Journale Prosa Über die Kinetik von Namen, Körpern und Kulturen 1

Über die Kinetik von Namen, Körpern und Kulturen 1

Ein dynamisches Journal zur Übersetzung des Romans Die Legende der Adlerkrieger von Jin Yong

Zur Einführung: Dynamik der Poesie I - Eine bewegliche Gedichtzeile
Dynamische Namen I: Der Titel
Dynamische Namen II: Der Autor
Dynamische Zeiten I: Jin Yong - eine politische Biographie
Dynamische Namen III: Editionsgeschichte
Dynamische Helden I: Die Handlung
Dynamische Namen IV: Die Protagonist·innen
Dynamische Zeiten II: Die Song-Zeit
Dynamische Helden II: Was ist Kungfu-Literatur?
Dynamische Namen V: Kampfkunsttechniken
Zum Schluss: Dynamik der Poesie I - Der Dialog zwischen Romanhandlung und Gedicht

Kinetik (Physik)

Kinetik [griechisch, zu kineῖn, »bewegen«] die, -,  Physik: Teilgebiet der klassischen Mechanik; die Lehre von den Bewegungen der Körper unter dem Einfluss innerer oder äußerer Kräfte; sie ist daher bedeutungsgleich mit der »Dynamik materieller Körper«.1

Wie übersetzt man Bewegung? Jeder Übersetzer und jede Übersetzerin ist schon einmal vom Schreibtisch aufgesprungen, um sich durch aktive Nachahmung eine Geste oder eine Handlung aus dem Original zu verdeutlichen, die er oder sie nicht unmittelbar versteht. Was machen die da genau? Wie sagt man dafür noch gleich auf Deutsch? Das Genre der Kampfkunst-Literatur (siehe Dynamische Helden II - Was ist Kungfu Literatur?) lebt per se von Dynamik, vor allem lebt es von den Bildern, die der moderne Leser und die moderne Leserin aus Filmen wie Crouching Tiger, Hidden Dragon, Hero oder Enter The Dragon im Kopf hat: Ausgesprochen gelenkige Figuren, die scheinbar mühelos durch die Luft fliegen und mit unglaublicher Schnelligkeit und Eleganz Fäuste wirbeln und Füße treten lassen.Tatsächlich drängt die Handlung in Jin Yongs Epos Die Legende der Adlerkrieger von einem Kampf zum nächsten und die Übersetzerin hechtet hinterher und kommt kaum zum Luftholen, während sie sich ständig neue Namen für Jin Yongs fantastische Palette von Kampftechniken ausdenken muss, Bewegungen nachstellt und sich den Kopf darüber zerbricht, wie und ob sie gewisse logische Schwächen und Langsamkeiten des Originals in der Beschreibung ausbügeln sollte. Die Helden sind längst schon wieder unterwegs zum nächsten Kampf, während die Übersetzerin den letzten noch nicht ausgefochten hat.

Dynamik prägt diesen Roman aber nicht nur in den Kampfhandlungen. Das Spiel mit der Bewegung unter dem Einfluss innerer und äußerer Kräfte wird in der Adlerkrieger-Saga vom Autor vom kleinsten Detail eines wandelbaren Schriftzeichens bis zu den großen politischen Umwälzungen durchexerziert. Das beginnt bei Jin Yongs Sprache, einer ständig zwischen traditioneller, rhythmisch verknappter Schriftsprache und moderner Umgangssprache oszillierenden Kunstsprache. Und nicht zuletzt haben wir es mit einem Reise- und Bildungsroman zu tun – Buch Eins der Saga handelt von einem, der auszog und vom unbedarften Kind zu einem trotzigen Helden wird und zwischen mehreren Reichen agiert, deren Grenzen sich verschieben und deren Schicksale fragil sind. Historisch bewegt ist der Hintergrund der Geschichte sowieso (siehe Dynamische Zeiten – Die Song-Dynastie). Der Roman wandert vorwärts und blickt zurück, erstreckt sich über ein Jahrhundert chinesischer Geschichte von der späten Südlichen Songzeit bis zur Eroberung Chinas durch Dschingis Khan; ersetzte man bestimmte Namen, ist die Geschichte leicht als Allegorie auf Chinas bewegte Geschichte im 20. Jahrhundert zu lesen.

Bewegung läuft hier, ganz wie in der Kampfkunst, aber nicht nur vorwärts und rückwärts, sondern auch von innen nach außen: inneres Kungfu bedingt äußeres Kungfu; die Zeilen eines berühmten Gedichts werden Handlungsträger und die Handlung wird Gedicht; und nicht zuletzt sorgt die bibliographische Entstehungsgeschichte des Texts für zusätzliche dynamische Spannung (siehe Dynamische Namen III – Editionsgeschichte). Namen sind in diesem Roman an keiner Stelle Schall und Rauch, sie sprechen für sich, erzählen von Biographien, Beziehungen oder Fähigkeiten. Die Adlerkrieger sind ein ausgesprochener Begriffsroman: Namen, Beinamen, Kindsnamen, Ehrennamen, Ordensnamen für Personen; mongolische, naimanische, tibetische, mandschurische Namen; unzählige Namen für existierende oder (und das sind die meisten) vom Autor erfundene Namen für Kungfu-Bewegungen, Ortsnamen in ihrer chinesischen, mongolischen, mandschurischen, historischen und gegenwärtigen Bezeichnung; Bezeichnungen für Waffen, Kleidung, Beziehungen … Abgesehen von endlosen Recherchen und kreativer Namensfindung stellt sich immer wieder neu die Frage : Übersetzen oder nicht?

Dieses Journal soll einladen, munter durch den Wald der Kampfkunst, vom dreizehnten Jahrhundert in das zwanzigste, vom wasserreichen Süden in den kargen Norden, durch die Bedeutungsebenen einzelner Schriftzeichen und nicht zuletzt von der Recherche zur fertigen Übersetzung zu springen.

Zur Einführung: Dynamik der Poesie I - Eine bewegliche Gedichtzeile

Ein grandioses Beispiel, in dem die inhaltliche Wandlung parallel zu einer sogar für die des Chinesischen nicht mächtigen Leser∙innen offensichtlichen optischen Wandlung verläuft, bietet einer der großen Dichter der Tang-Zeit, Wang Wei (699?-759?). Sein Gedicht Magnolienwand (Xinyi wu辛夷塢) beginnt mit der Zeile:

木  末  芙 蓉  花

Mu mo furong hua

Zweig Ende Hibiskus Blüte

Sehen Sie einmal genauer hin.

Chinesische Schriftzeichen sind keine Bilder. Höchstens zehn Prozent der Schriftzeichen gehen zwar auf Piktogramme zurück, die aber selbst oft abstrakt sind (z.B. drei wellenförmige Linien als „Wasser“). Schriftzeichen, chinesisch hanzi漢字 bestehen aus Strichen, langen, kurzen, geraden, schrägen. Striche bilden Elemente des Zeichens und diese können sich gegebenenfalls durch das Hinzufügen von oder durch die Verbindung mit neuen Elementen in viele Sinnrichtungen verwandeln. Ein sehr einfaches Beispiel wäre das Schriftzeichen für Holz oder Baum: 木 mu. Zweimal nebeneinander und schon wird ein Hain daraus: lin林 und drei Bäume zusammen ergeben einen Wald: sen森.  So weit, so bildlich. Das Schriftzeichen, das mu gelesen wird, bildet aber auch ein so genanntes Radikal, das Klassifizierungsmerkmal für alle Schriftzeichen, die für eine Baumgattung etc. bestehen, so z.B. im Schriftzeichen liu柳, wo fünf weitere Striche neben dem Holz daraus einen Weidenbaum machen. Die Bildung der klassischen Schriftzeichen erfolgte nach klaren, logischen Regeln. Dennoch lässt sich mit der Bildhaftigkeit der Schrift und den Bedeutungsverschiebungen durch das Hinzufügen oder Weglassen von Strichen oder Elementen mit der visuellen Ebene und ihren Folgen für die Bedeutungsebene wunderbar sprachspielen.

Wang Wei macht es meisterhaft vor:

Das Zeichen für Holz oder (hier) Zweig 木 erhält einen weiteren Strich (oben) und schon bedeutet es Ende (auch: Verneinung) 末. Im dritten Zeichen wächst darüber noch das Radikal für Gras (oder Blüte) 艹und macht es zu 芙, was zusammengesetzt mit dem nächsten Zeichen, das ebenfalls die Blüte auf dem Kopf trägt 蓉, zu 芙蓉furong, „Hibiskus“ wird, gefolgt von hua 花 (Blüte, Blume), ebenfalls vom Blütenradikal gekrönt. Aber das ist nicht der einzige dynamische Bild- und Bedeutungswandel in dieser Zeile. Das dritte Schriftzeichen enthält das Zeichen fu夫 „Mann“, welches wiederum das Zeichen ren 人 „Mensch“ enthält.  Im vierten Zeichen steckt das Gesicht rong容und im fünften Zeichen wird die Transformation selbst von der Blüte gekrönt:  hua 化 bedeutet ebenfalls „verwandeln“. Die Zeile enthält neben der sinnbildlichen, optischen Blütenwerdung ein Menschenleben, geistige Verwandlung und Verfall als Teil der Natur.

Wie übersetzen? Die Natur der Zeichen ist nicht ins Deutsche hinüberrettbar; es bleibt nur, der Dynamik der Aussage treu zu bleiben, das Subjekt ans Ende der Zeile zu stellen und das Ende als Anspielung auf die Vergänglichkeit des Lebens zu betonen, so vielleicht:

Am Ende eines Zweigs, Hibiskusblüten.

Dynamische Namen I: Der Titel

Shediao yingxiong zhuan 射鵰英雄傳  heißt dieser Roman, besser die Romanserie, im Original. Da steht: Schießen-Adler-Held-Legende. Das Chinesische kommt ohne Flexion, also auch ohne Deklination aus – wie sich die Begriffe grammatisch zueinander verhalten, erschließt sich aus der Wortstellung. Legende der Helden, die Adler schießen; etwas eleganter wäre „Legende von den adlerschießenden Helden“ (der tatsächliche deutsche Titel ist dem Verlagsmarketing geschuldet).

Chinesische Schriftzeichen sind Bedeutungseinheiten (Lexeme). Noch einmal: Der geringste Teil der 85.568 Schriftzeichen, die das umfassendste Wörterbuch chinesischer Zeichen, das Zhonghua Zihai („Chinesisches Zeichenmeer“) umfasst, geht auf Piktogramme zurück und etwa fünf- bis zehntausend davon zu kennen genügt, um die meisten Texte lesen zu können (leider merkt die Übersetzerin ständig, dass sie keineswegs genug davon und immer die Richtigen gerade nicht kennt). Nun können chinesische Schriftzeichen oft mehrere, sehr unterschiedliche Bedeutungen haben, was manchmal (nicht immer) vom Kontext und von der Kombination mit einem zweiten Schriftzeichen abhängig ist. Das liegt, kurzgefasst, an einem sprachgeschichtlichen Mangel an Zeichen im Verhältnis zu den Wörtern der gesprochenen Sprache, weshalb dasselbe Schriftzeichen mit mehreren Bedeutungen belegt wurde. Durch die im Laufe der Geschichte der chinesischen Schriftsprache zunehmende Zahl der Zeichen und ihrer Varianten ist dieser Mangel im klassischen Chinesisch wesentlich größer als im modernen Chinesisch, was das Übersetzen jeder Form von „alten“ chinesischen Texten zu einer intensiven detektivischen Recherche- und Interpretationsarbeit macht, bevor es noch an die Frage geht, wie das Ding denn nun im Deutschen zu heißen hätte.

Im Fall dieses Romantitels haben alle Schriftzeichen außer dem zweiten eine ziemlich eindeutige Übersetzung, für das Zeichen diao 鵰 jedoch finden sich in modernen und klassischen Wörterbüchern sowohl die Übersetzung Adler als auch Geier oder Uhu oder der Gattungsbegriff Raubvogel.  





Dabei handelt es sich bei diao um einen veralteten chinesischen Begriff. Im modernen Chinesisch wird für „Adler“ das Schriftzeichen ying應 verwendet. Aber auch dieses Schriftzeichen ist nicht nur mit einer Bedeutung belegt:

Ying. Adler in modernem Chinesisch. Aus: Das Neue Chinesisch-Deutsche Wörterbuch.

Zum Glück war ich nicht die erste Interpretin dieses Titels und konnte aus den vielen chinesischen Fanzines, Verfilmungen, Comics und anderen Verwertungen des Stoffs den englischen Titel Legend Of The Eagle-Shooting Heroes ablesen. Sowohl die geographische Umgebung (Mongolei) als auch der Kontext, in dem das Verhalten der Vögel beschrieben wird, legen ohnehin ziemlich schnell nahe, dass es sich um Adler handeln muss, auch wenn wir es mit einer besonderen Art des Raubvogels zu tun haben:

Jetzt hielt es Guo Jing vor Neugier nicht mehr aus. Er reichte Khojin die Hand, sprang zu ihr auf den Schimmel und sie ritten los zu der steilen Felswand, die die weite Steppe überragte. Ein gutes Dutzend pechschwarzer Adler griff das dort nistende weiße Adlerpaar an. Lautes Kreischen war zu hören und ringsum tanzten schwarze und weiße Federn in der Luft.

Dieses Paar hatte nicht nur ungewöhnlich weißes Gefieder. Diese Adler waren auch etwa dreimal so groß wie ihre Artgenossen, weshalb die älteren Mongolen sie für göttlich hielten und immer wieder einfältige junge Frauen auf Knien vor ihnen beteten. (S. 258)

Das weiße Adlerpaar wird von einem aggressiven Schwarm schwarzer Adler angegriffen. Guo Jing, der Held des ersten Buchs, vollbringt eine erste Heldentat, in dem er als Jugendlicher in der Mongolei mit einem einzigen Pfeil zwei der angreifenden schwarzen Adler im Flug abschießt – daher der Titel, der zunächst wenig nach asiatischer Kampfkunst klingt.

Guo Jing beugte ein Knie, nahm den schweren Eisenbogen in die linke Hand, legte einen Pfeil ein und spannte ihn weit. Zwei schwarze Adler zogen von links über den Himmel. Er nahm den Nacken des einen ins Visier und öffnete seine fünf Finger.

Aus dem Halbmond des gespannten Bogens schoss sein Pfeil wie ein Meteor.

Der Pfeil durchdrang den Hals des einen Adlers und blieb im Bauch des zweiten stecken. Beide Vögel stürzten mit rauschendem Gefieder vom Himmel. Das versammelte Steppenvolk spendete derart tosenden Applaus, dass der Rest der schwarzen Adler endgültig in alle Richtungen flüchtete.

