibirisches Kohlebergwerk und wieder zurück nach Japan geführt hat. Unauflösliche Verbindungen zwischen Japans Vergangenheit und Gegenwart treten zutage.
Wird es Toru gelingen, sich gegen seinen gefährlichen Widersacher Noboru Wataya zu behaupten und seine Frau aus ihrem inneren Verließ zu befreien? Können Toru und Kumiko nach allem was geschehen ist, überhaupt wieder zueinander finden?
Zum Titel oder wer oder was ist der "Aufziehvogel"?
Der Titel Die Chroniken des Aufziehvogels gibt den des japanischen Originals Nejimaki-dori kuronikuru recht genau wieder. Das Wort „Aufziehvogel“ ruft sofort ein bestimmtes Bild hervor, nämlich das eines kleinen Metallspielzeugs, wie verschiedene Cover von Übersetzungen belegen, z. B. das amerikanischer oder französischer Ausgaben.
Das Bild des „Aufziehvogels“ tritt im Roman jedoch in einer doppelten Bedeutung auf und hat mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Einmal wird es durch eine akustische Wahrnehmung beschworen, denn sein schnarrendes Kreischen ruft eine Assoziation mit dem Geräusch hervor, das beim Aufziehen eines Federwerks entsteht: „In einem benachbarten Hain mit Bäumen kreischte regelmäßig ein Vogel, den wir den ‚Aufziehvogel‘ nannten, weil er klang, als würde man eine Feder aufziehen. Den Namen hatte Kumiko ihm gegeben. Wie er wirklich hieß, wussten wir nicht. Auch nicht, wie er aussah. Dessen ungeachtet kam der Aufziehvogel jeden Tag in den Hain und zog die stille Welt auf, deren Teil wir waren.“
Für mich war es zunächst eine Überraschung, dass es gar nicht der Vogel ist, der aufgezogen wird, sondern er selbst das Federwerk der Welt aufzieht, die sonst womöglich stehen bleiben würde. Der Vogel ist unsichtbar, wird im ganzen Roman nie von jemandem gesehen, immer nur gehört. Im Laufe der Handlung erkennt der Leser, dass es vielleicht sogar mehrere dieser Vögel geben könnte – auch diese Deutung lässt das Japanische zu, das kaum ausdrückliche Pluralbildungen kennt – , auf alle Fälle existieren mehrere Federwerke, die aufgezogen werden müssen. Ist im japanischen „Sprachspiel“ eine solche Wortbrechung leichter möglich, weil die poetische Assoziation der semantischen Logik vorgezogen wird? Liegt ein spezielles Wortgefühl vor? Wie schon so oft beim Übersetzen musste ich an den Traum denken, den Roland Barthes in Das Reich der Zeichen beschreibt: „Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen, ohne dass diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch die Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde; in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die Unmöglichkeit der unsrigen erkennen; die Systematik des Ungreifbaren erlernen; unsere ‚Wirklichkeit‘ unter dem Einfluss anderer Einteilungen, einer anderen Syntax auflösen […]; mit einem Wort, ins Unübersetzbare hinabsteigen […].“1 Und das bei einem japanischen Autor, der als der westlichste von allen gilt!
Inhaltlich würde ich den Aufziehvogel einmal ganz kühn als die Kraft deuten, die die Welt in Gang hält. Im Roman sind, wie gesagt, nur bestimmte Personen in der Lage, dieses Schnarren zu vernehmen. Menschen, die ein Ohr für die Mechanik der Welt haben? Die alte Übersetzung umschifft oder verzichtet auf einige Stellen, die den Aufziehvogel als „Weltaufzieher“ beschreiben, wie zum Beispiel den folgenden Dialog zwischen Kreta Kano und dem Erzähler, der eine weitere Verschränkung des Aufziehvogel-Begriffs ins Spiel bringt, nämlich die des Erzählers als Aufziehvogel:
„Wie müsste ich Sie nennen, wenn Sie Ihren Namen verloren hätten, Herr Okada?"
„Aufziehvogel“, sagte ich. Zumindest hatte ich einen neuen Namen.
„Herr Aufziehvogel“, sagte sie. Der Name schwebte kurz im Raum. „Das ist ein wunderbarer Name, aber gibt es diesen Vogel überhaupt?“
„Ja, er existiert. Leider weiß ich nicht, wie er aussieht. Ich habe ihn immer nur gehört. Er sitzt auf einem Baum irgendwo hier in der Gegend und zieht von Zeit zu Zeit die Feder der Welt auf. Dabei entsteht ein Schnarren. Tut er das nicht, bleibt die Welt stehen. Aber das weiß niemand. Die Menschheit glaubt, es wäre irgendein riesiger komplizierter Mechanismus, der die Welt bewegt. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit fliegt der Aufziehvogel von hier nach dort und sorgt dafür, dass sie sich dreht, indem er überall ihre kleinen Federn aufzieht. Es sind ganz einfache Federn, wie man sie von Aufziehspielzeug kennt. Aber nur ein Aufziehvogel kann sie sehen.“
„Sie sind also Herr Aufziehvogel“, sagte sie. „Der Vogel, der die Welt aufzieht.“ Ich hob das Gesicht und sah mich um. Ich befand mich in dem vertrauten Schlafzimmer, indem ich seit ungefähr fünf Jahren schlief. Dennoch erschien es mir seltsam leer und groß. „Aber leider weiß ich nicht, wo die Federn zu finden sind. Und auch nicht, wie sie aussehen.2
Warum eine Neuübersetzung?
Kürzungen
Haruki Murakamis Romantrilogie Die Chroniken des Aufziehvogels, wie sie in der Neuübersetzung heißt, stammt aus den Jahren 1994/1995. Die japanische Ausgabe erschien in drei Bänden: 1. 泥棒かささぎ (Die diebische Elster), 2. 予言する鳥 (Vogel als Prophet) und 3. 鳥刺し男 (Der Vogelfänger) – also alle mit musikalischem Bezug. Die Ouvertüre zu Rossinis Die diebische Elster3, ein unbeschwerter Komödienstoff, deutet zunächst auf heitere Verwicklungen hin, die jedoch – wie in der Oper – bald eine gefährliche Wendung nehmen. Weitere musikalische Hinweise gibt das Stück Vogel als Prophet von Robert Schumann4, denn auch Prophezeiungen spielen eine entscheidende Rolle im Roman. Mozarts Zauberflöte5, zu deren Handlung sich einige Parallelen aus dem Roman herauslesen lassen – allerdings trägt Toru Okada statt einer Zauberflöte einen Baseballschläger bei sich und muss nur eine Wasserprobe bestehen – gibt inhaltliche Andeutungen. Der Aufziehvogel ist also keineswegs der einzige Vogel in Murakamis Geschichte, das Motiv durchzieht den gesamten Roman. Die diebische Elster sorgt für Missverständnisse, der Vogel als Prophet verweist auf die schicksalhaften Verflechtungen zwischen den Figuren, während Papageno scheinbar leichtfüßig den Kampf zwischen Licht und Dunkel begleitet.
In der Literatur sind Vögel häufig Sinnbild des Geistes, sie schweben über allem und besitzen deshalb einen weiten und distanzierten Überblick, stehen für den freien Flug der Gedanken oder sind Unglücksboten – diese gesamte Symbolik ist auch in Die Chroniken des Aufziehvogels enthalten. Die Identifikation des Icherzählers mit dem Aufziehvogel als Weltbetrachter und -beweger geht so weit, dass er sich an einer Stelle in ihn verwandelt.6
Die erste deutsche Übersetzung von Ditte und Giovanni Bandini, 1998 unter dem Titel Mister Aufziehvogel vom DuMont Buchverlag herausgegeben, war nach der gekürzten englischen Übertragung The Wind-up Bird Chronicle von 1997 erfolgt. Umso erfreulicher war die Entscheidung des Verlags, im Herbst 2020 eine ungekürzte Neuübersetzung aus dem Japanischen zu veröffentlichen. Über Doppelübersetzungen aus dem Japanischen über das Englische ist schon häufig und hitzig diskutiert worden.
Immer wieder amüsant, wenn auch nicht neu, der berüchtigte „Krach“ im Literarischen Quartett im Jahr 2000 zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler über Murakamis anderes aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte Buch Gefährliche Geliebte, das 2013 unter dem Originaltitel Südlich der Grenze, westlich der Sonne ebenfalls neuübersetzt wurde.
Natürlich soll und kann es hier nicht darum gehen, Versäumnisse oder dergleichen in vorherigen Übersetzungen aufzuzeigen. Unbedingt ist die „Pionierarbeit“ zu würdigen, die die amerikanischen Übersetzer bei der Entdeckung und Vermessung von „Murakamis Welt“ geleistet haben. Wer sich für dieses Thema interessiert, dem sei die im September 2020 erschienene Arbeit von David Karashima Who We‘re Reading When We’re Reading Murakami empfohlen, in der er die Rolle der Übersetzer bei „the Making of Murakami“ untersucht. Ein ganzes Kapitel ist auch Wind-up Bird Chronicle gewidmet, der gekürzten Übersetzung von Jay Rubin (*1941). Professor Rubin unterrichtete bis 2008 japanische Literatur an der Harvard University und ist unzweifelhaft eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Neben Murakami hat er auch zahlreiche andere japanische Autor∙innen ins Englische übersetzt.
Dennoch erscheint mir eine dem Kapitel vorangestellte Bemerkung Jay Rubins als ein fast unschlagbares Argument für eine Neuübersetzung. 2013 sagte er dem New Yorker: “When you read Haruki Murakami, you’re reading me, at least ninety-five per cent of the time.”
Natürlich sollte man die eigene Übersetzerleistung niemals schmälern, aber fünfundneunzig Prozent sind natürlich sehr viel. Berücksichtigt man zusätzlich den Anteil der deutschen Übersetzer∙innen bei ihrer Übertragung aus dem Englischen, stellt sich naturgemäß die Frage, wie viel von Murakamis Original im Mister Aufziehvogel von 1998 übrig geblieben ist. Andererseits finde ich dennoch, dass auch die alte Übersetzung den Anspruch des Autors größtenteils transportiert. Dennoch war angesichts der besonderen Umstände der ersten Übertragung eine Neuübersetzung mehr als sinnvoll, und wir können den Leser∙innen nun, wie ich hoffe, einen etwas höherprozentigen Murakami anbieten.