Khojin flüsterte Guo Jing ins Ohr: „Leg sie meinem Vater zu Füßen.“

Guo Jing las die beiden Adler auf und präsentierte sie auf Knien dem Khan.

Wenn es eins gab, das Temüdjin beeindruckte, dann waren es die Leistungen tapferer Krieger. Man muss wissen, dass die mongolischen Steinadler keine gewöhnlichen Raubvögel waren. Ihre Flügel hatten eine Spannweite von gut drei Metern und ihre schwarzen Federn waren hart wie Eisenspäne. Schafe und Jungpferde gehörten zu ihrer Beute und es hieß, dass selbst Tiger vor ihnen auf der Hut waren. Gleich zwei davon mit nur einem Pfeil zu erlegen war eine Sensation. (S.260)

In der englischsprachigen Welt ist der Roman dennoch als Legends Of The Condor Heroes bekannt geworden.2

Wie kommt eine Übersetzung auf „Kondor“, einen Vogel, der in Asien gar nicht heimisch ist?

Eingeführt wurde der Titel Legends Of The Condor Heroes erst mit der ersten Serienverfilmung des Romans durch den Hongkonger Sender TVB 1983. Die Übersetzerin der englischen Ausgabe begründet ihre Entscheidung, es bei Condor Heroes zu belassen, damit, dass ihre Übersetzung mit den unter diesem Namen bereits bestehenden englischsprachigen Fanzines, Serien, Mangas usw. interagieren soll, um über diese Brücke neue Leser∙innen gewinnen zu können.

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Legends Of The Condor Heroes 1, TVB Hongkong 1983: https://www.youtube.com/watch?v=YdOwu2l66nc&list=PL4lu3cWsxT5ARQd-VO9R8v4Hp97GxRDWK

Condor Heroes war sicher keine schnöde Fehlübersetzung, sondern eine Entscheidung für Verfremdung, um die Fantasy-Ebene der Geschichte zu unterstreichen. Die Bezeichnung mit einer Vogelgattung aus einem fremden geographischen Kontext ist ein Versuch, auf die mythische Bedeutung dieser Vögel hinzuweisen. Erst im zweiten Band der Trilogie erfahren die Leser∙innen mehr über die Natur der „Adler“, bei denen es sich tatsächlich um fantastische Wesen handelt, die selbst Kampfkünste praktizieren und Menschen sogar die besondere Form ihres Kungfu lehren können. Während die Übersetzungen im englischen Sprachraum aufgrund des Wiedererkennungseffekts bei Condor Heroes geblieben sind, erscheint mir diese bewusste (und nicht im Original selbst angelegte) Verfremdung im Deutschen zu gewollt und unnötig. Es gehört schließlich zu den zahlreichen Spannungsmomenten der Geschichte, das Geheimnis des ungewöhnlichen Vogelpaars zu entdecken. Daher bin ich bei „Adler“ geblieben und lasse lieber die Geschichte selbst von der Bedeutung der weißen Adler für den Roman erzählen. Obwohl es, zugegeben, eine kleine Hürde sein könnte auf dem Weg zu derjenigen Leserschaft, der Jin Yong bereits ein Begriff ist, weil sie den Stoff unter Condor Heroes abgespeichert hat.

Dynamische Namen II: Der Autor

Wer war Jin Yong 金庸 (1924-2018) ?

Jin Yong. Foto: Reuters

Jin Yong ist mit einer millionenfachen Auflage seiner Romane einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt.

Als er 2018 starb, schrieb die New York Times:  

Jin Yong, a literary giant of the Chinese-speaking world whose fantastical epic novels inspired countless film, television and video game adaptations and were read by generations of ethnic Chinese, died on Oct. 30 in Hong Kong. He was 94. (…) Jin Yong, the pen name of Louis Cha, was one of the most widely read 20th-century writers in the Chinese language. The panoramic breadth and depth of the fictional universes he created have been compared to J. R. R. Tolkien’s “The Lord of the Rings” and have been studied as a topic known as “Jinology.”

In seiner Heimat Hongkong, wo Jin Yong und seiner literarischen Welt eine eigene Abteilung des Hongkong Heritage Museum gewidmet ist, brachten die chinesisch- und englischsprachigen Zeitungen wochenlang Kommentare zu seinem Leben und Werk.

Jin Yong ist in Deutschland (noch) völlig unbekannt.

Jin Yong ist das Pseudonym eines Mannes, dessen richtiger Name in chinesischen Schriftzeichen so geschrieben wird: 查良鏞 und in der gebräuchlichsten Umschrift, der pinyin-Umschrift, so latinisiert wird: Zha Liangyong. Zha Liangyong wurde zwar 1924 in der chinesischen Stadt Haining geboren, als Drehbuchschreiber, Verleger und Autor wurde er aber später in Hongkong berühmt, wo die Schrift dieselbe ist wie überall in der chinesischsprachigen Welt, die Amtssprache aber das Kantonesische ist. Kantonesisch ist eine eigene Sprache, die die dieselben Schriftzeichen ziemlich anders liest als ein Chinese aus Peking und dafür auch eine andere Lautschrift (die ältere Wade-Giles Umschrift) verwendet: In Hongkong heißt Zha Liangyong daher Cha Leung-yung oder Gam Jung statt Jin Yong. Da es dort noch dazu aufgrund der Kolonialgeschichte Hongkongs Tradition ist, sich im Umgang mit Ausländern einen englischen Vornamen zu geben und den Familiennamen nach hinten zu stellen, ist Jin Yong auch als Louis Cha bekannt. Als Jin Yong 2018 starb, hatte er nicht nur zwei echte und einen Haufen Ehrendoktortitel inne und war außerdem als Chevalier de la Légion d'Honneur und Commandeur de l'Ordre des Arts et des Lettres und mit dem Order of the British Empire ausgezeichnet. Er war auch unter fünf Namen bekannt, aber vor allem zwei Schriftzeichen: 金庸

Schauen wir uns seinen Namen und sein Pseudonym noch einmal genauer an. Bleiben wir bei der Standardumschrift: Zha ist der Familienname, der in Asien immer zuerst steht, Liangyong ist der Vorname. Das Schriftzeichen liang 良 bedeutet „gut“ (im Sinne von guter Qualität) und das Schriftzeichen yong 鏞 ist ein seltenes Zeichen, das eine traditionelle Tempelglocke in Konfuziustempeln bezeichnet. Dieses Schriftzeichen yong 鏞 besteht hauptsächlich aus zwei Bestandteilen, wobei der linke Teil das sogenannte Radikal- oder Wurzelzeichen ist,3 nach denen die Schriftzeichen klassifiziert werden (so findet man sie auch im Wörterbuch). 金bedeutet Gold oder Metall und klassifiziert in der Regel alle Metalle oder aus Metall hergestelltes (wie eine Glocke z.B.). Der rechte Bestandteil 庸 ist der lauttragende Teil, er gibt die Aussprache vor, in diesem Fall Yong. Jin Yong hat also sein Pseudonym gebildet, in dem er schlicht die Bestandteile des zweiten Schriftzeichens seines Vornamens auseinandergenommen hat. Jin  金 bedeutet, wie gesagt, Gold oder Metall und kann auch ein Familienname sein, Yong 庸bedeutet „gewöhnlich“ oder „unbedeutend“. Ein Name, wie man ihn sich nur in aller Bescheidenheit selbst verpassen kann.

Dadurch, dass ein einziges Schriftzeichen aus vielen Zeichen mit eigenen Bedeutungen zusammengesetzt werden kann (manchmal, das betrifft natürlich nur komplexe Zeichen), sind potentiell immer mehrere Bedeutungen in ihm versteckt, die ein geschickter chinesischer Autor oder eine geschickte chinesische Dichterin für Wortspiele einsetzen kann, die sich nur selten und selten gut übersetzen lassen. Manchmal erzählt uns also so ein Name seine Geschichte ganz einfach in Form von Zeichenetymologie.

Dynamische Zeiten I: Jin Yong - eine politische Biographie

So, wie sich sein Name auf viele Arten lesen kann, lässt sich auch Jin Yongs Biographie auf viele Arten lesen. Bei einem berühmten Autor, dessen Leben fast ein Jahrhundert chinesischer Geschichte umspannt, ist es kaum möglich, ihn nicht politisch zu lesen. 4

„Aus dem Schatten zu schießen“ war für Jin Yong und sein literarisches Schreiben sicher mehr als eine akademische Übung. Seine eigene Biographie wirkt wie eine Allegorie; so wie seine Adlerkrieger-Saga wiederum als Allegorie auf seine eigene Biographie gelesen werden kann.

Seine Geburtsstadt Haining liegt am Jangste, dem Großen Fluss (chinesisch wörtlich „langer Fluss, 6380 Kilometer ist er lang), der im Hochland der Provinz Qinghai entspringt, China ungefähr in seiner Landesmitte von West nach Ost durchzieht und bei Shanghai ins ostchinesische Meer mündet. Zha Liangyong war das zweite von sieben Kindern einer traditionellen Beamtenfamilie. Es heißt, 1727 habe einer seiner Vorfahren den Kaiser mit einem schlechten Gedicht erzürnt, so dass dieser  dem schwachen Poeten kurzerhand den Kopf abschlagen und auf einer Lanze zur Schau stellen ließ.  Zwei Jahrhunderte später überfielen 1937 die Japaner Zhas Heimat, seine Familie floh und die Mutter kam auf der Flucht ums Leben. Mit der Eroberung der Macht durch die KP Chinas und die Gründung der Volksrepublik 1949 fiel Liangyongs Vater als Reaktionär in Ungnade, wurde öffentlich gedemütigt und dann erschossen; der Familienbesitz wurde beschlagnahmt. Zha Liangyong lebte zu diesem Zeitpunkt, in den 1950er Jahren, bereits als Cha Leung-yung in Hongkong, nachdem er die Hoffnung, in der Volksrepublik Karriere machen zu können, aufgegeben hatte. In der britischen Kronkolonie war er vor Verfolgung sicher und schlug sich als Drehbuchschreiber, Filmkritiker und Journalist durch. 1955 schrieb er seinen ersten Kungfu-Roman, Das Buch und das Schwert, der von den Leser∙innen begeistert aufgenommen wurde. Der Erfolg der Legende der Adlerkrieger, seines dritten Romans, brachte ihm genug Geld ein, um seine eigene Zeitung zu gründen, die Mingbao oder Ming Pao Daily News. Ming bedeutet „Aufklärung“ und Zha verstand sein Organ als Bollwerk gegen Maos Exzesse während des Großen Sprungs nach vorn und der Kulturrevolution. Die Mingbao war zunächst nur mäßig erfolgreich. Was die Zeitung vor dem Bankrott rettete, war ihre beliebte Literaturbeilage mit ihren Fortsetzungsromanen, darunter Zhas eigene. Zha Liangyong stellte als Redakteure vornehmlich aus der Volksrepublik geflohene Intellektuelle mit klassischer Bildung und Schriftsteller ein, was seiner Zeitung einen im positiven Sinne konservativen, weil bildungsfreundlichen Anstrich verlieh. Dass Jin Yong seine Romane in einem semi-klassischen Chinesisch geschrieben hat, war nicht nur dem Wunsch nach sprachlicher Nähe zum historischen Stoff geschuldet; die Verwendung der in der Volksrepublik verpönten traditionellen Schriftsprache wenyan war auch ein trotziges Aufbegehren gegen die Ermordung seines Vaters und das Meucheln traditioneller chinesischer Kultur unter Mao  . Dafür musste er mit den ständigen Morddrohungen des in Hongkong aktiven kommunistischen Untergrunds leben und auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution 1967 vorübergehend nach Singapur fliehen. Seine deutliche politische Haltung machte sich bezahlt – der Herausgeber und Journalist Cha Leung-yung genoss einen ebenso guten Ruf wie der Schriftsteller Jin Yong.

Jin Yong mit Theaterschauspielern 1960. Fotografiert in The Hongkong Heritage Museum, Karin Betz.

Nach der Kulturrevolution brachte ihm sein hohes Ansehen in Hongkong auch die Anerkennung durch chinesische Reformpolitiker wie Deng Xiaoping ein und eine erste Einladung nach Peking 1981. Deng outete sich als großer Fan der Adlerkrieger-Romane und Jin Yong revanchierte sich, indem er Deng den heroischen Charakter seiner Romanhelden beschied, der Reformpolitiker Deng habe „Wind in den Knochen“, sagte er einmal. Cha Leung-yung wurde in den 1990er in das Vorbereitungskomitee berufen, dass den Übergabevertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der Volksrepublik China ausbaldowerte, in dem die politische Maßgabe „Ein Land, zwei Systeme“ festgeschrieben wurde. Kritiker warfen ihm vor, sich aus eigennützigen Gründen zum Kommunistenfreund gewandelt zu haben, denn es war Deng Xiaoping, der den Bann für die als dekadent geltenden Kampfkunst-Romane aufhob und Jin Yong den Weg zum Bestsellerautor auf dem Festland geebnet hatte. Bereits in den 1980er Jahren war Cha an der Ausarbeitung des künftigen Hongkonger Grundgesetzes beteiligt gewesen, trat aber aus Protest gegen das Tiananmen-Massaker im Sommer 1989 von der Mitarbeit in diesem Komitee zurück.

Jin Yong behauptete zeitlebens gern, dass seine Romane nicht politisch zu lesen seien und gestand erst kurz vor seinem Tod in einem Interview ein, dass die Ähnlichkeit einiger seiner Charaktere mit lebenden Personen nicht rein zufällig sei. Das hatte ihm ohnehin niemand abgenommen. In den 1960er Jahren stattete er seine Romane gerne mit Antagonisten mit ziemlich eindeutigen Vorbildern aus: Der androgyne Kungfu-Meister, der einen Personenkult um sich zelebriert oder ein bösartiger Sektenführer mit einer aggressiven Furie als Gattin, mit deren Hilfe er die Welt des Jianghu beherrschen will. Die Parallelen zu Mao Zedong, seiner Frau Jiang Qing und den Roten Garden waren in einigen von Jin Yongs Romanen so offensichtlich, dass seine Werke in der Volksrepublik wie gesagt erst in den 1980er Jahren verlegt wurden.