In diesem Zusammenhang hat mich von Anfang eine Frage besonders beschäftigt: Warum wurde Haruki Murakamis Roman Nejimaki-dori kuronikuru („Aufziehvogel-Chronik“) in der amerikanischen Übersetzung eigentlich gekürzt? Und warum hat der Autor einem so einschneidenden Eingriff in sein Werk zugestimmt? Herausgefunden habe ich nur, dass der Verlag Alfred Knopf das Buch schlicht zu lang fand. Murakami selbst hat in einem Interview mit David Karashima am 24. Januar 2018 geäußert: „Back then [1996] I had just become a Knopf author so I couldn‘t say much. When they said it was too long I told myself it couldn’t be helped.”7 Beim Übersetzen wurde mir sehr schnell und deutlich bewusst, dass es dabei nicht um die Ersparnis von Zeit oder Arbeit gegangen sein konnte. Denn es muss eine enorm komplizierte und zeitraubende Aufgabe gewesen sein, den logischen Aufbau und inneren Zusammenhalt der Geschichte ungeachtet der Kürzungen zu bewahren. Ich kann den amerikanischen Übersetzer, der dies zu Wege gebracht hat, nur bewundern. Wieviel einfacher hatte ich es doch, da ich alles von der ersten bis zur letzten Seite übersetzen durfte! Durch den Wegfall ganzer Kapitel musste immer wieder in die Handlung eingegriffen werden, ein Unterfangen, das zweifellos einen erheblichen – genau gesagt enormen – Mehraufwand für den Übersetzer bedeutete. Zusätzlich bestand das große Risiko, das komplizierte Handlungsgerüst ins Wanken zu bringen. Besonders stark wirkt sich das Fehlen des letzten Kapitels vom Zweiten Buch auf den Sinngehalt aus. Die alte Übersetzung endet auf Seite 385 mit Kapitel 16 („Die einfachen Dinge/Vornehme Rache/Das Ding im Gitarrenkasten“). Im Original hat das Zweite Buch und dementsprechend die neue Übersetzung jedoch 550 Seiten und 18 Kapitel.
In dem herausgekürzten Kapitel 188 geht es gleich zweimal um den leitmotivischen Brunnen. Zum einen erfahren wir durch den Icherzähler Toru Okada, dass das Haus der Miyawakis (auf deren Grundstück sich der Brunnen befindet) abgerissen wird. Zweitens hat Toru im Schwimmbad eine Vision9, durch die er erkennt, dass er nur durch den Brunnen in das geheimnisvolle Zimmer 208 gelangen kann, in dem seine Frau Kumiko – sozusagen in ihrem inneren Verließ – gefangen ist. Würde der Brunnen zerstört, könnte er Kumiko für immer verlieren. Ohne diese Kenntnis versteht der Leser eigentlich gar nicht genau, warum Toru das Anwesen später unbedingt kaufen muss: „Ich muss diesen Brunnen unter allen Umständen in die Hände bekommen.“ Außerdem fehlt durch den Wegfall von Kapitel 18 der Cliffhanger am Ende des Zweiten Buches:
„Ich lauschte mit angehaltenem Atem, um die leise Stimme zu hören, die irgendwo dort sein musste. Jenseits der Spritzgeräusche, der Musik und des Gelächters konnte ich ihren Nachhall vernehmen. Jemand suchte nach jemandem. Jemand rief nach jemandem. Mit einer Stimme, die keine Stimme war. Mit Worten, die keine Worte waren.“ (S. 550)
In der gekürzten Übersetzung beschließt er stattdessen nur lapidar„Ich konnte nicht – durfte nicht – fortlaufen […]. Ich musste Kumiko zurückholen.“ Natürlich ist der Sachverhalt nicht falsch, aber eben nur eine Paraphrase der weitaus komplexeren Beziehung zwischen dem Icherzähler und seiner Frau Kumiko. Auch die Andeutung, dass die mysteriöse Frau, die den Helden seit den ersten Seiten des Romans immer wieder telefonisch mit sexuellen Avancen belästigt, Kumiko sein könnte, wird den Leser∙innen der alten Ausgabe vorenthalten und damit der erotische Aspekt, der eindeutig eine tragende Rolle bei Kumikos Verschwinden spielt.
Stilistische Überlegungen
Es liegt in der Natur der Sache, dass die alte aus dem amerikanischen übersetzte Ausgabe Mister Aufziehvogel zahlreiche umgangssprachliche Wendungen enthält, die m. E. die Atmosphäre im Roman auf unnatürliche Weise „nach Westen“ verschieben. Der Eindruck, dass es sich hier um das Werk eines japanischen Autors handelt, wird verwischt. Eine Ausnahme sind hier die in beiden Übersetzungen – der amerikanischen und der ersten deutschen – wie ich finde, sehr gut gelungenen Briefe von Leutnant Mamiya, der ausdrücklich als ausgesprochen höflicher alter Herr geschildert wird.
Ansonsten entsteht fast der Verdacht, dass bei der Übersetzung von Haruki Murakami die Versuchung, die Welt seiner Romane ins Milieu der Zielsprache zu übertragen, besonders nahe liegt. Vielleicht gilt Haruki Murakami durch seine Nähe zur amerikanischen Literatur – er hat bisher weit über siebzig Werke ins Japanische übersetzt –, seine Beziehung zum Jazz und nicht zuletzt wegen der Anekdote, dass er sich bei einem Baseballspiel plötzlich entschieden habe, Schriftsteller zu werden, mitunter als eine Art Ehrenamerikaner? Übrigens kann ich zu diesem Thema selbst eine Anekdote beisteuern: Vor etwa zwei Jahren bekam ich neue Nachbarn, ein Paar um die vierzig. Bei einem Gespräch im Treppenhaus stellte sich heraus, dass er ein „totaler“ und sie ein gemäßigter Murakami-Fan sei. Überrascht und auch erfreut nahmen die beiden zur Kenntnis, dass sie neben der deutschen Übersetzerin des Autors wohnten, die sie allerdings nur mit Mühe und unter Herbeischaffung von Beweisen davon überzeugen konnte, dass Murakami nicht auf Englisch schreibt. Dieser Eindruck – ein Freund erzählte mir von einem ähnlichen Erlebnis in einem Antiquariat – ergibt sich ganz sicher auch aus den wunderbar lässigen und lesbaren Übersetzungen der amerikanischen Kollegen.