Jin Yongs allesamt im historischen China, vornehmlich in der Song-Zeit spielenden Romane lesen sich wie eine Enzyklopädie chinesischer Kultur. Die ständigen Referenzen auf traditionelle chinesische Medizin, Akupunktur, Musik, Dichtung, Kalligrafie, Teezeremonie und vor allem die daoistische Philosophie und die buddhistische Religion sind kein Schmuckwerk, sie sind handlungsrelevante Elemente der Geschichte. Gerade durch die Allgegenwart der Philosophie des Buddhismus und des Daoismus in seinem Werk gelingt es Jin Yong, einen anderen Blick auf die chinesische Geschichte zu werfen und den chinesischen Nationalgedanken neu zu definieren. Die Geschicke des chinesischen Kaiserreichs und die Wiedereroberung verlorener Gebiete mögen den historischen Rahmen der Adlerkrieger bilden, die eigentlichen Grenzen Chinas werden in diesem Epos durch den von Mythen und Legenden untermauerten Ehrenkodex der Gegengesellschaft Jianghu (siehe: Dynamische Helden II: Was ist Kungfu-Literatur?) bestimmt. Die Chinesen bilden hier keine nationale Einheit, sondern eine bunte, zuweilen in alle Winde verstreute Kulturgemeinschaft. Die chinesische Geschichte als Kungfu-Drama wird bei Jin Yong zu einer Geschichte der Freiheit, seine Helden sind keinem Staat und keiner Nation verpflichtet, sondern allein ihrem eigenen Ehrenkodex, sie bilden eine Subkultur, die geeint ist in der Opposition zur (konfuzianischen) Leitkultur des Kaiserhofs. Das betrifft aber nur einen Teil seines personellen Inventars. Im Gegensatz zu frühen Vorbildern der Kampfkunst-Literatur, entwirft Jin Yong die Gegenwelt Jianghu nicht als Utopie. Sie ist eine Ansammlung von ambitionsgetriebenen Gruppen und Figuren, die selbst eine widersprüchliche Gesellschaft voller Gefahren, Intrigen, Rivalitäten und Mord bilden. Mit Machtkämpfen und widerstreitenden Begierden stehen sich die Charaktere oft selbst im Weg oder sie sind von niederen Beweggründen getrieben, verbünden sich mit den Mächtigen und machen den an Gerechtigkeit und Loyalität glaubenden Helden das Leben verdammt schwer - und  damit natürlich die Geschichte dramatisch und spannend. Historische Figuren mischen sich selbstverständlich unter die erfundenen und werden als lebendige und glaubwürdige Charaktere neu erschaffen. Ein europäischer Leser wird die historischen Figuren nicht von den fiktionalen unterscheiden können, außer im Fall Dschingis Khans. Nebenbei erzählen die Adlerkrieger eine Menge über die Kultur der Mongolen, über die Familiengeschichte und die strategische Machtpolitik Dschingis Khans und warum dieser Mann (aus der Sicht des Autors) China und große Teile Eurasiens erobern konnte.

Dynamische Namen III: Editionsgeschichte

Der von mir übersetzte Band mit seinen 547 Druckseiten auf Deutsch ist nur der Beginn, etwa ein Zehntel einer Romanserie, die 1970 zum ersten Mal als Buchedition erschienen ist und bildet keine abgeschlossene Erzählung. Tatsächlich umfasst die Legende der Adlerkrieger drei Teile in mehreren Bänden (Heyne wird voraussichtlich zumindest alle Bände des ersten Teils veröffentlichen, an Band 2 arbeite ich bereits). Als der erfolgreichste Teil gilt der zweite, Die Rückkehr der Adlerkrieger. Der dritte Teil trägt den Titel Das himmlische Schwert und der Drachensäbel. Bislang liegt keine vollständige Übersetzung des in Übersetzung insgesamt wohl etwa 4500 Seiten umfassenden Epos in eine europäische Sprache vor. Die Übersetzerin der seit 2018 bei MacLehose erscheinenden englischen Ausgabe, Anna Holmwood, hat allerdings vor, das zu ändern ...  

Da der erste Band mit einem sehr harten Bruch der Erzählung endet und die Leser∙innen ein weiteres Jahr bis zum Erscheinen von Band 2 warten müssen, habe ich dem Lektorat vorgeschlagen, einige Seiten vom Beginn des zweiten Bands schon in Band 1 zu packen, um am Ende für einen etwas griffigeren Cliffhanger zu sorgen (XXX siehe: Die Handlung).

Jin Yong veröffentlichte seinen ersten Roman Das Buch und das Schwert von 1955 an als Fortsetzungsroman und hatte damit so großen Erfolg, dass er mit der Gründung der Mingbao明報 einen Traum verwirklichen konnte. Er wurde außerdem Chefredakteur der Zeitung und nutzte sie, wie bereits erwähnt, zur Veröffentlichung seiner eigenen Romanserien. Die vielen spannenden und überraschenden Wendungen und Cliffhanger und die epische Länge seines erfolgreichsten Romans, den Adlerkriegern, sind sicher auch diesem Umstand geschuldet. Das begeisterte Lesepublikum verlangte ständig nach mehr. Die Adlerkrieger wurden vom 20. Mai 1959 bis zum 5. Juli 1961 in der Mingbao veröffentlicht, aber daneben erschienen, sehr zum Verdruss des Autors, auch unautorisierte Fortschreibungen in diversen asiatischen Zeitungen und Zeitschriften. Bis 1970 veröffentlichte Jin Yong vierzehn historische Kampfkunst-Romane in dieser Serienform.

Die Legende der Adlerkrieger als Fortsetzungsroman in der Mingbao. Foto aufgenommen im Hongkong Heritage Museum, Karin Betz

Danach hörte er auf zu schreiben und widmete sich ganz der Revision und Edition seines Werks, vermutlich auch, um die Kontrolle über seine Autorschaft wiederzuerlangen. Dabei wurde die gesamte Geschichte der Adlerkrieger gründlich überarbeitet und neu geschrieben. Jin Yong schrieb alle seine Romane per Hand und wie das Manuskript aus dem Hongkong Heritage Museum zeigt, war er bei der Bearbeitung nicht zimperlich. Zum ersten Mal erschienen die Adlerkrieger als Buchausgabe 1971. Die letzte vom Autor neu editierte und autorisierte Hongkonger Ausgabe erschien 2001 und liegt meiner Übersetzung zugrunde.

Jin Yongs Editionsmanuskript für die Buchfassung der Adlerkrieger. Foto aufgenommen im Hongkong Heritage Museum, Karin Betz

Selbst die Titel von Jin Yongs vierzehn Romanen entwickeln eine eigene Dynamik, wenn man das jeweils erste Schriftzeichen der Titel nimmt und ein Gedicht daraus macht:

飛雪連天射白鹿

Fei xue lian tian she bai lu

笑書神俠倚碧鴛

Xiao shu shen xia qi bi wu

Diese beiden Zeilen ließen sich etwa so übersetzen:

Schnee wirbelt über den Himmel, ein Schuss erlegt das weiße Reh

Lächelnd schreibt er über den Geist der Gerechten, jadegrüne Turteltauben

Dieses “Gedicht” stammt nicht vom Autor, sondern ist eine Komposition von Fans, die dem sprachgewitzten Jin Yong eine bewusste Absicht hinter den Titeln seiner Romane zutrauten. Der Autor selbst hat das immer bestritten (auch mit dem Argument, dass er nie wusste, wie viele Romane er schreiben würde) und vermutlich geht die kreative Spekulation in diesem Fall auch zu weit. Bis heute dienen die beiden Zeilen jedoch unter asiatischen Fans als beliebter Merkspruch, um die vierzehn Romantitel zu erinnern.

Dynamische Helden I: Die Handlung

Es war einmal ... Die Legende der Adlerkrieger ist ein Märchen, ein historisches Epos, sie ist Kampfkunstroman und politische Allegorie. Die eigentliche Romanhandlung hält sich an die persönlichen Schicksale ihrer Protagonisten und konzentriert sich in Buch Eins vor allem auf die Entwicklung des späteren Helden Guo Jing vom naiven Flüchtlingskind zum Retter der chinesischen Kulturnation. Und damit ist uns der Stoff dieses Romans, ganz gleich, wie viel wir über chinesische Geschichte oder Kampfkünste wissen, sofort vertraut. Ganz wie im klassischen europäischen Bildungsroman wird der Reifeprozess eines Menschen zum Zweck der Aufklärung der Leser∙innen geschildert, kommentiert und vorangebracht durch einen auktorialen Erzähler. Ein bis zur Naivität treuherziger kleiner Junge voller Ideale wird mit der Hinterhältigkeit der Gesellschaft, der harschen Realität seiner Umgebung und den Wertvorstellungen anderer konfrontiert und muss seinen eigenen Weg finden. Und die Leser∙innen fiebern an seiner Seite mit und begleiten seine Abenteuer, bei denen es allerdings um einiges wilder, brutaler, exzessiver und fantasievoller zugeht als bei Wilhelm Meisters Lehrjahre.

Wenn Guo Jing auf Seite 154 in der mongolischen Steppe geboren wird, weiß die Leserin natürlich schon mehr über seine Zukunft als seine eigene Mutter. Die Romanhandlung setzt im Jahr 1205 ein, zur Regierungszeit des Kaisers Ningzong (1194-1224). Wir lernen zwei Männer kennen, Guo Xiaotian und Yang Tiexin, die sich Bruderschaft geschworen haben und als Bauern in einem Dorf unweit der Hauptstadt des südlichen Song-Reichs (siehe Dynamische Zeiten II - Die Song-Zeit) leben. Seit Jahrzehnten kämpft das Song-Reich gegen die Invasoren aus dem Norden, das Jin-Reich der Jurchen, das 1115 unter Stammesführer Wanyan Aguda geeint worden war. Die ehemals blühende und fortschrittliche Song-Dynastie, die den Norden ihres Territoriums an die Invasoren verloren hat, sieht ihr Großreich auf das Gebiet südlich des Huai-Flusses beschränkt und hat in Lin’an (Teil der heutigen Stadt Hangzhou) eine neue, geschäftige Hauptstadt errichtet.5 Das Volk kann sich unterdessen nicht sicher sein, ob das Kaiserhaus und seine Beamten für sein Wohlergehen arbeitet oder nicht doch mit den Jin kollaboriert und mit ihnen das einfache Volk ausbeutet. Für das Kaiserhaus galt der „Süden“6 von jeher als renitent. Doch Recht und Gesetz werden in diesen Gefilden von Gruppen stolzer Männer und Frauen verteidigt, die sich allesamt auf Kampfkünste unterschiedlicher Schulen verstehen. Ihre Welt eint sich unter einem Begriff, der die symbolische Landschaft von Flüssen und Seen in sich trägt, in der sie zuhause sind, dem Jianghu (siehe Dynamische Helden II - Was ist Kungfu Literatur?).

Der „Süden“. Landschaft am Huangshan-Gebirge. Foto: Karin Betz.

Es beginnt mit einem klassischen Schwur. Guo Xiaotian und Yang Tiexin, Nachfahren berühmter Kampfkünstler, sind vor den Invasoren aus Nordchina in den Süden geflohen und haben sich mit ihren Frauen im Dorf Niu unweit der Hauptstadt Lin’an als einfache Bauern niedergelassen. Als ihre Frauen Li Ping und Bao Xiruo schwanger werden, schwören sie sich, dass ihre Kinder einander für immer in Treue verbunden sein sollen. Das Schicksal bringt ihnen den daoistischen Mönch Qiu Chuji ins Haus, einen Vertreter der Quanzhen-Schule7, der sich in Zeiten von Korruption und Dekadenz nicht mit der weltabgewandten, inneren Einkehr eines Daoisten zufrieden geben kann. Guo und Yang freunden sich mit Qiu Chuji an und bitten ihn, ihren ungeborenen Kindern Namen zu geben. Guo Jing und Yang Kang sollen sie heißen. Die Vornamen der beiden Kinder, Jing 靖 und Kang康, ergeben zusammen den Namen einer der Regierungsdevisen des Song-Kaisers Qinzong (1100-1161), unter dessen Herrschaft das chinesische Reich die demütigende Niederlage gegen die Invasoren des Jin-Reichs hinnehmen musste. Das Jahr 1127, in dem die Armee der Jin die Song-Hauptstadt Kaifeng einnahm, ist deshalb als das Jahr der „Schmach von Jingkang“ in die Geschichte eingegangen. Den beiden Kindern wird mit ihren Namen noch vor ihrer Geburt die Verantwortung auferlegt, die Schande ihrer Nation wiedergutzumachen.

Bao Xiruo verwischte mit dem Besen die Blutspuren, aber es war so viel Blut, dass ihr vom Geruch übel wurde. Sie sank in den Schnee. Yang Tiexin rannte zu ihr, um ihr aufzuhelfen. „Was ist mit dir, Liebes?“, fragte er immer wieder, doch seine Frau hing mit geschlossenen Augen und blutleerem Gesicht in seinen Armen. Qiu Chuji nahm ihr Handgelenk und fühlte den Puls. Dann brach er in lautes Lachen aus. „Herzlichen Glückwunsch!“ Yang Tiexin verstand nichts. Mit einem kleinen Wimmern schlug Bao Xiruo die Augen auf. So von drei Männern umringt zu sein, war ihr furchtbar peinlich und sie rannte schnell ins Haus.

„Deine Frau ist schwanger!“, lachte Qiu Chuji.

„Wirklich?“

„Ich darf behaupten, dass es drei Dinge gibt, von denen ich ein wenig verstehe. Zuallererst von der Heilkunst. Vergeblich mühe ich mich, meine bescheidenen inneren Kräfte zu stärken, aber dabei habe ich wenigstens eine Menge über innere Medizin und die Verwendung von Heilkräutern gelernt. Zweitens vermag ich ein paar Verse mit dem Pinsel zu schreiben, die nicht der Rede wert sind. Erst an dritter Stelle kommen meine stümperhaften Kungfu-Künste, nicht besser als die einer dreibeinigen Katze.“

„Na, wenn du das die Künste einer dreibeinigen Katze nennst, dann sind unsere nicht besser als die einer dreibeinigen Ratte“, lachten Guo und Yang.

Den ganzen Haufen verhasste Jin-Soldaten und ihre Schergen unter die Erde zu bringen, hatte sie wieder ordentlich hungrig gemacht. Also gingen sie ins Haus und setzten ihr Gelage in bester Laune fort.

Yang Tiexin war wegen der Nachricht, dass er Vater wurde, besonders guter Dinge. Dieser Mönch ist tatsächlich ein vielseitiger Meister, selbst auf das Dichten versteht er sich, dachte er. „Hör zu, Bruder Qiu. Auch die Frau meines Freundes hier ist schwanger. Wie wär’s, wenn du dir die passenden Namen für unsere Kinder ausdenkst?“

„Gern.“ Ohne lange nachzudenken sagte Qiu Chuji: „Bruder Guos Kind soll Guo Jing heißen und deines Yang Kang. Mit diesen Namen ist es gleich, ob es Jungen oder Mädchen werden.“

„Was für ein großartiger Vorschlag! Damit werden sie niemals die Schmach unseres Landes im Jahr Jingkang vergessen, dem Jahr, in dem unsere beiden Kaiser gefangengenommen wurden“, sagte Guo Xiaotian.

„Gut erkannt!“ Der Mönch griff in seine Kutte und zog zwei Dolche heraus, die er auf den Tisch legte. Die beiden Dolche waren vollkommen identisch, jeder steckte in einer Scheide aus grünem Leder und hatte eine goldene Klinge und einen Griff aus Elfenbein. Qiu Chuji nahm einen Dolch und ritzte mit seiner Klinge erst die Zeichen „Guo Jing“ in den Griff des anderen Dolchs, dann mit diesem „Yang Kang“ in den ersten Dolch. Auch das tat er so schnell, wie kaum jemand mit dem Pinsel schreiben konnte. „Außer diesen beiden Dolchen trage ich nichts Wertvolles bei mir“, sagte er. „Ich möchte sie euren Kindern vermachen.“ Mit großer Dankbarkeit nahmen Guo Xiaotian und Yang Tiexin jeder den Dolch für ihr Kind an. Sie betrachteten die Klingen, von denen eine unerbittliche Kälte ausging. Sie mussten ungeheuer scharf sein. (S.52/53)

Die cholerische Natur des großer Kampfkunst mächtigen Mönchs bringt die Familien in Schwierigkeiten. Im Kampf gegen ins Dorf Niu einfallende kaiserliche Soldaten stirbt Guo Xiaotian, Yang Tiexin wird schwer verwundet und sein Schicksal bleibt ungewiss. Die beiden schwangeren Frauen werden getrennt voneinander in den Norden entführt und die beiden Kinder wachsen auf, ohne voneinander zu wissen, Guo Jing unter den Mongolen und Yang Kang unter den Jurchen. Zunächst sieht es nicht so aus, als würde sich der Wunsch ihrer Väter erfüllen. Wäre da nicht die Wette des daoistischen Mönchs mit den Sieben Sonderlingen des Südens, einer Bande verschrobener Kungfu-Meister – die Sieben Sonderlinge sollen Guo Jing aufspüren und der Mönch nach Yang Kang suchen, beide sollen in der Kampfkunst ihrer jeweiligen Meister unterrichtet werden und in achtzehn Jahren im Garten der Trunkenen Unsterblichen gegeneinander zum Kampf antreten ...

Während wir dem Lebensweg der Protagonisten folgen, entspinnt sich mit immer neuen Wendungen und einem riesigen Aufgebot an gewitzten, niederträchtigen, tölpelhaften oder tragischen Charakteren ein wilder Ritt durch chinesische Landschaften, Geschichte, Philosophie, Legenden und natürlich Kampfkünste. Und – das hat sich Jin Yong bei europäischen Vorbildern abgeschaut – eine romantische Liebesgeschichte.  

Diese nimmt erst gegen Ende von Band 1 ihren holprigen Verlauf und wie sie ausgehen wird, erfahren wir noch nicht ... doch so viel sei verraten: Der sture und naive Guo Jing wird erst durch die Liebe der klugen und frechen Huang Rong zum Helden werden. Denn Jin Yongs weibliche Heldinnen sind den männlichen ebenbürtig, sie haben keine verkrüppelten Lotosfüße und kämpfen genauso so formidabel, gewitzt oder grausam.

Das Ende von Band 1 bricht (natürlich!) mitten in einer Kampfhandlung ab, in der sich alle Fronten vermischen und keiner (außer der Leserin und dem Erzähler) der Handelnden mehr weiß, wer eigentlich warum an wessen Seite kämpft:

„Pah! Sie und meine Meisterin?“, entgegnete Huang Rong. „Es wäre treffender, mich ihre Meisterin zu nennen!“

Die Antwort verblüffte Peng Lianhu. Das Kungfu dieser frechen Göre ähnelte ganz offensichtlich dem der berüchtigten Eisenleiche, aber seinen eigenen Meister zu verleugnen ging gegen den Ehrenkodex der Kampfkünstler. Er begriff nicht, was hier gespielt wurde.

„Los! Das Pferd erschießen, um den Reiter zu fangen“, kommandierte Sha Tongtian und holte mit dem Bein zu einem Tritt gegen Guo Jing aus.

Wenn den jemand erledigt, dann ich!, dachte Mei Chaofeng grimmig. Außerdem wäre sie ohne Guo Jing verloren. Ihre Klauen griffen nach Sha Tongtians Fuß. Dabei gab sie ihre Rückendeckung auf und sofort schlug Ouyang Ke zu. Im Handumdrehen hatte Mei Chaofeng ihre Weiße Schlangenpeitsche gezogen. Die silbergeschuppte Waffe schlängelte durch die Luft und schimmerte im Mondlicht. Die vier Angreifer wichen überrascht zurück.

Peng Lianhu wurde nicht umsonst der Metzger der zehntausend Hände genannt. Er war entschlossen, diese Hexe zu töten, bevor ihr gefürchteter Mann auftauchte. Niemand im Jianghu außer Guo Jing und seinen sechs Meistern wusste bislang, dass Kupferleiche Chen Xuanfeng schon lange in der Mongolei begraben lag.

Selbst mit einer unbarmherzigen Waffe wie der Weißen Schlangenpeitsche war es kein Kinderspiel, gegen die Angriffe von vier schlagkräftigen Gegnern zu bestehen. Ouyang Ke, Liang Ziweng, Sha Tongtian und Peng Lianhu versuchten herauszufinden, wie sie der Waffe wohl am geschicktesten entgingen. Plötzlich pfiff Peng Lianhu laut auf den Fingern und rollte am Boden unter der Peitsche durch. Die blinde Mei Chaofeng hörte nur Guo Jing alarmiert aufschreien und holte mit dem verlängerten linken Arm zu einem Schlag nach unten aus. Guo Jing musste ihrer Bewegung folgen, obwohl er erkannte, dass Peng Lianhu ihre Aufmerksamkeit nur von den drei anderen Angreifern ablenken wollte.

Huang Rong stand aufgeregt daneben und wusste nicht, wie sie eingreifen sollte. Mei Chaofeng schwang die Peitsche in der rechten Hand gegen die drei anderen und traktierte mit der linken Hand Peng Lianhu. Trotzdem war sie in einer heiklen Lage. Doch die abtrünnige Schülerin ihres Vaters kümmerte Huang Rong wenig. Sie fürchtete allein um Guo Jing. Was sollte sie bloß tun? „Aufhören, lasst uns reden!“, schrie sie. Doch seit wann ließ sich ein Kampf mit Worten beenden?

„Lauf, Huang Rong“, rief Guo Jing. “Lauf weg! Ich finde dich schon.“

„Ohne dich gehe ich nirgendwo hin.“

Der Kampf tobte weiter.

„Aufhören! Lasst uns reden.“

Diesmal kam die Stimme von der Palastmauer. Huang Rong hob den Kopf. Dort oben standen sechs Gestalten. Zuerst sprang ein kleiner Dickwanst mit einer Peitsche herunter, dann ein breitschultriger Kerl mit einer Schulterstange.

Guo Jings Meister waren eingetroffen. (S.546/47)

Dynamische Namen IV: Die Protagonist·innen

Ein Roman mit einem so reichhaltigen Inventar an Charakteren kommt nicht ohne ein Personenverzeichnis aus. Meins listet 63 Charaktere auf. Was man den Namen nicht unbedingt ansieht, ist, dass hinter der Hälfte davon lange Recherchen und übersetzerische Entscheidungen stehen.

Wie oben bereits erklärt, hat jedes chinesische Schriftzeichen eine Bedeutung, die unabhängig ist von ihrer Lauttranskription. Das Chinesische ist relativ arm an möglichen Lautkombinationen, so dass viele Schriftzeichen mit unterschiedlichen Bedeutungen gleich ausgesprochen werden. Damit wird auch gerne gespielt und das chinesische Netzvolk macht sich diesen Umstand zum Beispiel zunutze, um die Zensur zu umgehen. Ein bekanntes Beispiel aus der jüngeren, noch Internet-freien Geschichte war eine Form des Protests gegen das Tiananmen-Massaker im Juni 1989: Menschen warfen kleine Flaschen aus dem Fenster, denn der Befehl für das Massaker ging von Deng Xiaoping  鄧小平aus. Die Schriftzeichen seines Vornamens bedeuten eigentlich „kleiner Frieden“, lesen sich aber genauso wie „kleine Flasche“.  

Trotz aller Bedeutungsebenen übersetzt man chinesische Namen natürlich nicht, sondern belässt sie in ihrer latinisierten Lauttranskription. Doch wie ist das in der Literatur, besonders, wenn ein Roman über ein Personeninventar voller sprechender Namen verfügt?

Nehmen wir zum Beispiel die Namen der Sieben Sonderlinge des Südens:

Ke Zhen’e, der Blinde, genannt Fliegende Fledermaus

Zhu Cong, der Gelehrte, genannt Wunderhand

Han Baoju, der Reiterkönig, genannt Hüter der Ställe

Nan Xiren, der Holzhacker, genannt Holzfäller der südlichen Berge

Zhang Asheng, der Metzger, genannt Lachender Buddha

Quan Jinfa, der Herrliche, genannt Heimlicher Held des Marktplatzes

Han Xiaoying, die Fischerin, genannt Meisterin des Yue-Schwerts

Wie man der Auflistung ansieht, hat jeder in dieser ungewöhnlichen Kungfu-Truppe gleich drei Namen. Die Beinamen geben nur teilweise Auskunft über ihre besonderen Fähigkeiten, manchmal beziehen sie sich nur auf ihre Biographie. Dass diese Beinamen übersetzt werden müssen, versteht sich von selbst, sie sind identifikationsstiftend und haben für den europäischen Leser im Zweifelsfall mehr Wiedererkennungswert als die chinesischen Eigennamen. Da die Sonderlinge zum ständigen Inventar der Geschichte gehören, gewöhnt sich die Leserin über die Brücke ihrer Beinamen auch schnell an ihre Eigennamen.

Bei anderen Figuren ist das nicht ganz so einfach. Eine der komplexen Charaktere der Adlerkrieger ist – ich bleibe bei dem Namen, mit dem sie in der Regel benannt wird – Mei Chaofeng, genannt Eisenleiche. Mei Chaofengs Mädchenname ist eigentlich Mei Ruohua und Chaofeng „Wirbelsturm“ wird sie von ihrem späteren Meister getauft, der jedem seiner fünf Schüler und seiner Schülerin einen Namen gibt, der das Zeichen für Wind (feng) enthält. Zusammen mit ihrem Kampfbruder und späteren Mann Chen Xuanfeng wird sie als Teil der „Zwillingsmörder der Dunklen Winde“ in der Welt des Jianghu gehasst und gefürchtet. Warum Xuanfeng außerdem als „Kupferleiche“ und Chaofeng als „Eisenleiche“ bezeichnet werden, wird in Band 1 noch nicht erklärt. Die englische Übersetzerin Anna Holmwood hat sich entschieden, Mei Chaofengs Schülernamen zu übersetzen und nennt sie „Cyclone Mei“. Meiner Meinung nach genügt es, die Geschichte selbst erzählen zu lassen, wie sie zu ihren jeweiligen Namen kommt und die zusätzliche Übersetzung des Namens, unter dem sie im Roman am häufigsten genannt wird, würde zwischen der ohnehin schon üppigen Blumigkeit nur noch mehr Verwirrung stiften.

Ich warf mich meinem Retter vor die Füße und dankte ihm für mein Leben. Wie feingliedrig und würdevoll er war! „Schon gut. Steh auf und komm mit mir.“

„Ich, Ruohua, will Euch stets zu Diensten sein“, rief ich und machte noch einmal einen Kotau.

 „Ich brauche keine Dienstmagd, mein Kind. Du sollst meine Schülerin sein“, sagte er mit einem leisen Lächeln.

Und so wurde er mein Meister und ich seine Schülerin. Sein Name war Apotheker Huang und er war Herr über die Pfirsichblüteninsel des Ostmeers.

Dort lehrte er bereits fünf weitere Jünger. Der Älteste trug den Namen Qu Lingfeng, der zweite hieß Chen Xuanfeng und dann folgten noch drei, die jünger waren als ich: Lu Bingfeng, Wu Baifeng und Feng Qianfeng. Auch ich bekam einen Namen, der das Zeichen feng für „Wind“ enthielt.

Fortan hieß ich Mei Chaofeng.(S.502/503)

In der oben zitierten Stelle habe ich ein klein wenig in den Text eingegriffen und den Satz „Auch ich bekam einen Namen ...“ kurzerhand (und hoffentlich unauffällig) eingefügt, um die deutschen Leser∙innen an der Bedeutung dieser Namen teilhaben zu lassen.

Man könnte argumentieren, dass blumige Namen gut zu einem Fantasy-Roman passen. Abgesehen davon, dass dieses Vorgehen allzu vormodern wirkt, haben auch nicht alle Charaktere so blumige Namen und es lassen sich auch nicht alle übersetzen. Außerdem sind gerade die Protagonisten wie Guo Jing, Huang Rong und Yang Kang den weltweiten Fans so bekannt, dass die Übersetzung in diesem Fall jede Identifikation erschweren würde.

Noch dynamischer wird die detektivische Namensentzifferung, wenn Jin Yong mit der oben erwähnten Dynamik der chinesischen Schrift spielt. Denn genauso wie mit seinem Künstlernamen verfährt Jin Yong in den Adlerkriegern auch mehrfach mit denen seiner Protagonisten. In Buch Eins begegnet uns gegen Ende ein Mann namens Mu Yi木易. Setzt man mu 木(Holz) und yi 易 zusammen, ergibt sich das Schriftzeichen Yang楊, ein häufiger chinesischer Familienname. Wer ist der geheimnisvolle Mu Yi? Was die aufmerksame chinesische Leserin sich schnell zusammenreimen kann, merkt der deutsche Leser vermutlich erst etwas später (und hat es noch ein bisschen spannender!); er oder sie verpasst nichts, außer dieser vielsagenden Spielerei, die man bei Bedarf im Glossar erklärt findet. Mehr sei nicht verraten ... Außer, dass diese Namensneuschöpfung selbst wiederum die Dynamik der Geschichte widerspiegelt. Yi 易bedeutet „Wandel“. Deshalb übersetzt man das berühmte Orakelbuch Yijing易經 als Buch der Wandlungen.

Was sich im Laufe meiner Übersetzung am häufigsten gewandelt hat, waren die Nicht-chinesischen Namen, vor allem die Mongolischen. Mongolisch ist nicht mit dem Chinesischen verwandt, es ist eine altaische Sprache mit eigenem Alphabet. Nun wird in einem chinesischen Text jeder fremdsprachige Name in onomatopoetisch passenden Schriftzeichen wiedergegeben. Anders als bei chinesischen Namen ist die Bedeutung der Schriftzeichen also zweitrangig, obwohl höflich versucht wird, nur „positive“ Zeichen zu verwenden.