Folgende drei repräsentative Beispiele belegen, wie die amerikanische Vorlage die Stimmung in der ersten deutschen Übersetzung Mister Aufziehvogel beeinflusst.
1. Kreta Kano, eine Figur, die stets im Stil der 1960er-Jahre gekleidet ist, taucht in zierlichen hochhackigen Schühchen bei Toru auf:
Alt: „Ich hätte ihr beinahe dazu gratuliert, dass sie es auf den Dingern bis hierhergeschafft hatte.“ (S. 97)10
Neu: „Ich staunte, dass sie es darin überhaupt bis hierher geschafft hatte.“ (S. 129)2. Die bereits erwähnte „Telefonfrau“ begrüßt den Icherzähler:
Alt: „Na, Süßer, lange nicht miteinander geplaudert.“ (S. 149)11
Neu: „Hallo, lange nichts von dir gehört.“ (S. 197)3. Bemüht wirkt an vielen Stellen die Sprache der sechzehnjährigen May Kasahara:
Alt: „Sie können sich ja nicht einfach bei einem ganz normalen Friseur in den Sessel fläzen und sich die Perücke vom Kopf rupfen.“ (S. 128)
Neu: „Die können ja nicht zu einem normalen Friseur gehen, sich vor den Spiegel setzen, das Toupet abnehmen und sagen: Nachschneiden, bitte.“ (S. 169)
Für sich genommen scheinen einzelne Beispiele wie diese keine große Rolle zu spielen, insgesamt verändert eine Häufung solcher Stellen den Ton des Textes jedoch ganz erheblich.
Der historische Hintergrund
Spannend und raffiniert an die Gegenwart geknüpft sind die Teile des Romans, die in Mandschukuo, an der mandschurisch-mongolischen Grenze und im sibirischen Kriegsgefangenenlager spielen. Sie sind die zweite Haupterzählung von Die Chroniken des Aufziehvogels, die sich lange vor Toru Okadas Geburt ereignet hat. Berichtet werden ihm die Geschehnisse im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg (1937-1945) von Leutnant Mamiya, der 1939 in der blutigen Schlacht von Nomonhan gekämpft hat. Mamiya hat Schreckliches erlebt. Seine Leiden beginnen mit einer geheimen Mission in die von der Sowjetunion kontrollierte Äußere Mongolei. Dort wird er Zeuge, wie sein Expeditionsleiter auf Befehl eines sowjetischen Offiziers bei lebendigem Leib von einem Mongolen gehäutet wird. Unter Übersetzer∙innen ist diese Stelle berüchtigt, da Murakami diesen Vorgang in plastischer und grausamer Deutlichkeit schildert. Meine Kolleginnen Anna Elliot und Mette Holm, die die Aufziehvogel-Chroniken schon vor einiger Zeit ins Polnische bzw. Dänische übersetzt hatten, waren voller Mitgefühl, dass ich diese Aufgabe noch vor mir hatte. Anna erzählte, ihr Mann habe die ganze Zeit bei ihr im Zimmer sitzen müssen, während sie an der Häutungsszene arbeitete.
„Erbschaft der Schuld“
Murakamis Roman Die Chroniken des Aufziehvogels ist insofern bemerkenswert, als er in Widerspruch zu Japans „Kulturtechnik des Vergessens“12 steht und auf Japans bewusste Verdrängung dieser Periode der Geschichte verweist. Indem er die Realität des Krieges anhand fiktiver Schicksale neu darstellt, macht er die in Japan noch immer höchst umstrittene Aussage, dass die Geschehnisse in China überhaupt noch etwas mit den „Nachgeborenen“ zu tun haben:
Das Mal [auf meiner Wange] verband mich auch mit Zimts Großvater (Muskats Vater), der wiederum durchdie Stadt Shinkyo mit Leutnant Mamiya verbunden war, den ein Sonderauftrag an der mandschurisch-mongolischen Grenze mit dem Wahrsager Herrn Honda verband. Leutnant Mamiya und ich waren durch Brunnen miteinander verbunden. Leutnant Mamiyas Brunnen lag in der Mongolei und meiner im Garten dieses Anwesens, auf dem einst ein Offizier gelebt hatte, der Truppen in China befehligt hatte. All diese Menschen bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sich die Mandschurei, das ostasiatische Festland und die Schlacht bei Nomonhan im Jahr 1939 befanden. Aber ich konnte mir nicht erklären, warum Kumiko und ich in diese Verkettung historischer Ereignisse hineingezogen worden waren. All das war lange vor unserer Geburt geschehen. (S.798)
Hinter der historischen Erzählung steht natürlich Murakamis Absicht, Stimmen aus Japans Vergangenheit zu beschwören und diese aus der Perspektive des Einzelnen zu beleuchten. Diese Technik, Zeugen aufzurufen, gehört zu Murakamis typischem literarischem Handwerkszeug. Und nicht immer sind es fiktive Zeugen. So bemüht er sich in seinem Buch Untergrundkrieg. Der Anschlag auf Tokyo durch Interviews mit Mitgliedern und Opfern der Aum-Sekte ein vielschichtiges Bild der Ereignisse um den Saringas-Anschlag in der Tokioter U-Bahn zu zeichnen. Im Mittelpunkt seiner historischen Versuchsanordnung in Die Chroniken des Aufziehvogels stehen – wie auch in seinem neuesten Roman Die Ermordung des Commendatore, in dem er das Massaker von Nanjing von 1937 thematisiert – bestimmte Fragen: Wer hat das getan? Das Militär, die Sektenführer oder einzelne Soldaten und Mitglieder? Wie verantwortlich sind Individuen innerhalb eines Systems?
Während der Übersetzung faszinierten mich die historischen Hintergründe. Nicht zuletzt wegen der Erbschaft der Schuld13, so der Titel des erhellenden Buches von Ian Buruma mit dem Untertitel Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. Durch die Recherchen zu Die Chroniken des Aufziehvogels ergab sich für mich eine neue Beschäftigung mit dem Thema der Eroberung der Mandschurei und der japanischen Vergangenheitsbewältigung. Ich erfuhr Dinge, die mir vorher unbekannt waren, und finde, ein kurzer Einblick in meine Recherchen zu diesem Komplex könnte interessant sein.
Natürlich ist jedem, der den Film Der letzte Kaiser von Bernardo Bertolucci gesehen hat, zumindest in Umrissen bekannt, wo Mandschukuo war, aber vielleicht nicht seine Entstehung und der ideologische Hintergrund, der dazu geführt hat.
Was war Mandschukuo?
Die Gründung Mandschukuos im Jahre 1932 resultierte aus dem kolonialen Interesse Japans an den Rohstoffen der chinesischen Mandschurei, gestützt und verbrämt durch die Utopie von einem neuen „panasiatischen“ Staat. Dreiundzwanzig Länder erkannten Mandschukuo völkerrechtlich oder diplomatisch an, darunter das Deutsche Reich ab 1938.
Wie kam es zu dieser Gründung? Das japanische Kaiserreich hatte seit seinem Sieg über Russland 1905 die Transmandschurische Eisenbahnlinie von Harbin nach Port Arthur übernommen und die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft gegründet. In der Mandschurei wurde der Streckenverlauf nun von der japanischen Kwantung-Armee geschützt. Doch bereits in den 1920er-Jahren war das Schicksal der gepachteten chinesischen Gebiete ungewiss. So inszenierten japanische Militärs der Kwantung-Armee am 18. September 1931 u. a, auf Betreiben von Kanji Ishiwara (1889-1949) den sogenannten Mukden-Zwischenfall, einen Sprengstoffanschlag auf die Südmandschurische Eisenbahn, für den man die Chinesen verantwortlich machte und der als Vorwand für die weitere Eroberung Nordostchinas diente. Kanji Ishiwara ist übrigens die einzige eindeutig historisch identifizierbare Figur in Die Chroniken des Aufziehvogels. Murakami fügt hier eine Episode ein, nach der der Onkel des Politikers Noboru Wataya – Schwager und gefährlicher Widersacher des Icherzählers – Ishiwara persönlich kannte. Damit schafft er eine weitere Verbindung zwischen vergangenem Krieg und gegenwärtigem Frieden.
Über einen Bekannten in Mukden lernte er einen gewissen Kanji Ishiwara kennen, mit dem er eine ganze Nacht durchsoff. Ishiwara war der Ansicht, dass ein mit allen Mitteln geführter Krieg gegen die Sowjetunion auf dem chinesischen Festland unvermeidlich sei und der Schlüssel einer raschen Beendigung dieses Krieges in der schnellen Industrialisierung der neuen Mandschurei und dem Aufbau einer autarken Wirtschaft liege. Seine Gedanken waren klar, aber schwärmerisch. Für den systematischen Aufbau einer erfolgreichen Landwirtschaft und Viehzucht in Mandschukuo sei es von größter Bedeutung, dort japanische Bauern anzusiedeln. Ishiwara vertrat die Meinung, Japan solle die Mandschurei nicht zu einer offenen japanischen Kolonie machen wie Taiwan oder Korea, sondern zu einem Modellstaat in der Großasiatischen Wohlstandsphäre. Bewundernswert realistisch war jedoch seine Erkenntnis, dass die Mandschurei Japans logistische Basis für einen Krieg gegen die Sowjetunion und sogar gegen die USA und England sei. Er war überzeugt, dass Japan als einzige asiatische Nation in der Lage wäre, den bevorstehenden Krieg gegen den Westen (den „letzten Krieg“, wie er ihn nannte) zu führen und dass die anderen asiatischen Länder die Pflicht hätten, mit Japan zu kollaborieren, um sich von der Dominanz des Westens zu befreien. In der Kaiserlichen Armee gab es keinen Offizier, der ein so starkes Interesse an Fragen der Versorgung und des Nachschubs und eine so profunde Einsicht in diese Problematik hatte wie Ishiwara. Viele japanische Offiziere taten die Sorge um Nachschub als „weibisch“ ab. Der wahre „Weg eines Soldaten Seiner Majestät“ war es, auch ohne ausreichende Mittel aufopferungsvoll und tapfer zu kämpfen. Für sie bestand wahres Heldentum darin, mächtige Gegner in Unterzahl und schlechter Ausrüstung zu besiegen. Es galt als besonders ehrenhaft, „so schnell vorzurücken, dass der Nachschub nicht mitkommt“. Für einen intelligenten Technokraten wie Noboru Watayas Onkel war das völliger Unsinn. Einen Krieg ohne logistische Planung zu beginnen, war nichts anderes als Selbstmord. Die Sowjetunion hatte ihre militärische Schlagkraft durch die Modernisierung im Zuge von Stalins Fünfjahresplan phänomenal gesteigert. Die blutigen Jahre des Ersten Weltkriegs hatten die Werte der Alten Welt zerstört, und der europäische Begriff von strategischer Kriegsführung und Logistik hatte sich entscheidend verändert. Noboru Watayas Onkel, der zwei Jahre als Militärattaché in Berlin tätig gewesen war, wusste das nur zu gut, doch ein Großteil der japanischen Militärs war noch immer berauscht von der Erinnerung an den Sieg im russisch-japanischen Krieg von 1905. (S. 795 f.)