Nehmen wir Dschingis Khan.8 Im Text der Adlerkrieger taucht er zuerst als特姆金 auf, latinisiert temujin. Zum Glück weiß ich, dass Dschingis Khans eigentlicher Name Temü – ja, wie war? Was ist die korrekte Umschrift für mongolische Namen im Deutschen? Temüdschin, Temüüdschin, Temüjin? Auch die Nachfrage in der akademischen Forschung ergab keine erhellende oder einheitliche Antwort. Es sieht so aus, als latinisiere ein jeder mongolische Namen, wie er oder sie wolle. Bei mir heißt er nun Temüdjin. Schwieriger wird es bei Charakteren, die keine historischen Figuren sind. Die Namen von Temüdjins Kindern ließen sich recherchieren, andere sind Erfindungen des Autors und ich habe nach fleißiger Lektüre der Geheimen Geschichte der Mongolen9 kurzerhand (hoffentlich) passende mongolische Namen auf Basis der chinesischen Lautschrift für sie erfunden.

Referenzmaterial auf dem Schreibtisch der Übersetzerin

Dynamische Zeiten II: Die Song-Zeit

Den historischen Rahmen der Romanhandlung bildet die südliche Song-Dynastie (1127-1279). „Südlich“ heißt sie deshalb, weil das vormalige Großreich der großen („nördlichen“) Song-Dynastie (960-1127) in dieser Zeit auf das Gebiet südlich des Huai-Flusses geschrumpft war. Das blühende Reich der Song war umgeben von Nomaden- und Bergvölkern wie den Kitan, den Jurchen, Tanguten und Mongolen, die zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert zunehmend erstarkten und zur Bedrohung des Reichs wurden. Um das mit China verfeindete Liao-Reich im Norden zu bezwingen, schloss Song-Kaiser Huizong ein Bündnis mit den Jurchen. Vom anschließenden Sieg über die Liao profitierten aber allein die Jurchen, die 1125 auf den Ruinen des Liao-Reichs einen eigenen Staat errichteten. 1127 fielen die Jin in das geschwächte chinesische Reich ein, besetzten die Hauptstadt Kaifeng und nahmen Kaiser Huizong und seinen Sohn Qinzong gefangen. Das war im Jahr 1127, dem Jahr der Regierungsdevise Jingkang (siehe Dynamische Helden I - Die Handlung), dem „Jahr der Schmach“ für die Song-Dynastie. Die Jin besetzten den gesamten Norden des Reichs. Die verbliebene kaiserliche Familie der Song-Dynastie floh mit ihren Anhängern in den Süden und machte zunächst Nanjing, dann die Stadt Lin’an (auf dem Gebiet der heutigen Stadt Hangzhou) zu ihrer neuen Hauptstadt.

Am Westsee in Hangzhou. Foto: Karin Betz



Am Westsee in Hangzhou. Foto: Karin Betz

Damit lag die Hälfte des Reichs in Feindeshand. Die Jurchen, tungusische Stämme, die ursprünglich im Gebiet der heutigen chinesischen Provinz Heilongjiang ansässig waren, sind die Vorfahren der Mandschuren und unternahmen in der Folgezeit noch weitere Expansionsversuche auf das Gebiet der Mongolei und in den Nordosten.

China während der Nördlichen Song-Zeit.



Chinas Grenzen um 1200.

Aufgabe des Kaisers Ningzong wäre gewesen, das Reich zu konsolidieren und weitere Vorstöße der Jurchen zurückzuschlagen. Statt zu kämpfen und auf das Geschick seiner Feldherren zu vertrauen, schloss der Kaiser mit den Feinden 1142 einen Friedensvertrag, der sein Reich zum Vasallenstaat degradierte. Der erfolgreiche Heerführer und bis heute als patriotischer Märtyrer verklärte General Yue Fei (1103-1142) wurde von Kräften am Hof sabotiert, die eine friedliche Koexistenz mit den Jin anstrebten. Yue Fei fiel einer Intrige von Kanzler Qin Hui zum Opfer, wurde des Hochverrats beschuldigt und schließlich im Kerker ermordet.  Zu Beginn des Romans wird die Geschichte in einem Gespräch zwischen Guo Xiaotian, Yang Tiexin, einem Geschichtenerzähler und einem mysteriösen Kneipenwirt so erzählt:

„General Yue führte damals eine erfolgreiche Schlacht nach der anderen an, die Truppen der Jin lagen in ihrem Blut, Haufen von toten Soldaten überall. Die Jin waren zu schwach, weiteren Angriffen standzuhalten. Ihnen blieb ihnen nur der Rückzug, aber das brave Volk im Norden schnitt ihnen die Fluchtwege ab. Die Truppenmoral der Jin war zerrüttet, sie wussten nicht mehr, wohin. Doch ausgerechnet da schickte unser Kaiser Gaozong plötzlich einen Boten mit einem Friedensgesuch an die Jin! Er hätte dem König von Jin keine größere Freude machen können. Und was gibt der zur Antwort? ‚Gerne schließen wir Frieden, aber zuerst will ich den Kopf von General Yue Fei.‘ Nur deshalb lockte Qin Hui den tapferen General in einen Hinterhalt und ließ ihn im Pavillon des Sturmwinds meucheln. Im zwölften Monat des Jahres elf der Regierungsdevise Shaoxing wurde Yue Fei ermordet, und schon im ersten Monat des Jahres zwölf wurde der Friedensvertrag geschlossen und der Mittellauf des Huai als Grenze zwischen Jin und Song festgelegt. Gaozong hat unser Land zu Vasallen der Jin gemacht. Wisst Ihr, was in diesem Friedensvertrag steht?“

„Es wird wohl ein schändlicher Vertrag sein“, sagte Yang Tiexin.

„Was sonst?“, antwortete der Geschichtenerzähler. „Ich weiß noch genau, was darinsteht. Zhao Gou ist der Name von Kaiser Gaozong und der Brief las sich wie folgt: ‚Der Euch ergebene Zhao Gou bittet den König um Gnade, erklärt hiermit seinen Staat zu Eurem Vasallen und wird dafür Sorge tragen, dass auch seine Söhne und Enkel dies respektieren. Jedes Jahr werden zum Geburtstag Seiner Majestät zweihundertfünfzigtausend Tael Silber und zweihundertfünfzigtausend Ballen Seide Tribut gezahlt werden.’ Nicht nur sich selbst hat er zum Sklaven gemacht, sondern obendrein seine Kinder und Enkelkinder! Und selbst das könnte uns egal sein, wenn er nicht uns alle damit ebenfalls zu Sklaven der Jin gemacht hätte!“

Die Verräter Qin Hui und Wang Jian leisten Abbitte vor dem Grabmal des Generals Yue Fei. Foto: Karin Betz



Grabmal des Generals Yue Fei in Hangzhou. Foto: Karin Betz

In den Adlerkriegern überwiegen zwar die Schilderungen des gedemütigten und im Niedergang begriffenen Song-Reichs, tatsächlich war die historische (Nördliche) Song-Dynastie ein Zeitalter gewaltigen wissenschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Fortschritts. Der Hof beschäftigte große Reformer wie Wang Anshi (1021-1086), der die Lasten der kleinen Bauern reduzierte, Steuerwesen, Heer, Verwaltung und Wirtschaft erneuerte und auch das Beamtenprüfungssystem um praktisches wissenschaftliches und ökonomisches Wissen erweiterte. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde Papiergeld als Zahlungsmittel verwendet. Das wiederum war nur aufgrund der fortschrittlichen Drucktechnik möglich, zunächst dem Blockdruck, dann dem Buchdruck mit beweglichen Lettern (seit 1086), der die ersten Schriften in Millionenauflage produzierte. Zu den weiteren wichtigen Erfindungen der Zeit gehörten das Schießpulver und die schwimmende Kompassnadel und auf dem weitverzweigten Kanalsystem des Reichs kamen sogar Schiffsschleusen zum Einsatz. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes erlebte auch die Seefahrt einen beträchtlichen Aufschwung und machte China im 13. und 14. Jahrhundert zu einer großen Seemacht mit den wichtigsten Häfen im Südosten des Reichs. An zahlreichen Stellen der Adlerkrieger-Romane wird aber vor allem der Fortschritt der Wissenschaften in dieser Zeit deutlich. Zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert wurde mit dem Taiping Yulan eine tausend Kapitel umfassende Wissensenzyklopädie zusammengestellt und die 978 gegründete Bibliothek des Kaiserpalasts wuchs rasch auf 80.000 katalogisierte Bände. Archäologie, Astronomie, Geographie und eine erneuerte Geschichtswissenschaft zeugten genauso von der großen, dynamischen Erneuerungsbewegung der frühen Song-Zeit wie die Entstehung einer neuen, universellen und rationalen Philosophie, dem Neokonfuzianismus, der vor allem von der Schule des Philosophen Zhu Xi (1130-1200) geprägt wurde. Der Neokonfuzianismus trat an die Stelle der Schulen des Daoismus und des Buddhismus, die ihren Höhepunkt in der Tang-Zeit (618-907) hatten,  und bildete die Grundlage zur ethischen Rechtfertigung des autoritären Beamtenstaats. Genau aus diesem Grund spielt er in der Welt des anarchistischen Jianghu keine Rolle. Jin Yong lässt keinen Zweifel an seiner Sympathie für die alles Weltliche und Staatstragende verachtenden Schulen des Daoismus, weshalb den Mönchen der Quanzhen-Schule und ihrem Gründer Wang Chongyang (1113-1170) eine prominente Rolle in den Adlerkrieger-Romanen zukommt.

Ein Zeugnis von der Lebendigkeit der Song-Hauptstadt Kaifeng gibt eins der bedeutendsten Kunstwerke der Zeit, Zhang Zeduans (1085-1145) 528 Zentimeter lange Bildrolle Szene am Flussufer während des Qingming-Fests (auch Qingming-Rolle). Sie zeigt das geschäftige Treiben am Ufer des Gelben Flusses, an dem die alte Song-Hauptstadt Kaifeng lag, am Tag des chinesischen Totengedenkfests Qingming. Dargestellt sind im Vordergrund die Szene eines Schiffs, das unter einer riesigen Brücke voller Menschen durchfährt und das geschäftige Volk am Flussufer, Hirten, Handwerker, Händler und Fuhrleute.

Ausschnitt der Qingming-Rolle (Along the River ...)

Kaifeng ist nur einer der vielen historischen Namen des heutigen Beijing (Peking). Das Stadtgebiet deckt sich nicht direkt mit dem der (ungleich größeren) heutigen Hauptstadt der VR China,  die Stadt sieht sich aber als Nachfolgerin von etwa zwanzig (!) historischen Städten Chinas und war im Lauf der Geschichte fünf Mal unter einem anderen Namen Hauptstadt. Unter der Liao-Dynastie hieß die Stadt Yanjing, als Hauptstadt des Nördlichen Song Kaifeng und die Jin-Eroberer erweiterten die Stadt unter dem Namen Zhongdu.

Auch unser Romanheld Guo Jing, der als Achtzehnjähriger zum ersten Mal von der mongolischen Steppe nach China reitet, staunt:

Ohne weitere Zwischenfälle erreichte er Zhongdu, die Hauptstadt des Jin-Reichs, die einst den chinesischen Namen Yanjing getragen hatte. Der Reichtum und die Lebendigkeit der Stadt stellte die ehemalige Song-Hauptstadt Kaifeng in den Schatten, ganz zu schweigen von Lin’an, der jungen Hauptstadt des Südens. Wo hätte ein Steppenkind wie Guo Jing je dergleichen gesehen? Zweigeschossige, reich dekorierte Häuser aus Ziegelstein mit geschwungenen Dachsparren und zinnoberrot lackierten Holztüren säumten die Straßen, auf denen prunkvolle Einspänner und Sänften unterwegs waren. Die Auslagen der Kaufmannshäuser boten Früchte, Getreide und exotische Waren, die Guo Jing noch nie gesehen hatte, und die Luft war schwanger vom Duft erlesener Teeblätter und feinsten Likörs. Und wie vornehm wirkten die Bewohner! Kaum einer, der nicht in seidenglänzenden Roben und perlenbesetzten Schuhen ging. Die bunte Pracht überwältigte alle Sinne Guo Jings. Diese Stadt schien ihm wie aus Gold und Jade, untermalt vom Klang von Pipas und Trommeln.

Er war hungrig, wagte aber nicht, einen Fuß in eines der noblen Gasthäuser zu setzen und aß lieber eine Schüssel Reis in einer kleinen Straßenstube. Ziellos bummelte er durch die Stadt, bis eine jubelnde und applaudierende Menge, die um einen Platz versammelt war, seine Neugier weckte. (S.363-64)

Dynamische Helden II: Was ist Kungfu-Literatur?

Wu ist Kampfkunst

Der eigentliche Begriff für Kampfkünste im Chinesischen ist nicht Kungfu, denn gongfu  功夫 heißt übersetzt einfach nur „(Kunst-)Fertigkeit“, ganz gleich, in welcher Disziplin, ob Kochen, Kalligrafie oder Kämpfen, sondern wuxia武俠, „kämpfender Held“. Wu bedeutet militärisch oder kämpferisch und xia steht für alles Heroische im Namen der Gerechtigkeit und wird im Wörterbuch gerne mit „Ritterlichkeit“ oder verbal „ritterlich gesinnt, gerechtigkeitsliebend“ übersetzt. Das Genre, in dem Jin Yong und seine Vorgänger schrieben, heißt daher Wuxia-Literatur.

Der Begriff Wuxia kam während der späten Qing-Zeit (Ende des 19. Jahrhunderts) von Japan nach China. In dieser Zeit, in der so viel ausländische Literatur übersetzt wurde wie nie zuvor, hielt zusammen mit neuen Ideen, modernen Universitäten und Reformen eine Fülle von Fremdwörtern Einzug in das Vokabular der chinesischsprachigen Welt. Lehnwörter wurden und werden nach vier Prinzipien gebildet: Lauttranskription zu in ähnlicher Aussprache vorhandenen Schriftzeichen, ohne Bezug zur Bedeutung des Zeichens (z.B. kafei咖啡 für Kaffee); semantische Lehnwörter, die eine Übersetzung der Bedeutung darstellen (z.B. diannao電腦, wörtlich „elektrisches Gehirn“, für Computer); eine Mischung aus beidem (z.B. yidali mian義大利麵, wörtlich „italienische Nudeln“ für Pasta); oder die direkte Übernahme eines neuen Begriffs in Schriftzeichen (ausschließlich aus dem Japanischen). Wuxia ist ein Beispiel für Letzteres und ist die chinesische Aussprache für den japanischen Begriff bukyo武俠 , das ein vom Bushido beeinflusstes literarisches Genre des Abenteuerromans bezeichnete. Solange in China noch das kaiserliche Beamtenprüfungssystem vorherrschte, strömten zahlreiche chinesische Studenten in das fortschrittliche Japan, um an modernen Universitäten Wissenschaften zu studieren oder an Militärakademien ausgebildet zu werden. Die Bukyo-Literatur gehörte damit zur Literatur im Zeichen des Fortschritts. Während in Japan der Terminus bukyo ziemlich bald aus dem Gebrauch verschwand, feierte er in China in den Wuxia-Erzählungen Karriere. Richtig in Fahrt kam das Genre aber erst im Verlauf der Vierter-Mai-Bewegung nach 1919, die zu einer gesellschaftlichen, sprachlichen und literarischen Erneuerungsbewegung wurde.

Die literarischen Vorbilder dieser Zeit kamen hauptsächlich aus der aus europäischen Sprachen übersetzten Literatur, darunter auch neue Genres wie Science-Fiction. Die Wuxia-Literatur dagegen wurzelte tief in der eigenen Literaturgeschichte und stand trotzdem für eine Befreiung aus dem Korsett des Konfuzianismus, für persönliche Freiheit und Anarchie und eine Ablehnung von starren Hierarchien. Es handelte sich zunächst um volkstümliche Abenteuergeschichten, in denen gute Helden gegen böse Ausbeuter kämpfen (mit traditioneller Kampfkunst versteht sich), ähnlich den frühen Ritterromanen der europäischen Literaturgeschichte.

Der erste Roman, in dessen Geiste alle späteren Wuxia-Geschichten geschrieben wurden, war der in der Ming-Zeit (1368-1644) geschriebene Shuihu zhuan 水滸傳. 10 Dabei handelt es sich um einen Abenteuerroman, in dem gleich 108 Helden zur Zeit der Südlichen Song-Dynastie gegen korrupte kaiserliche Beamte und alle anderen Unterdrücker des einfachen Volks kämpfen. Ihre Schwurbrüderschaft (Frauen sind auch darunter) ähnelt in ihrer Mission und ihrem Zuhause in den Sümpfen am Liang-Berg den Merry Men der Robin-Hood-Saga, ihre Geschichte aber ist viel bunter und mystischer – sind sie doch in Wahrheit die Reinkarnation von 108 Dämonen, deren Geister einst vom legendären Urkaiser Shangdi unter eine Stele auf dem Rücken einer schweren Schildkröte gebannt wurden. Der im 14. Jahrhundert geschriebene Roman ist einer der vier klassischen Romane der chinesischen Literatur und gilt als der erste, der in Umgangssprache geschrieben wurde.11 Zu den frühen prominenten Autoren des Kampfkunst-Romans im 20. Jahrhundert dann gehörten Autoren wie Xiang Kairan, dessen Debüt 1928 unter dem Titel The Burning Of The Red Lotus Temple verfilmt wurde.

Die zumeist als Serienromane in Zeitschriften übersetzten Werke des Genres der 1920er und 30er Jahre sind, während es zahlreiche japanische, thailändische oder koreanische Übersetzungen gibt, kaum in eine europäische Fremdsprache übersetzt worden. Zu gewisser Bekanntheit gebracht hat es allein Wang Dulu, der Verfasser von Crouching Tiger, Hidden Dragon, ein Serienroman, dessen Verfilmung durch Ang Lee im Jahr 2000 sogar einen Oskar gewonnen hat. Hier eine der wunderbar choreografierten Kampfszenen zwischen zwei der Protagonistinnen:

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Die Wuxia-Literatur wurde auf dem chinesischen Festland erst in der Republik China (1911-1948, auf Taiwan bis heute), dann bis in die 1970er Jahre der Volksrepublik China immer wieder verboten, als dekadent oder staatsgefährdend. Lebendig blieb sie vor allem in Hongkong, wo Jin Yong und sein Vorbild Liang Yusheng seit den 1950er Jahren die Speerspitze einer neuen Schule bildeten. Jin Yong erneuerte das Genre vor allem durch den Rückgriff auf die Märchen- und Sagenliteratur anderer Kulturen, aus denen er Ideen für Liebes- und Geistergeschichten schöpfte. Außerdem öffnete er das Handlungsgeschehen geographisch in alle Richtungen der chinesischen Welt, von der mongolischen Steppe bis zum tibetischen Hochland, von den Flüssen des Südens bis zu Mönchsklostern in den Bergen Zentralchinas. Seine Figurenzeichnungen sind charakterlich und psychologisch genauer, die Geschichten leben von der Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit einzelner Charaktere, die durch ihre unorthodoxen Handlungsweisen Werte und lebensphilosophische Fragen des Autors transportieren. Außerdem widmen sich die Kampfkünstler nicht mehr nur dieser einen Disziplin. Sie schreiben Gedichte, spielen Instrumente, verstehen sich auf Astronomie, Medizin, daoistische Lehren oder Glücksspiel und zum Glück des Lesers erfährt man en passant sehr viel über all diese Traditionen. Jin Yongs Geschichten sind viel bunter und kulturell reichhaltiger als alle Wuxia-Romane zuvor.

Die Welt der Kampfkunst trägt einen eigenen Namen, ein zentraler Begriff, der in den Adlerkriegern immer wieder vorkommt und den ich deshalb nicht übersetzt, sondern als Eigennamen stehen gelassen habe: Jianghu.

Der Begriff Jianghu江湖 bedeutet wörtlich jiang „Fluss“ und hu „See“, also „Flüsse und Seen“. Er wurde bereits von dem daoistischen Philosophen Zhuangzi (ca. 365-290 v.Chr.) verwendet, wurde aber erst in der chinesischen Kampfkunst-Literatur seit dem 12. Jahrhundert zu einer Metapher für die Welt der Randständigen, Ausgestoßenen und außerhalb staatlicher Ordnung Lebenden.12 Er ist ein Sammelbegriff für Gemeinschaften mit eigenem Moral- und Ehrenkodex und jeweils eigenen Kampftechniken. Ihre Welt wird auch als Wulin武林 „Wald der Kampfkunst“ bezeichnet. Wuxia武俠 lässt sich als „kämpfender Held“ übersetzen. Nicht alle dieser kämpfenden Helden haben sich der gerechten Sache verschrieben und einig sind sie sich schon gar nicht. Sie sind auf ihre Weise korrupt und verschlagen, sie konkurrieren miteinander, bilden Allianzen und gründen eigene Schulen und streben jeder auf seine Art nach Gerechtigkeit, aber auch nach Größe oder Vergeltung. Und sie sind keine abgeschiedene Welt, sondern existieren unter dem einfachen Volk genauso wie hin und wieder unter der Herrschenden und agieren gerne aus dem Verborgenen, eben als „geduckte Tiger und versteckte Drachen“ Wohu Zanglong臥虎藏龍. Keiner und keine der Protagonist∙innen in den Adlerkriegern, außer dem zentralen Helden Guo Jing, der allerdings etwas naiv und einfältig ist, ist nur gut oder nur böse. Die weitverzweigten Handlungsstränge sind jeweils mit der Kernhandlung, der Entwicklung Guo Jings vom Flüchtlingskind in einer fremden Kultur zum Retter seines chinesischen Mutterlands verbunden. Es ist dieses lebendige personelle Inventar, die große Fantasie des Autors und die unorthodoxe kulturelle Bandbreite der Adlerkrieger, die Jin Yongs Werk zu einem überwältigen Publikumserfolg gemacht haben und ihn selbst zum unbestrittenen Großmeister des Genres.

Ich bin bei der Übersetzung eines Romans, der so vieles transportiert, was der deutschen Leserschaft fremd ist, ständig auf der Suche nach der richtigen Balance zwischen willkommener und störender Fremdheit. Manche Begriffe, wie Jianghu, sind in der internationalen Kampfkunst-Community längst bekannt, aber nicht jede∙r Leser∙in gehört dieser Gruppe an. Letztlich erklärt sich der Begriff im Roman selbst und wem das noch nicht genügt, für den gibt es ein umfangreiches Begriffsglossar im Anhang der Übersetzung.

Ihr Heldentum schützt die Vertreter des Jianghu weder vor Eitelkeiten noch vor Geschwafel, mit beidem stehen sie sich immer wieder erfolgreich selbst im Weg:

Ke Zhen’e ergriff das Wort. „Man nennt uns sechs Brüder und unsere Schwester die Sieben Sonderlinge des Südens. Sonderlinge sind wir, doch sieben Helden genannt zu werden, wie es der werte Jiaomu tut, wäre zu viel der Ehre. Vielmehr verneigen wir uns vor der Kunst der Sieben Jünger der Quanzhen-Schule und bewundern Meister Ewiger Frühling dafür, seine Kampfkunst in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Doch unser Freund Abt Jiaomu hier ist ein großherziger und gütiger Mensch. Es ist uns ein Rätsel, wie er Euch hat erzürnen können, ehrenwerter Qiu Chuji. Es wäre uns eine Ehre, wenn Ihr uns gestattet, in dieser Sache als Vermittler zu wirken. Mag auch der eine Buddhist und der andere Daoist sein, Ihr seid beide Ordensbrüder und würdige Meister des Kungfu. Wie wäre es, wenn Ihr Euren Groll hintanstellt und versöhnlich einen Becher miteinander leert?“ (S.102)

Aus der Versöhnung wird zunächst auch nach drei Kämpfen der sieben Sonderlinge gegen den daoistischen Mönch nichts, zum Leidwesen der arg lädierten Kampfkünstler, aber zum großen Vergnügen der Leser∙innen, die lernen, wie kunstfertig ein schnödes Wettsaufen aus einem mit Schnaps gefüllten, bronzenen Opferkessel ablaufen kann:

„Dann schlage ich vor, ich spendiere Euch allen einen kräftigen Schluck und wir schreiten zum Kampf. Wenn ich den Anfang machen darf …“ Er führte den Rand des Opferkessels an die Lippen und goss sich ordentlich Schnaps in den Rachen. „Hier, Ihr seid dran.“ Er warf den Opferkessel nach Zhang Ahsheng.

Zhang Ahsheng überlegte nicht lange, ging zwei Schritte zurück und breitete die Arme aus. Als der Kessel auf ihn zuschnellte, fing er die Wucht mit seinem breiten Brustkorb auf, schlang die Arme darum, tauchte das Gesicht in die Öffnung und trank. „Köstlich!“

Er öffnete die Arme, hielt den Kessel kurz auf seiner Brust und schleuderte ihn, bevor er herunterfiel, mit der Kraft des Eisenhemd-Kungfu von sich. Zwei Hände bewegen einen Berg nannte man das, doch Hände brauchte Zhang Ahsheng nicht. Wanyan Honglie stand vor Staunen der Mund offen.

Qiu Chuji fing ihn wieder auf und nahm noch einen Schluck. „Meister Ke Zhen‘e, wenn ich bitten darf?“

 Wie soll der Blinde ihn fangen können?, fragte sich Wanyan Honglie. Sein Gedanke verriet seine Unwissenheit über die Talente der Sieben Sonderlinge und ihres Anführers, des Ersten Bruders. Ke Zhen‘e konnte nach Gehör die genaue Position eines fliegenden Gegenstands bemessen. Seelenruhig saß er an seinem Platz und schien sich nicht um Qiu Chujis Gebrüll zu kümmern. In allerletzten Moment erst hob er mit einem Ruck seinen Gehstock an, so dass der Kesselboden auf seiner Spitze landete und ließ dann den Opferkessel darauf kreiseln wie ein Schausteller Teller auf einem Bambusstab. Dann winkelte er den Stab ab, so dass der Kessel kippte und sich ein Strahl Schnaps über den Rand ergoss. Ke Zhen‘e öffnete den Mund, trank ein paar Schlucke und kümmerte sich dabei nicht um den Schnaps, der ihm über die Kutte rann. Dann richtete er den Stab mit leichter Hand wieder gerade und stieß den Kessel in die Luft. Im Herabfallen versetzte er ihn noch einen Schlag mit dem Eisenstab und beförderte ihn so zurück zu Qiu Chuji. Das laute Dröhnen des Schlags hallte lange nach, wie ein Klostergong.

„Darf ich Euch Ke Zhen‘e, den Tellerdreher, nennen?“, lachte Qiu Chuji, als er ihn auffing.

„Gut geraten, das war ich tatsächlich einmal“, entgegnete Ke Zhen’e kühl. „Wir waren arme Leute zuhause, so habe ich uns als Kind etwas dazuverdient.“

„Arm aber tüchtig.“ Qiu Chuji trank einen Schluck und schleuderte den Kessel in die Richtung des Holzfällers. „Zum Wohl, Vierter Bruder Nan!“ (S.105-6)

Wuxia steht für ein literarisches Genre, für die Kampfkünste selbst wird auch der Begriff Wugong  武功verwendet, wu wie Waffe oder Kampf und gong wie Technik. Diese Techniken folgen festen Abläufen, die man als zhaoshi 招式bezeichnet. Weitere Begriffe des modernen Chinesisch sind wushu (Kampffertigkeit), wuyi (Kampfkunst), guoshu (nationale Kunst), wugong (im Sinn von Errungenschaften im Bereich der Kampfkunst) und eben auch einfach gongfu (Fertigkeit). Ich bleibe im Roman und in diesem Journal bei Kungfu, um es dem Leser und der Leserin etwas einfacher zu machen.

Waffen aus der Song-Zeit. Foto: Karin Betz

Die Kämpfenden bedienen sich einer Reihe von Waffen, vor allem Säbeln, Schwertern, Speeren oder Giftpfeilen, aber auch Alltagsgegenstände wie Fächer, Pinsel, Hocker, Pfeifen, Nähnadeln oder Musikinstrumente werden als Waffen eingesetzt, letztere sind oft als emblematische Waffe einer bestimmten Persönlichkeit oder Schule zugeordnet, die ein nur ihre eigenes Kungfu im Umgang damit besitzt. Um mir die einzelnen Sprünge, Tritte, Stellungen ein wenig besser vorstellen zu können, habe ich mir eine Reihe von Fachbüchern zu Kungfu und Qigong zugelegt, darunter Bruce Lees Grundlagen der chinesischen Kampfkunst.

Aus Bruce Lee, Die Grundlagen der chinesischen Kampfkunst (chinesisch). Peking, ohne Jahr.



Aus Lin Housheng, Das Qigong der Shaolin-Mönche (chinesisch). Guangzhou 1988



Abwehrtechniken mit der Hand. Aus Yue Fei, Wuxiu Yishu. Fadengehefteter Blockdruck, o.O., o.J.

Bei Jin Yong werden Kampfszenen bis ins Detail, Hieb für Hieb und Tritt um Tritt beschrieben, mit jeder Technik lernen wir immer auch die Geschichte der jeweiligen Figur kennen und ihren besonderen Charakter. Dazu baut der Autor immer wieder Aspekte der Kampfkunst wie ihre theoretische Basis oder Trainingsformen ein. Zu den wesentlichen ethischen Elementen gehört diandao wei zhi點到為止 – ein Kampf sollte immer nur so lange dauern, bis über Sieg und Niederlage entschieden ist, ohne den Gegner ernsthaft zu verletzen. Dabei erzählt Jin Yong jeden Kampf anders, nichts wiederholt sich und vor allem haben seine Schilderungen stets eine poetische Qualität. Kämpfe gleichen – wie man es aus guten Kampfkunst-Filmen gewohnt ist – Tanzszenen.

„Darf ich bitten?“, sagte er und machte eine Verbeugung.

Ob dieser verwöhnte Bursche denn eine Ahnung vom Kungfu hat?, fragte sich Mu Yi. Bringen wir es hinter uns und verlassen dann die Stadt, so schnell es geht.

„So sei es denn“, sagte Mu Yi. „Ob ich Euch den Mantel abnehmen dürfte?“

„Nicht nötig“, sagte der junge Herr.

Die Menge frohlockte. Der wird sich wundern! Vater und Tochter dagegen sorgten sich darum, den feinen Herrn vor den versammelten Gaffern das Gesicht verlieren zu lassen.

„Mein Herr.“ Die junge Frau erwiderte die Verbeugung.

Der junge Herr warf die Ärmel zurück. Es schien, als wollte er mit rechts angreifen, dann aber schwang sein linker Ärmel mit plötzlicher Heftigkeit vor und seine Faust drohte die rechte Schulter des Mädchens zu treffen. Schnell beugte sie die Knie. Schon sauste sein rechter Ärmel in Richtung ihres Kopfs, doch sie entwischte ihm mit einem Sprung.

„Sehr schön!“, rief der junge Herr und wollte sie auffangen, bevor sie auf dem Boden aufkam. Sie aber wirbelte in der Luft um die eigene Achse und trat nach seiner Nase. Nun sprang er zurück. Sie landeten gleichzeitig wie zwei Schwalben und tauschten bewundernde Blicke. Die junge Frau errötete. Dann griff sie an. Der Kampf ging hin und her, sie tanzten umeinander herum, er ein Blitz aus goldschimmerndem Brokat, sie eine Wolke aus rotbauschender Seide.

Neben der Waffenkunst und den äußeren Kräften waili sind für das Erlangen wahrer Meisterschaft auch das unermüdliche Praktizieren von Meditationstechniken neili vonnöten, die die Lebensenergie Qi stärken sollen. Erst als Guo Jing, der sich viele harte Trainingsjahre unter seinen versierten Lehrer vergeblich müht, ein geschickter Kämpfer zu werden, per Zufall einem daoistischen Meister begegnet, mit dessen Hilfe er seine inneren Kräfte durch die richtige Atem- und Meditationstechnik ausbildet, wird er ein ernstzunehmender Kämpfer.

(...) „Da es dir aber so ernst ist, mein Junge, meint das Schicksal es gut mit dir und ich will dich atmen lehren. Einfach nur atmen und dabei Sitzen, Gehen, Schlafen, nichts Besonderes also.“

Sitzen, gehen, schlafen? Das kann sogar ein Tölpel wie ich, dachte Guo Jing. Aber er hielt lieber den Mund.

„Nun fege den Schnee von diesem Felsblock dort und leg dich darauf schlafen.“

Guo Jing hörte nicht auf, sich zu wundern, wischte aber gehorsam den Schnee von dem Felsblock und streckte sich seitlich darauf aus.

„Mach dir keine Gedanken darum, wozu ich dir diese Dinge beibringe. Konzentriere dich jetzt allein auf die folgenden Worte und merke sie dir gut:

Rein der Gedanke, vergessen das Gefühl,

Leerer Körper, fließendes Qi.

Träge die Seele, lebendig der Geist,

Überschäumendes Yang und verschwindendes Yin.“

 

Guo Jing murmelte die Worte vor sich hin und verinnerlichte sie, ohne zu verstehen, was sie bedeuteten.

„Vor dem Schlaf muss der Geist rein und klar sein, kein Gedanke darf darin zurückbleiben. Dann legst du dich mit geradem Körper auf die Seite. Lass die Seele in deinem Innern tanzen, lass deinen Geist nicht abschweifen.“

Guo Jing hielt sich an die Anweisungen. Zuerst stürmten unzählige Gedanken auf ihn ein, doch die ruhige Stimme des Daoisten half ihm, sich zu konzentrieren. Allmählich kam sein Inneres zur Ruhe. Er spürte, wie eine wohlige Wärme seinen Körper aus dem Bauch heraus durchflutete. Die schneidende Kälte auf der Klippe konnte ihm nichts mehr anhaben. Als er die Augen aufschlug, waren wohl zwei Stunden vergangen, aber trotz der unbequemen Stellung schmerzten ihn weder Hände noch Füße. Vor ihm saß im Schneidersitz der Daoist und sah ihn an. „Schlaf jetzt.“

Guo Jing schlief ein. Als er erwachte, ging im Osten gerade die Sonne auf. Der Daoist band ihm das Seil um die Hüfte und ließ ihn zum Fuß der Felswand ab. Zuvor schärfte er ihm noch ein, niemandem von dieser Begegnung zu erzählen.

Am darauffolgenden Abend ging Guo Jing abermals zur Felswand. Der Daoist hievte ihn mit dem Seil nach oben. Seine Mutter machte sich keine Sorgen, da er oft bis spät in die Nacht mit seinen Meistern übte. So kam es, dass er fortan Nacht um Nacht mit dem Daoisten meditierte.

Das Merkwürdige dabei war, dass der Daoist ihm nicht den Hauch von einer Kungfu-Bewegung beibrachte und Guo Jing dennoch bei seinen täglichen Übungen viel leichter und beweglicher wurde. Ein halbes Jahr verging und dort, wo es ihm früher an Stärke gefehlt hatte, setzte er jetzt spielend seine ganze Kraft ein; dort, wo er früher geübt hatte, als hinge sein Leben davon ab und die Methode doch nie richtig beherrscht hatte, gelang ihm jetzt alles mühelos und vollendet. Die sechs Sonderlinge trauten ihren Augen nicht. Endlich wird der Junge erwachsen!, frohlockten sie. (S.272-73)

Das Kultivieren der Lebensenergie Qi durch innere Stärke dient sowohl dem Angriff wie der Verteidigung. Das so genannte Eisenhemd-Kungfu ist eine Form des inneren Kungfu, bei der die Lebensenergie Qi so geleitet und trainiert wird, dass der Angegriffene in der Lage ist, besonders harte Schläge einzustecken und sie allein durch seine innere Kraft abzuwehren. Auch heute wird in den Kampfkünsten und im Qigong das von Shaolin-Mönchen überlieferte Eisenhemd-Kungfu praktiziert.

Eisenhemd-Kungfu

Jener daoistische Mönch der Quanzhen-Schule13 verfügt auch über eine hervorragende Schwebekunst.

Diese „Kunst der Leichtigkeit“ Qinggong 轻功 ist durchaus eine tatsächliche Form der Kampfkünste, in der Wuxia-Literatur wird sie jedoch ins Fantastische übersteigert: Figuren vermögen die Gravitation zu überwinden und fliegen geradezu einen Berg hinauf, gehen Wände oder Bäume hoch, überwinden weite Distanzen in wenigen, schwebenden Schritten und gehen sogar mühelos über Gewässer.

„So gefällst du mir besser!“, rief Huang Rong und flog mit äußerst anmutiger Schwebekunst durch den Raum. Hou Tonghai folgte ihr, so gut es ging, und verteilte Tritte, jedoch reichte seine Schwebekunst nicht an ihre heran und er traf nicht ein einziges Mal. Die Zuschauer lachten. Huang Rong wahrte stets eine aufrechte Haltung und bewegte sich mit wehender Robe wie auf Wolken fort — anders als Hou Tonghai, der keuchend durch den Saal polterte. Während sie um ihn herumtanzte, hatte er alle Mühe, auszuweichen und dabei seine Schnapsschalen gerade zu halte. (S. 454)

Eine weitere wichtige Technik ist die Berührung bestimmter Nervenpunkte des Gegners, um ihn zu lähmen oder – bei entsprechend niederträchtiger, nicht dem Geist des Wuxia entsprechender Absicht – zu töten. Diese Kunst wird Dianxue 點穴genannt, (wörtlich “Akupunkturpunkte berühren“) und sie kann auch als Heilkunst eingesetzt werden, zum Beispiel um Blutungen zu stoppen oder jemanden zu revitalisieren. Auch die Effektivität dieser Kunst wird in den Wuxia-Romanen zur Fantastik übertrieben.

Neben einem Meister oder einer Meisterin Shifu und der Hingabe an jahrelanges, hartes Training, gibt es, wie es sich für anständige Fantasy-Romane gehört, natürlich auch geheime, oft verschollene Handbücher, deren Besitz und deren Wissen einen Kampfkünstler allen anderen überlegen machen kann. Miji 秘笈 (Geheimschriften) nennt man das und in den Adlerkriegern ist es Der wahre Weg der Neun Yin, hinter dem alle her sind. 

Vor einigen Jahren tauchte ein lange Zeit verschollen geglaubter Text, namens Der wahre Weg der Neun Yin auf, ein Handbuch des geheimsten und gewaltigsten Kungfu sämtlicher Kampfkunstschulen der Welt, mit genauen Anleitungen zum Erlernen dieser Künste. Der Streit darüber, wer der Bewahrer dieser Schrift werden sollte, führte zu einem großen Gemetzel unter den Kämpfern des Jianghu. Dieses Buch zu besitzen bedeutete unermesslich großes Wissen. Sein Hüter würde fortan unbesiegbar sein.

Der Großmeister der daoistischen Quanzhen-Schule, Wang Chongyang ist sein Name, wollte dem Blutvergießen ein Ende bereiten und rief zu einem gerechten Kräftemessen auf. Der Sieger sollte zum Hüter des Wahren Wegs der Neun Yin ernannt werden. Er lud die Größten in der Welt des Jianghu zum legendären ‚Wettkampf des Worts und des Schwerts‘ am Berg Hua ein. Fünf Kämpfer fanden sich dazu unter ihren Schwertnamen ein, unser Meister Huang, genannt Ketzer des Ostens, und außerdem vier Meister namens Gift des Westens, Kaiser des Südens, Bettler des Nordens und Gott der Mitte. Bei Letzterem handelte es sich um Großmeister Wang Chongyang persönlich.

 Am Ende des Wettkampfs stand Wang Chongyang als Sieger da und die anderen vier gestanden ohne Murren ihre Niederlage ein. Alle waren froh, die Schrift unter Wang Chongyangs Obhut zu wissen, denn der daoistische Mönch galt als aufrechter, gütiger und gerechter Kämpfer. Als Mann des Glaubens ging er den Weg der Erleuchtung, weltlicher Ruhm interessierte ihn nicht. Ein so weiser Mensch würde das Wissen und die Macht, die ihm das Handbuch gewährte, niemals zur Unterdrückung anderer missbrauchen. (S. 512)

Es versteht sich von selbst, dass das Buch am Ende doch in falsche Hände gerät …

Dynamische Namen V: Kampfkunsttechniken

Abbildung aus Shediao Yingxiong zhuan 1. Hongkong 2001

Die Zahl der Kampftechniken und Bewegungen, die sich Jin Yong für seine Charaktere und ihre Kämpfe ausdenkt, ist endlos. Einige davon, wie Grundstellungen, Tritte und Faustbewegungen gehören zum Basis-Inventar der Kampfkünste, doch die meisten entspringen der Fantasie des Autors. Jeder einzelne der ständig neuen Charaktere verfügt über eine besondere Technik, die sie oder er meisterlich beherrscht, und deren fatales Ergebnis bisweilen auf die Spur des Urhebers führen kann.

„Haben wir es mit Dämonen oder menschlichen Feinden zu tun?“, fragte Zhang Ahsheng leise.

„Ihretwegen bin ich blind.“

Nun scharten sich alle dicht um Ke Zhen’e, um die Geschichte zu hören. Sein älterer Bruder Ke Bixie hatte dereinst als der Talentiertere der Brüder gegolten. Die Sonderlinge wussten, dass er von einem furchtbaren Gegner getötet worden war und auch, dass Ke Zhen’es frühe Erblindung damit zu tun hatte. Genaueres hatten sie nie zu fragen gewagt. Ke Zhen’e nahm einen der Totenschädel in die linke Hand und ertastete die Löcher. Dann ließ er die Finger seiner rechten Hand hineingleiten. „Sie haben es geschafft“, murmelte er, „sie haben es tatsächlich geschafft.“ Dann, an die anderen gewandt: „Sind auch hier drei Haufen?“

„Ja“, antwortete Han Xiaoying.

„Mit jeweils neun Schädeln?“

„Nur einer hat neun, die anderen beiden acht.“

„Zählt noch einmal die auf der anderen Seite.“

Han Xiaoying rannte flugs dorthin und wieder zurück. „Dort sind es sieben auf jedem Haufen. Sie sind noch ganz frisch … An einigen klebt noch Haut.“

„Gleich werden sie zurückkommen“, sagte Ke Zhen’e, leise und ruhig. Er reichte Quan Jinfa den Totenschädel. „Platziere ihn wieder exakt so wie zuvor. Sie dürfen nicht merken, dass wir hier gewesen sind.“

Quan Jinfa legte den Totenschädel wieder an Ort und Stelle. Alle warteten gespannt auf Ke Zhen’es Erklärung. Er wandte sein wutverzerrtes Gesicht dem Himmel zu und zischte theatralisch: „Kupferleiche und Eisenleiche.“

„Was?“ fragte Zhu Cong erschrocken. „Aber sind die nicht längst tot?“

„Das dachte ich auch. Es sieht jedoch so aus, als hätten sie sich bloß hier versteckt und weiter die Neun-Yin-Todesklaue geübt. Auf die Pferde, meine Brüder und meine Schwester. Reitet so schnell ihr könnt gen Süden und lasst mich hier zurück. Kehrt bloß nicht um! Wenn Ihr fünftausend Li weit weg seid, wartet auf mich. Wartet nicht länger als zehn Tage. Sollte ich bis zum elften Tag nicht bei euch sein, braucht Ihr nicht mehr zu warten.“ (S. 211)

Natürlich werden die Kampfbrüder und die Schwester ihn nicht allein lassen. Was dem sonst so unerschrockenen, blinden Großmeister Ke Zhen’e einen solchen Schrecken einjagt, ist die Neun-Yin-Todesklaue. Sie gehört, wie man diesem Auszug ablesen kann, zu den weniger fairen Kampfkunsttechniken. Eisenleiche und Kupferleiche, ein Paar, das unter dem Namen „Zwillingsmörder der dunklen Winde“ bekannt ist (die Namen, die ihnen ihr Meister gegeben hat, sind Orkan und Wirbelsturm) sind die einzigen, die diese tödliche Kunst beherrschen. Leichen pflastern ihren Weg, keine Frage, doch immerhin ist ihre grausame Vorliebe verräterisch genug, um ihnen auf die Schliche zu kommen.

Die meisten der Kampftechniken werden in vier Zeichen wiedergegeben. Zum Beispiel:  

越女劍法yue nü jian fa – Yue-Frau-Schwert-Methode

Yue ist hierbei ein Familienname, die Frau ist Han Xiaoying, die diese Schwertkunst von ihren Vorfahren gelernt hat. Die englische Übersetzung nennt es „Swordplay of the Yue Maiden“. Das klingt natürlich hübsch nach den holden Mädchen, die uns in alten Märchen begegnen – dort möchte ich sie in einer Übersetzung aus dem 21. Jahrhundert aber auch lassen und Han Xiaoying, die eine ebensolche Meisterin ist wie ihre Schwurbrüder, nicht zu einem unbedarften „maiden“ machen. Daher heißt die Technik bei mir „Schwertkunst der Yue-Meisterin“.

Wie für alle Namen und Beinamen (siehe Dynamische Namen IV – Protagonisten) galt es auch hier, während der Übersetzung ständig Listen anzulegen, um bei den vielen Techniken nicht durcheinander zu kommen und sie konsequent gleich zu benennen.

Hier eine Liste der Künste, die Guo Jing von seinen sieben Meistern, den Sieben Sonderlingen des Südens, beigebracht bekommt:

    Der Dämonen unterwerfende Stock (伏魔杖法)

    Mit bloßer Hand den Gegner entwaffnen (空手奪白刃)

    Muskeln teilen und Knochen brechen (分筋錯骨手)

    Die goldene Drachenpeitsche (金龍鞭法)

    Die Dolchkunst der südlichen Berge (南山刀法)

    Die Berge zerteilende Hand (開山掌法)

    Kunst des Huyan Speers (呼延槍法)

    Schwertkunst der Yue-Meisterin (越女劍法)

Solche Listen lassen sich endlos weiterspinnen. In Buch 2, zu dem ein eigenes Journal folgen wird, werden die Techniken noch ausufernder. Dort lernen wir unter anderem die Bettlerschule kennen, deren charakteristische Kunst die der „Achtzehn Drachen bezwingenden Hände“ ist (降龍十八掌); natürlich hat jede der achtzehn „Hände“ einen eigenen Namen, darunter so schöne wie „Dunkle Wolken ohne Regen“ oder „Elegant abtauchender Schwan“.

Zum Schluss: Dynamik der Poesie I - Der Dialog zwischen Romanhandlung und Gedicht

Immer wieder werden in den Adlerkriegern Gedichte zitiert und rezitiert, einige davon hat sich der Autor ausgedacht, viele andere gehören der klassischen Dichtkunst der Tang- und Songzeit an. Keins dieser Gedichte ist reines Schmuckwerk – sie kommentieren die Handlung, geben Aufschluss über die handelnden Personen oder treiben selbst die Handlung voran. Im folgenden Beispiel erzählt der Text sogar selbst, wie die Geschichte eines Gedichts den Verlauf der Handlung spiegelt und vorwegnimmt. Mei Chaofeng, die die Leser∙innen zuerst als bösartige Mörderin kennenlernen, erinnert sich an ihre Vergangenheit und wir lernen ihre tragische Vorgeschichte und ihre Verletzlichkeit kennen. Unvermittelt wechselt der Text zum ersten Mal vom auktorialen Erzähler zur Ich-Erzählerin.

So verging die Zeit. Mit fünfzehn Jahren war aus mir ein hochgewachsenes Mädchen mit langem, seidigem Haar geworden. Zuweilen betrachtete ich mich im Spiegel des Wassers und fand mich schön. Hin und wieder bemerkte ich, wie Bruder Qus Blicke auf mir ruhten und senkte beschämt den Kopf. Er war mit seinen dreißig Jahren doppelt so alt wie ich, ein großer, hagerer Mann, unserem Meister nicht unähnlich. Anders als unser Meister hatte er einen Hang zur Melancholie, immerzu war er nachdenklich und nie schien er fröhlich zu sein. Nur, wenn er mit mir zusammen war, brachte er mich mit albernen Scherzen zum Lachen. Gerne zeigte er mir Meister Huangs Kalligrafien klassischer Dichtkunst.

Eines Tages legte er wortlos eine dieser Kalligrafien auf mein Schreibpult:

 

Die eine warf auf der Treppe ein Münzspiel,

der andere ging an der Treppe vorüber

Kaum sah ich dich, bliebst du in meinem Herzen

und bist es heute mehr denn je

 

Es war der ausdrucksvolle, kantige Pinselstrich meines Meisters, in tiefschwarzer Tinte auf weißem Papier. Doch diese Zeilen ließen mich verwirrt zu Bruder Qu aufsehen. Er wirkte anders als sonst, seine Augen hatten einen befremdlichen Glanz. „Hat unser Meister das geschrieben?“, fragte ich zaghaft.

Er nickte und legte ein zweites Blatt auf das erste, auch dieses zeigte die kühne und klare Schrift meines Meisters.

 

Weiden des Südens,

die jungen Blätter noch zart und hell.

Vierzehn, fünfzehn

schweifen suchend mit der Pipa umher.

Kaum sah ich dich, bliebst du in meinem Herzen

und bist es heute mehr denn je.

 

Irgendetwas stimmte nicht. Mein Gesicht wurde ganz heiß, mein Herz klopfte wie wild. Ich wollte aufstehen und davonlaufen.

„Bleib sitzen, kleine Schwester.“

„Hat das ebenfalls unser Meister geschrieben?“ Meine Stimme war nur noch ein Hauchen.

„Sicher, das ist seine Handschrift, das Gedicht stammt jedoch von Ouyang Xiu.“

Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus.

„Es heißt, dass Ouyang Xiu in diesem Gedicht den Gefühlen für seine Nichte Ausdruck verliehen hat. Als sie zwölf war, beobachtete er sie, wie sie lachend im Hof mit einer Freundin Münzenwerfen spielte und war bewegt von ihrer natürlichen Schönheit. Mit fünfzehn fand er sie noch entzückender, aber er war mit seinen fünfzig Jahren viel zu alt für sie und ihm blieb nur, seine Gefühle im Herzen zu bewahren und sie in seine Dichtkunst einfließen zu lassen. Als er anderen das Gedicht zu lesen gab, verursachte es einen Skandal. Ouyang Xiu war damals ein hoher Beamter und vielgerühmt für seine Tugend und Gelehrsamkeit. Doch seine Zeitgenossen empörten sich über diese Verse und er wurde verfemt und geächtet. Dabei hatte er in seiner Verehrung für die junge Nichte nicht ein einziges Mal die Grenzen des Anstands überschritten, denn nie hatte er der besungenen Sehnsucht in Taten nachgegeben. Was glaubst du wohl, warum unser Meister ausgerechnet dieses Gedicht so schätzt, dass er es wieder und wieder mit dem Pinsel schreibt?“ (S. 503-5)

Der Meister schätzt in diesem Fall sehr viele Gedichte – und die Übersetzerin muss nebenbei eine ganze Reihe von Gedichten übersetzen, von denen es keine oder nur unbefriedigende Übersetzungen gibt, von bekannten Genies wie Ouyang Xiu oder Li Bai14 bis zu hierzulande weniger gelesenen Dichtern wie zum Beispiel Xin Qiji. Xin Qiji辛弃疾 (1140 bis 1207) war ein bedeutender Feldherr, Politiker und Dichter der Song-Zeit. Er wird von Jin Yong nicht von ungefähr zitiert, denn auch seine Biografie ist die eines patriotischen Helden, der versuchte, den Jin-Invasoren die Stirn zu bieten. Nach der Teilung des Song-Reichs fiel er politisch in Ungnade und verbrachte die letzten zehn Jahre seines Lebens als Dichter in Abgeschiedenheit in der südlichen Provinz Jiangxi. 620 seiner Gedichte sind überliefert und viele, wie das im Roman zitierte Gedicht enthalten Anspielungen auf die politischen Spannungen seiner Zeit, verbunden mit allegorischen Betrachtungen der Natur.

Von Xin Qiji liegen so gut wie keine Übersetzungen ins Deutsche vor. Nun ist die eingangs erwähnte Vieldeutigkeit jedes Schriftzeichens gerade in der Lyrik Programm, viele Zeichen geben auch dem modernen chinesischen Leser im Kontext der Gedichtzeile Rätsel auf, weshalb Ausgaben von klassischer Dichtung oft von einer Übersetzung ins moderne Chinesisch begleitet werden. Diese Übersetzung ist natürlich auch nur eine Interpretation ... Es bleibt nichts anderes übrig, als das Gedicht Zeichen für Zeichen zu analysieren und in langsamen Schritten zu einer Übersetzung zu gelangen, die der poetischen Qualität des Originals halbwegs gerecht wird, Vieldeutigkeit wahrt, nichts erklärt und doch verstanden wird.

Um das zu verdeutlichen, nehme ich das Gedicht Xin Qijis als Beispiel. Es wird im vorletzten Kapitel des Romans von Huang Rong gesungen, die auf einem Boot in einer verschneiten Landschaft versucht, dem unbedarften Guo Jing ein wenig Sinn für Romantik beizubringen.

Guo Jing und Huang Rong am See. Abbildung aus Shediao Yingxiong zhuan 1. Hongkong 2001

So sieht eine Zeichen-für-Zeichen-Übersetzung aus:

雁霜寒透幕。(Wildgans        Frost    kalt/Winter      Vorhang/Fenster)

正护月云轻,嫩冰犹薄。(ganz       bewacht           Mond  Wolke              leicht, zart         Eis         sehr dünn)

溪奁照梳掠。(Bächlein         Spiegel              Kamm                klar)

想含香弄粉,艳妆难学。(denken/wünschen        beinhalten       Duft      Puder  farbenprächtig             Dekoration      schwer              lernen)

玉肌瘦弱。(Jadehaut             dünn    fragil)

更重重、龙绡衬著。(schwerer        schwer               Drache               Seide   Ärmel  schreiben)

倚东风,一笑嫣然,转盼万花羞落。(lehnen/geneigt     Ostwind              ein        Lächeln natürlich, drehen       zehntausend   Blüten               Scham               fallen)

 

 寂寞。(Einsam/Einsamkeit)

家山何在,雪后园林,水边楼阁。(Heimat/Familie         Berg     wo,               Schnee              nach     Wäldchen, Ufer            Pavillon)

瑶池旧约。(Jadeart  See       alter     Schwur)

鳞鸿更仗谁托。( Fischschuppen      Kranich              wieder               wem     geben)

粉蝶儿只解,寻桃觅柳,开遍南枝未觉。(bunt  Schmetterling nur               erkunden, suchen       Pfirsisch            schätzen              Weidenbaum, öffnen überall Südzweige       kein      Gefühl)

但伤心,冷落黄昏,数声画角。(aber       verletzt             Herz, entlässt             fallen   gelb      Dämmerung, viele       Töne    Bild/Farbe              Ecke/Horn)

 

Beinahe jede Zeile des Gedichts gibt Rätsel auf. Erst lange Recherchen ergeben zum Beispiel, dass „Fischschuppen“ und „Kranich“ in der drittletzten Zeile in der Song-Zeit zusammengenommen „Brief“ oder „Botschaft“ bedeuteten. Und redet die letzte Zeile von Klängen in einem farbigen Bild oder von farbigen Hörnerklängen? Hier hilft nur das Wissen um den historischen Hintergrund und nach und nach entsteht die Szene vor dem Auge: Die zarte Pflaumenblüte, die hier einsam vom kalten Vorfrühlingsschnee bedeckt wird, an einem See, in dessen Spiegelung eine Frau ihr Haar kämmt und dabei die bedrohlichen Hörnerklänge herannahender Truppen vernimmt. Vielleicht gibt es auch keine Frau und auch die Jadehaut, das schwere Gewand usw. sind Metaphern, die die Pflaumenblüte zu einer einsamen Frau machen.

Ich habe am Ende eins von zahlreichen möglichen deutschen Gedichten daraus gemacht. Dieses Gedicht und seine Verwendung in den Adlerkriegern ist so typisch für Jin Yongs große Kunst, einen wilden Kampfkunst-Roman mit lebendigem kulturellen Wissen, Poesie, Witz und politischer Allegorie zu füllen, dass ich es gern als vorläufiges Innehalten inmitten der Dynamik meines Journals nehmen möchte.

*

 

Gedicht auf die Melodie Der glückverheißende Kranich:15

Der Frost des Wildgansflugs

dringt durch die Papierfenster.

Der Mond von Dunst behütet, zarter Raureif überall.

Das Haar gekämmt

im Spiegel des Flusses,

Ohne Duft und Puder, wie soll sie sich schmücken?

Zerbrechliche Jadehaut,

Schicht um Schicht, ein Kleid aus schwerer Seide.

Gegen den Ostwind gelehnt,

lässt ein einziges zartes Lächeln

zehntausend Blüten verschämt herabfallen.

 

Einsamkeit.

Wo ist der Berg der Kindheit,

der schneebedeckte Garten? Der Pavillon am Seeufer?

Wem die Botschaft anvertrauen

für das Stelldichein am Jadesee?

Der Schmetterling sucht nur Pfirsisch- und Weidenbaum,

die Blüten des Südens kümmern ihn nicht.

Traurig fallen sie durch die kalte Dämmerung,

zu den fernen Klängen der Hörner. (S. 424-25)


Im August 2021 erschien Band 2 Der Schwur der Adlerkrieger und mit ihm das Fortsetzungsjournal von Karin Betz: Über die Kinetik von Namen, Körpern und Kulturen 2. Ein dynamisches Journal zur Übersetzung des Romans Der Schwur der Adlerkrieger von Jin Yong

 

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©Alexander Neroslawski

Karin Betz, Sinologin aus Frankfurt, hat lange in China, Japan und Argentinien gelebt. Sie kann ein bisschen Karate, aber kein Kungfu, übersetzt chinesische und englische Literatur, ist Vorstandsmitglied der Weltlesebühne, Mitglied der HoKo des VdÜ und gehört der Jury des Paul-Celan-Preises an. Daneben schreibt sie Artikel, ist Dozentin für das Fach „Kultur übersetzen“ an der Uni Göttingen, moderiert Lesungen und eine Radiosendung und ist DJ für Tango.

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