Ishiwara war offenbar ein charismatischer Mann, der mit Mandschukuo ein multiethnisches politisches Experiment unter der Devise „Harmonie der fünf Rassen“ durchführen wollte, natürlich unter der Vorherrschaft des überlegenen Japans.
Dieses Plakat von 1935 beschwört die Zusammengehörigkeit von Japanern, Chinesen und Mandschuren: „Mit Hilfe Japans, Chinas und Mandschukuos erlangt die Welt Frieden.“ Die Person auf der rechten Seite repräsentiert China und schwingt die Flagge der „Einheit der fünf Völker“ (Mandschuren, Han-Chinesen, Mongolen, Japaner und Koreaner)
Diese Postkarte aus den 1930er-Jahre mit den zwei jungen Frauen – die Chinesin im Qipao und die Japanerin im Kimono – wirbt für die gleiche Idee. Einband von Annika A.Culver/Norman Smith (Hg.), Manchukuo Perspektives. Transnational Approaches to Literary Production, Hongkong University Press 2019, nach einer Mandschukuo-Postkarte aus den 1930er-Jahren, im persönlichen Besitz von Norman Smith.
In Kanji Ishiwaras Vision stand der Welt ein „kultureller Endkampf“ zwischen Amerika und Asien bevor, in dem seiner Vorstellung nach Asien obsiegen müsste. Damit sei es die Pflicht jedes asiatischen Landes, Japan in dieser Mission zu unterstützen. Die Dokumentation Ishiwara Kanji, der General, der Japan in den Zweiten Weltkrieg führte schildert die Rolle, die dieser bei dem Überfall auf die Mandschurei 1931 spielte.
Anfang des Jahres 1932 rief Japan Mandschukuo als unabhängigen Staat aus und setzte den „letzten Kaiser“ Puyi als dessen Oberhaupt ein.
Die Schlacht von Nomonhan, in der Leutnant Mamiya einen Arm verliert, war ein japanisch-sowjetischer Grenzkonflikt, bei dem Japan 1938 versuchte, sein Territorium in Mandschukuo zu erweitern, aber katastrophal und blutig scheiterte.
Übersetzung und Politik
Ein vielschichtiger Aspekt bei der Neuübersetzung Die Chroniken des Aufziehvogels war der Subtext, die unterschwellige Perspektive, die die Schilderungen des Kriegsgeschehens bestimmt. Schon bei der Neuübersetzung von Südlich der Grenze, westlich der Sonne hatte sich an einzelnen Stellen gezeigt, dass es dem amerikanischen Übersetzer nicht ganz leicht gefallen war, den japanischen Umgang mit dieser Zeit zu respektieren, die eigene Konditionierung hinter sich zu lassen. Beispielsweise machte sich dies an der Verwendung des Wortes „Kapitulation“ fest, das in Japan im Allgemeinen kaum gebraucht wird, man spricht entweder von „Niederlage“ (haisen) oder wie Haruki Murakami in Südlich der Grenze, westlich der Sonne von „Kriegsende“ (shusen), keine große Sache, aber dennoch bezeichnend.
Zahlreiche Denkanstöße verdanke ich in diesem Zusammenhang Olaf Kühls Aufsatz „Schreibst du noch oder übersetzt du schon?“.14 Kühl spricht darin von einer subtilen „Art von Kulturkolonialismus, der bis in die Literatur hineinreicht“.15 „Im Original ist jedes Wort, jeder Satz in seiner Lebenswelt eingenistet, einem Gespinst von Traditionen, Beziehungen, Zitaten, früheren Gebräuchen. Jedes einzelne Wort ist immer schon Zitat in dem Sinne, dass es unzählige Male zuvor verwendet worden ist, gebraucht und missbraucht, mündlich und schriftlich. Nach der Transplantation […] sind viele dieser Verbindungen abgerissen. Der ganze Text und jeder seiner Bestandteile befinden sich zwar noch im trügerischen Kokon des alten Kontextes – des Satzes, des Absatzes, des Werks, der Gattung. Zugleich sind sie aber im neuen Milieu der Zielsprache angekommen – in neuen ‚Lebenswelten‘. In der neuen Umgebung strecken sie die Fühler aus und stellen fest, dass sie dort ganz andere Assoziationen als in der Herkunftskultur hervorrufen.“16
Auch Übersetzer∙innen kennen – um es mit den Worten von Olaf Kühl zu sagen – ihr „Unbewusstes nicht“ und tragen „dadurch zwangsläufig“ ihre eigenen Projektionen in die Deutung hinein. „Genau das ist ja der Grund, aus dem Übersetzungen viel rascher altern als Originale – weil sie Deutungen sind.“17
Es ist gar nicht so leicht, Leutnant Mamiyas melancholische und stets achtungsvolle Ausdrucksweise wiederzugeben. Sehr häufig ist das in der alten Übersetzung gut gelungen. Nur hin und wieder schwingt etwas Süffisantes oder Abfälliges mit, das nicht zur Leutnant Mamiyas Perspektive passt. Er hätte beispielsweise nicht gesagt, dass die Kwantung-Armee „sich einen schönen Lenz"18 machte. Auch Begriffe wie „Marionettenstaat“ oder „Kanonenfutter“ hätte er nicht verwendet. Beides sind anachronistische Interpretationen, die nicht dem entsprechen, was die Figur ausdrücken soll.
Die größte Stadt der Mandschurei war Changchun, heute die Hauptstadt der Provinz Jilin mit fast acht Millionen Einwohnern. Als Hauptstadt von Mandschukuo wurde sie von den Japanern in Shinkyo umbenannt. In Mister Aufziehvogel wird basierend auf der amerikanischen Übersetzung stets die chinesische Lesung Hsin-ching verwendet. Allerdings hätte ein japanischer Offizier wie Leutnant Mamiya diese nicht benutzt, sondern eindeutig die japanische Aussprache Shinkyo“. Ebenso selbstverständlich, wie ein englischer Kolonialoffizier in Britisch-Indien von „Benares“ oder „Calcutta“ sprach.
1939 Daido-Allee/Datong-Allee in Shinkyo, der „neuen Hauptstadt“ von Mandschukuo
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“
Brunnen sind ein wichtiges Motiv in mehreren von Haruki Murakamis Romanen. Wie in Die Chroniken des Aufziehvogels dienen sie als Durchgang zwischen der bewussten und der unbewussten Welt, aber auch als Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Toru Okada und sein Gegner Noboru Wataya erkennen beide die Bedeutung, die der ausgetrocknete Brunnen für sie hat. Er ermöglicht ihnen Zugang zu ihrem Anderen. Glücklicherweise gelingt es Toru, den Brunnen so lange in seinem Besitz zu halten, bis er Kumiko aus dem ominösen Zimmer 208 befreit hat. Doch gerät er dabei in Lebensgefahr.
Das Wasser reichte mir bis zum Hals. Legte sich um ihn wie eine Schlinge. In Erwartung meines Ertrinkungstodes konnte ich schon jetzt kaum noch atmen. Mein Herz, nun unter Wasser, schlug mit unvermindertem Eifer meinem Ende entgegen. Wenn das Wasser weiter so stieg, würde es noch etwa fünf Minuten dauern, bis es meinen Mund und meine Nase bedeckte und schließlich meine Lunge füllte. Ich hatte verloren. Ich hatte diesen Brunnen zu neuem Leben erweckt und starb durch seine Wiedergeburt. Eigentlich gar kein so schlechter Tod, sagte ich mir. Es gab weitaus schlimmere Tode auf der Welt. (S. 966)
Leutnant Mamiya, der Held des historischen Erzählstrangs, kommt ebenfalls fast in einem Brunnen in der Steppe ums Leben, in den er von mongolischen Soldaten geworfen wird. Er ist sozusagen ein historischer Vorläufer von Toru, der in der Gegenwart in der gleichen Lage ist. Beide Männer stoßen in einem Brunnen auf ihr Schicksal. Erneut begegnen sich auf diese Weise Vergangenheit und Gegenwart.
Während der Übersetzung musste ich immer wieder an das berühmte als „Höllenfahrt“ überschriebene Vorspiel in Thomas Manns Joseph und seine Brüder denken, in dem die Metapher des Brunnens auf eine Erkenntnis weist, die auch eine der Kernaussagen von Murakamis Roman ist: Die Unergründlichkeit der Vergangenheit, die „je tiefer man schürft“ sich als „gänzlich unerlotbar“ erweist. So scheint mir das folgende Zitat ein geeignetes Schlusswort zu sein.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht […] Da denn nun gerade geschieht es, daß, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen. Zutreffend aber heißt es hier ‚wieder und weiter‘; denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel: es bietet ihr Scheininhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstenjäger ergeht, der des Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse, die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.“19
Leseprobe
Die deutsche Übersetzung
An einem Nachmittag Mitte Oktober, als ich im Schwimmbad meine Bahnen zog, hatte ich so etwas wie eine Vision. Wie immer spielte im Hintergrund Musik, in dem Moment ein alter Sinatra-Titel, »Dream« oder »Little Girl Blue«. Den Song nur halb im Ohr, durchschwamm ich langsam das 25-Meter-Becken. In dem Moment hatte ich die Vision. Oder vielleicht war es auch eine Art Offenbarung. Unversehens war ich nicht mehr im Becken des städtischen Schwimmbads, sondern in einem riesigen Brunnen. Das Wasser, das mich umgab, war schaumig-schwer und warm. Sein Rauschen klang seltsam, ganz anders als sonst. Ich war allein. Statt zu schwimmen, ließ ich mich ruhig auf dem Wasser treiben und blickte nach oben. Das Wasser trug mich mühelos. Alles lag in tiefer Dunkelheit, und nur die wie säuberlich ausgeschnittene Wölbung des Himmels zeichnete sich über mir ab. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. In dem Brunnen zu treiben, erschien mir ganz natürlich. Eher erstaunte mich, dass mir bisher noch nicht aufgefallen war, dass das Stadtbad ein Brunnen war. Es war einer der vielen Brunnen auf der Welt, und ich war eins meiner vielen Ichs auf der Welt. An dem Himmelsgewölbe funkelten zahllose Sterne; es sah aus, als wäre das Weltall in winzige Splitter zerstoben. Still durchstachen die spitzen Lichtkegel der Sterne die Lagen der Dunkelheit. Im Rauschen des Windes, der über den Brunnen strich, vernahm ich ein Rufen. Jemand rief nach jemandem. Ich hatte dieses Rufen vor sehr langer Zeit schon einmal irgendwo gehört. Ich wollte antworten, brachte aber keinen Ton zustande. Vielleicht konnte meine Stimme die Luft in dieser Welt nicht in Schwingung versetzen. Der Brunnen war außerordentlich tief. Als ich zu seiner Öffnung hinaufsah, hatte ich plötzlich den Eindruck, alles stünde auf dem Kopf und ich würde von einem hohen Schornstein in die Tiefe blicken. Schon lange hatte ich mich nicht so entspannt und friedvoll gefühlt. Ruhig streckte ich meine Glieder im Wasser aus und atmete einige Male tief durch. Mein Körper erwärmte sich von innen und fühlte sich sehr leicht an, wie sanft von unten gestützt. Das Wasser umhüllte, schützte und wiegte mich. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als die Morgendämmerung einsetzte. Zartviolette Lichtstreifen erschienen an den Rändern der Wölbung, wechselten die Farbe, wurden breiter, während die Sterne ihren Glanz verloren. Einige besonders helle hielten sich noch eine Zeit lang am Himmel, doch schließlich verblassten auch sie und verschwanden. Ich lag auf dem Rücken, das dichte Wasser trug mich. Ich schaute in die Sonne, aber sie blendete mich nicht. Irgendetwas schützte meine Augen wie eine dunkle Brille vor ihrem grellen Licht. Als die Sonne gleich darauf fast senkrecht über dem Brunnen stand, kam es zu einer leichten, aber deutlichen Veränderung an dem riesigen Ball. Die Achse der Zeit schien zu erschaudern. Gespannt beobachtete ich, was als Nächstes geschehen würde. Es dauerte nicht lange, und am rechten Rand der Sonne erschien ein schwarzer Fleck. Wie ein Muttermal. Der zunächst kleine Fleck vergrößerte sich und verdunkelte allmählich das Licht der Sonne, wie eben noch die Morgenröte das Dunkel der Nacht verdrängt hatte. Eine Sonnenfinsternis, dachte ich. Ich wurde Zeuge einer Sonnenfinsternis. Die jedoch genau genommen keine richtige Sonnenfinsternis war. Denn als die Sonne erst ungefähr zur Hälfte verdeckt war, breitete der Fleck sich plötzlich nicht weiter aus. Auch hatte er nicht die scharfen Umrisse, die man bei einer normalen Sonnenfinsternis sieht. Eigentlich lag hier nur eine scheinbare Sonnenfinsternis vor. Wie hätte ich dieses Phänomen sonst bezeichnen sollen? Ich kniff die Augen zusammen und versuchte dem Fleck einen Sinn zu entringen wie bei einem Rorschach-Test. Der Fleck war nicht ganz formlos, aber eine richtige Form hatte er auch nicht. Er war etwas, zugleich war er aber auch nichts. Vor lauter Starren verlor ich allmählich das Vertrauen in meine Existenz. Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet und mein Herzschlag sich beruhigt hatte, bewegte ich langsam die Finger in dem schweren Wasser und vergewisserte mich meiner selbst. Kein Zweifel, es war alles in Ordnung. Es gab mich. Ich war hier. In der Dunkelheit. Ich war im städtischen Schwimmbad, aber es war ein Brunnen, und ich wurde Zeuge einer Sonnenfinsternis, die keine war. Als ich die Augen schloss, hörte ich gedämpfte Geräusche. Anfangs waren sie schwach, an der Grenze zur Hörbarkeit, undeutlich, wie menschliche Stimmen auf der anderen Seite einer Wand. Bald jedoch gewannen sie an Kontur, wie wenn man bei einem Radio die Wellenlänge einstellte. »Gute Nachrichten tun sich leise kund«, hatte die Frau, die einmal Kreta Kano gewesen war, gesagt. Ich konzentrierte mich, lauschte, versuchte etwas zu verstehen.
Aus: Haruki Murakami, Die Chroniken des Aufziehvogels. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, S. 543-545
Die japanische Originalausgabe erschien 1994 und 1995 unter dem Titel "Nejimaki-dori kuronikuru" bei Shinchosha Ltd., Tokio
© 1994, 1995 Haruki Murakami
© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Das japanische Original
Aus: Nejimaki-dori kuronikuru, Bd.2, Yogensuru tori hen (japanisch) gebunden, 12. April, 1994
von Haruki Murakami; ISBN-10:4103534044, ISBN-13:978-4103534044; Hardcover: 356 Seiten; Verlag: Shinchosha (12. April 1994); S. 347-350
Der Autor
Haruki Murakami, geb. 1949 in Kyoto. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaften an der Tokioter Waseda-Universität. 1978 schrieb er seinen ersten Roman Wenn der Wind singt, für den er den Nachwuchspreis der Literaturzeitschrift Gunzō erhielt. Weitere Kurzgeschichten und Romane folgten. In den 1980er- und 90er-Jahren unternahm Murakami ausgedehnte Reisen in Europa und den USA. Naokos Lächeln machte ihn zunächst in Japan, später auch international zum Bestsellerautor. Dennoch steht die japanische Literaturkritik ihm auch heute noch skeptisch gegenüber. Er ist Übersetzer von über siebzig Werken aus dem Englischen ins Japanische, u.a. von Fitzgerald, Salinger, Theroux, Irving, Truman, Capote. Er hielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt 2016 den dänischen Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis.