Journale Prosa Es ist eine Frucht!

Es ist eine Frucht!

Journal zur Übersetzung von Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand? von Dany Laferrière

Das Journal
Radiostück von Andreas Hagelüken zu Walt Whitmans Leaves of Grass
Fotos von Robert Walker. 1916 (Ardmore, Pennsylvania) – 1992 (Tucson, Arizona)

Das Journal

Zusammenfassung des Romans

Der Roman1 ist aus der Ich-Perspektive eines jungen Schwarzen geschrieben. Er hat mit seinem ersten Buch in Kanada und Frankreich einen großen Erfolg geerntet, aber in den USA sorgte nur der (sexuell) provokative Titel für Aufsehen. Der junge Schriftsteller sagt sich, nicht der Titel, sondern das Land müsse sich ändern und unternimmt eine Reise durch Amerika, wie einst Jack Kerouac.
Dany Laferrière bemüht sich bei diesem Reportageroman um einen Blick ohne Affekt. Die Welt der Weißen und die Welt der Schwarzen, in einer panoramischen Sicht. Ebendies wurde in den Kritiken hervorgehoben, als das Buch 2002 in den USA erschien: Noch nie habe ein Schriftsteller ein so vollständiges Bild der amerikanischen Gesellschaft mit ihren Schichten und Milieus über den gesamten Raum gezeichnet.
Es ist ein Roadtrip im Greyhound-Bus, im Leihauto und per Autostop vom kanadischen Montréal durch die USA. Der Erzähler beschreibt seine Begegnungen, die manchmal auch vom Alltagsrassismus gefärbt sind. Sein Vorteil: Er stammt aus der Karibik und ist daher nicht so involviert in die Auseinandersetzungen zwischen Schwarz und Weiß in den Vereinigten Staaten, mit ihren Grabenkämpfen und ihrer langen schmerzvollen Geschichte. Er fragt die Afro-Amerikaner·innen nach ihren Auffassungen und zeigt so einmal ihre Gegenperspektive, etwa wenn sie nur eine Literatur der Weißen für das Geld der Weißen erkennen können. Seine Intention mit diesem Buch: die Schwarzen sollen sagen, „endlich schreibt ein Schwarzer einmal so über uns, wie wir es gerne hätten“. (S.48) Dazu führt er (fiktive) Gespräche mit James Baldwin, Spike Lee und dem Rapper Ice Cube, vermittelt darin seine eigene Sicht auf die Probleme zwischen Schwarz und Weiß, die für die deutschen Leser·innen vielleicht überraschend ist.
Der Ich-Erzähler interessiert sich für die gesamte Gesellschaft Amerikas und er möchte sich nicht auf die bekannten Sehweisen beschränken. Er sammelt, was er aus Büchern und Zeitungen erfährt oder was andere ihm berichten über kritische Themen wie Sex, Drogen, Gewalt, Ausschreitungen der Polizei, Migration und Rassenkonflikte. Ihn interessiert, was seit Reagan passiert ist, die zunehmende Gewalt und der Niedergang in der internationalen Bedeutung, der Amerikanische Traum und seine Brüchigkeit.

Fans von Dany Laferrière werden auch sein Lieblingsthema, die Beziehung zwischen der Weißen Frau und dem Schwarzen Mann, wiederfinden – in diesem Buch zeigt sich, dass es dabei im tiefsten Grund um die Situation der Frau, auch der Schwarzen Frau, geht.

Das Buch ist fesselnd, da der Autor fähig ist, etwas aufzuzeigen, ohne zu theoretisieren. Es sind kleine, mit scharfer Beobachtung geschilderte Szenen. In ihrer Auswahl und in ihrer Sprache sind sie bezeichnend und auf intelligente Weise amüsant. So schildert der Roman detailreich und anschaulich die politische Landschaft der USA. Es gibt ein Kapitel über die Romanautorin Ayn Rand, die mit ihrem radikalen Liberalismus den Grundstein der rechten Ideologie in den USA legte, oder eines über George Roche, den Direktor der Hillsdale University. An diesem Beispiel zeigt sich die Doppelmoral im intellektuellen und politischen Milieu, die regelmäßig zu großen Skandalen führt. Und dennoch ändert sich nichts, weder an der Heuchelei noch am herrschenden religiösen Fundamentalismus. Nach Laferrières eigenen Angaben hat er alles gesammelt, was die Behauptung der amerikanischen Größe so falsch klingen lässt.
Wie immer wählt Laferrière ein poetisches Werk, das einen weiteren Hintergrund zu seinem eigenen Text bildet. Hier ist es die große Gedichtsammlung von Walt Whitman (1819-1892), Leaves of Grass2, geschrieben während und nach dem Bürgerkrieg (1861-65) in dem Bestreben, die zerstrittenen Teile im Norden und Süden der Vereinigten Staaten zu versöhnen. Dieser Gesang, der alle in diesem Land Lebenden, unabhängig von ihrer Hautfarbe, erfassen und einschließen will, ist heute wieder (oder immer noch!) aktuell.
Auch wenn Laferrières Roman schon 2002 erschienen ist, die Leserin wird entdecken, wie hellsichtig, zutreffend und genau der Autor Amerika in den Blick genommen hat. Er gibt ein Beispiel für das besondere Vermögen der Literatur, in die Tiefe zu gehen, wo sich die heutige Flut der Bilder bestenfalls an der Oberfläche bewegt.
Ein extrem wichtiger Beitrag zu den Debatten in Deutschland, mit vielen neuen Argumenten und einer befreienden Sicht auf die Fragen um Rasse, Kultur und Identität.


Zur Übersetzung

„Auch wenn Laferrières Roman schon 2002 erschienen ist, die Leserin wird entdecken, wie hellsichtig, zutreffend und genau der Autor Amerika in den Blick genommen hat. Er gibt ein Beispiel für das besondere Vermögen der Literatur, in die Tiefe zu gehen, wo sich die heute so vorherrschenden Bilder bestenfalls an der Oberfläche bewegen“.

Hier möchte ich herausarbeiten, welche Mittel Dany Laferrière anwendet, um diese Wirkung zu erzielen, und wie ich sie in der Übersetzung nachbilden kann. Dany Laferrière wendet mehrere literarische Tricks an, um jedes Theoretisieren, aber auch jede Bedeutungsschwere zu vermeiden, und dennoch seinen Standpunkt recht deutlich auszudrücken. Nach eigenen Aussagen ist er „nicht lustig“ (pas drôle), und doch verleitet sein Text häufig zum Lachen oder zumindest zum Schmunzeln.


Der Erzähler

Dies liegt zunächst an der distanzierten, lockeren Erzählhaltung, die mit einem Paradox, einer Überraschung, einem Wortspiel, immer wieder eine tiefere Aussage freilegt.

Der Erzähler im Roman nennt seine Reportage über die USA „eine Fotografie der amerikanischen Sensibilität.“ (S.38) Der Satz enthält ein Paradox3, da der Definition nach ein Foto nur ein Abbild ist, das Wort „Sensibilität“ jedoch auf weitere, innere Anteile hindeutet – der Erzähler unterstreicht damit bereits die Vielschichtigkeit seines Vorhabens.
Eine tiefere Schicht erreicht er unter anderem durch Nuancen in der Kommunikation mit den Gesprächspartner·innen, die er auf seiner Reise interviewt und mit der Art, wie er dies wiedergibt. Etwa wenn eine junge Frau ihm nie direkt auf seine Frage antwortet und ihn mehrfach auflaufen lässt.

„Wie war Ihre erste Begegnung mit dem Buch?“
„In einer Buchhandlung …“

Der Ich-Erzähler war ihr wohl zu selbstgefällig, am Schluss des Kapitels („Eine Begegnung“ S.279ff) hat sie IHN an der Nase herumgeführt.

Ein weiterer Trick der Distanzierung ist das Nicht-Schreiben-Können, das Problem mit der Blockade. Der Erzähler gestattet uns vermeintlich einen Blick in sein Inneres, aber genau dies ist immer wieder Quelle von Ironie, da das Buch, das wir gerade lesen, ja existiert.

Für die Übersetzerin ist entscheidend, die Spannung, die der Autor aufbaut, in der Schwebe zu halten, genau wie beim Witzeerzählen, um die Pointe nicht zu verraten. Es darf nichts zu früh durchscheinen.

Überdies haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der sich häufig irrt. Wie es Journalisten zu tun pflegen, ordnet er sein Gegenüber rasch ein, gibt seinen ersten Eindruck wieder, wird meist aber gezwungen, ihn umgehend zu revidieren. Es gibt dafür einige Beispiele, besonders stark ist der Widerspruch in der Barszene (S.104-106), wenn der Erzähler vermutet, der großkotzige Gast, der Champagner bestellt, würde bestimmt demnächst Suizid begehen. Hier scheint der Autor sein eigenes Motiv ins Lächerliche zu ziehen, aber dieses Gedankenspiel des Erzählers dient auch dazu, seine Abneigung gegen solche Aufschneider zu unterstreichen.

Im Kapitel „Reise mit einem südamerikanischen Ehepaar“ wirft der Erzähler zunächst einen sympathisierenden Blick auf seinen Sitznachbarn, „einen einfachen Mann“. In gewisser Weise wird dieser Eindruck mit dem Ausgang der Episode bestätigt, allerdings in krasser Weise, denn das nette Paar ist offenbar gezwungen, sein Geld als Drogenkuriere zu verdienen, mit einem „Kofferbaby“.

„So ist es häufig: Man lernt jemanden kennen, der unauffällig wirkt, aber sobald man etwas an der Oberfläche kratzt, hat man es mit einem griechischen Mythos zu tun.“ (S.84) An dieser Stelle zeigt sich eine weitere Funktion des „irrenden Erzählers“: er widerruft den ersten Eindruck, die vorgefasste Einschätzung, aber auch die darin enthaltenen Werturteile und Stereotype.

Das Motiv des irrenden Ich-Erzählers ist also mehr als eine Dekonstruktion des auktorialen Erzählens, es vermittelt eine skeptische Haltung gegenüber der Realität in den USA und hinterfragt die Bilder und Vorstellungen von diesem Land. Das Motiv könnte auch zur witzigen Demontage des Ich-Erzählers beitragen, doch dies geschieht nicht, weil er selbst genügend Distanz zu seiner eigenen Wahrnehmung hat – dies ist meines Erachtens ein wichtiges Ergebnis seiner Reportage und eminent politisch. Eine tastende Herangehensweise wird eingeführt, es wird immer der Fall konkret im Detail beschrieben und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Das betrachtet der Ich-Erzähler im übrigen als Freiheit – die Freiheit von Festlegungen. Als Vorbild dient ihm dabei sein alter Freund Bouba, den die Leserin schon aus Die Kunst einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden kennt,

„Seine Gedanken sind wirklich frei. Oft ändert er seine Meinung mitten im Satz.“ (S.57)

Neben aller Leichtigkeit und Lebensfreude schildert der Ich-Erzähler aber auch seine anderen Erfahrungen mit Amerika, als er nach seiner Flucht aus Haiti zunächst die unterste Gesellschaftsschicht kennenlernte und sich als Tagelöhner über Wasser halten musste. Er nimmt die sozialen Unterschiede immer wieder wahr und zeigt sie ungeschminkt auf.

Bin ich der Griot dieses schäbigen Amerika, immer am Rande einer Überdosis, mit dem Gesicht an der Wand, in Handschellen und dazu zwei Polizisten im steifen Nacken? Dieses Amerika, das beim Leben noch einen Rabatt herausschlägt, das immer sein Geld zählt, das Amerika der Einwanderer, der Schwarzen, der völlig plan- und mittellosen Weißen Frauen? Das Amerika der leeren Blicke und des fahlen Morgengrauens? (S.35)


Wie übersetzt frau Laferrière?

Wenn ich schreibe, verwende ich „frau“ nicht gerne, ich vermeide daher Satzkonstruktionen mit „man“. Nun habe ich es aber mit der Literatur von Dany Laferrière zu tun, wo „frau“ in anderer Weise herausgefordert ist, nämlich durch Szenen mit explizitem Sex. Genau wie der Witz lebt die Wirkung des expliziten Sex von den Feinheiten und der Präzision. Relativ früh in meiner Laufbahn übersetzte ich Hard Core4 von Linda Williams, seither habe ich bei Sex und Erotik keine Berührungsängste mehr, das galt für Assia Djebar mit Nächte in Straßburg ebenso wie für Dany Laferrière (besonders mit Die Kunst einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden).

Ich gehe davon aus, dass die Wirkung in den Wörtern liegt, in ihrer Anordnung, in einem Zusammenspiel von aufgerufenem Bild, dem Kondensieren und Gleiten zwischen den Silben und ihren semantischen Anspielungen im Vorbewussten, die im weiteren das Unterbewusste der Leserin ansprechen, so dass die Aussage ständig zwischen Sinn und Un-Sinn (oder einem anderen Sinn) schwankt und worin die Lust an der Sprache besteht, wie Julia Kristeva es in La révolution du langage poétique beschreibt.5
Die Herausforderung ist, den Text so raffiniert zu gestalten, als Autorin, aber eben auch als Übersetzerin, dass dieser Prozess eines semantischen Gleitens in Gang kommt. Ich sehe durchaus eine Parallele zwischen dem Aufbau einer literarischen oder auch einer körperlichen, erotischen Spannung und der Spannung in der Poesie, wie sie Julia Kristeva beschreibt.

Wie erreiche ich also, dass die Leserin beim Lesen von Dany Laferrière lacht?

Handwerklich lege ich für die Feinheiten zunächst einmal Wortfelder an, die kleine Variationen aufweisen, etwa für

sauter: flachlegen, über jemand herfallen, bespringen, aufreißen

An einer Stelle brachte „die sofort bereit war, sich mir hinzugeben“ die beste Wirkung. (S.116)

Für lancer (en parlant): einwerfen, entgegnen, entgegenhalten, kontern, einwenden, versetzen, zurückgeben, erwidern, zurückschießen, abstreiten, entkräften, widerlegen, abwehren, zurückweisen, antworten.

Ein schillerndes Wort, das im Französischen viele Bedeutungen hat, im Deutschen muss ich mich entscheiden, ist sophistiqué: gediegen, vornehm, anspruchsvoll, angesehen, blasiert, edel. Hierbei denke ich an das gruselige Mörderpärchen von Mutter und Sohn. (S.161ff)

Um einen spezifischen Quebecer Ausdruck zu nennen: cul terreux. Das sind nicht unbedingt „Bauern“ die dieser etwas veraltete Ausdruck im Französischen bezeichnet, sondern „Banausen, Provinzler, Hinterwäldler, Ungebildete.“

Häufig erreicht Laferrière die Wirkung mit Frechheit und Provokation – mit Vorstößen hart an den Rand der Political correctness oder des guten Geschmacks.

Doch Obacht, das ist vermintes Gelände für die Übersetzerin, etwa im Beispiel: „eine Frau ist am nächsten Morgen: „überflüssig, nutzlos, uninteressant, unbrauchbar, „wie ein nicht angeschlossener Kühlschrank“ (S.118) – die Provokation ist beim Erzähler mutwillig, und doch dosiert.

Die Wortfelder begünstigen diese notwendige Dosierung, sie bestimmt über den Ton!6

Der Witz liegt sowohl in der Wortwahl, wie auch in der Stellung und Beziehung der Wörter zueinander. Ich nehme die Bilder des französischen Textes und wende sie konsequent ins Deutsche, verteile sie eventuell anders im Satz, damit sie in der Übersetzung ihre Wirkung entfalten:

Zum Beispiel für das Wortspiel conneries congelées:

Arrête de raconter tes conneries congelées. (S.120)

1. Lösung:„Hör auf, deinen eingemachten Blödsinn zu sabbeln“, blaffte er.

2. Lösung: Hör auf, deinen abgestandenen Blödsinn zu verzapfen“, blaffte er. (S.99)

Die hübschen Assonanzen von „raconter des conneries congelées“ sind im Deutschen vom Redesatz z.T. in die Inquit-Formel übergegangen.

Ein anderes Beispiel, die umwerfende Wirkung von Bouba:

Et la jeune femme que je venais de rencontrer dans un bar, déjà si intriguée par Bouba. Le voilà parti me laissant encore une fois un cadavre sur les bras. (S.69)

1. Lösung: „Die junge Frau, die ich gerade in einer Bar getroffen hatte, ist von diesem Bouba völlig beeindruckt. Schon wieder ist er weg und ich stehe da mit einer leblosen Frau/Leiche am Hals.

2. Lösung: Die junge Frau, die ich gerade in einer Bar getroffen hatte, ist von diesem Bouba schwer beeindruckt. Schon wieder ist er weg und an meinem Arm hängt eine leblose Frau. (S.57)

Jeweils die zweite Lösung blieb in der Übersetzung stehen, denn sie klingt natürlicher, die Passage ins Deutsche ist leichtfüßiger, aber auch weniger grotesk – Laferrière deutet das Groteske meist nur an. Außerdem kann die Wirkung eines provozierenden Wortes in der einen Sprache stärker sein als in der anderen, das gilt es manchmal auszutarieren (etwa in diesem Fall das Wort „Leiche“ im Deutschen).

Bei Laferrière steht die Aussage oft zwischen den Zeilen, die Leserin muss sie sich erschließen und es trägt zum Lesevergnügen bei, ihm in seinen geistreichen Volten zu folgen. Der Erzähler richtet eine Situation ein, schafft eine Atmosphäre, die die Leserin zu kennen glaubt, sie geht mit, plötzlich erscheint ein neuer Blickwinkel. Wenn es die Perspektive des Unterlegenen ist, wird die Aussage subversiv. Das Lachen (oder Schmunzeln) ist dann entgrenzend, befreiend – und bringt zugleich eine Erkenntnis, regt zum Nachdenken an.

Als Beispiel für den spezifischen Humor in diesem Buch greife ich folgende Passage aus einem Kapitel heraus, das als Ganzes in einer ironischen Schwebe ist, die immer wieder ins Bodenlose abzugleiten droht, nämlich „Eine Party in Beverly Hills“:

Da kam Warren Beatty endlich mit einem sehr jungen Mädchen aus dem Badezimmer. Ich erfuhr, das war Drew Barrymore. Shirley McLane ging dicht an mir vorbei und ich hörte, wie einer sagte, ihr Guru habe sie soeben verlassen. Wieder dieses Lachen. Wer ist das, fragte ein Mann, der an einer Karotte knabberte. Der Prinz. Kennen Sie den neuen Liebhaber von Madonna noch nicht? Angeblich hatte sie ihn in einem kleinen Dorf in Nordafrika getroffen. Seine Großeltern waren die letzten Könige von Benin. Er wusste nicht mal, wer Michael Jackson war. In Amerika kannte er niemanden außer Madonna. Anscheinend war er großartig. Was er machte? Er war großartig, mehr nicht. Nur Madonna konnte sich an Ort und Stelle begeben, um den letzten echten afrikanischen Prinzen aufzulesen. Als Madonna ihn entdeckte, lag er gerade von Flöhen übersät in einer kleinen strohgedeckten Hütte im Sterben. Die erbauliche Geschichte von Madonna und dem afrikanischen Prinzen machte an jenem Abend die Runde. Madonna funkelte. Der Prinz stopfte sich voll. [...] Michael Jackson stellte den Prinz seinem Affen vor. Sie erkannten sich wieder. Zwei alte Freunde aus dem Busch. Ein Kommen und Gehen. Das Fest wurde langsam interessant. Aber Michael Jackson (er erschien immer zuletzt und ging zuerst), Madonna und der Prinz waren schon weg. Nachdem die königliche Familie nicht mehr anwesend war, stürzten sich die Untertanen mit Heißhunger auf die Platten mit Petit-Fours, die sie zuvor scheinbar nicht beachtet hatten.

Es zeigt sich in dieser Passage, wieder einmal zwischen den Zeilen und nur im Ergebnis, dass die Fallhöhe für die Promis auf der Party, Madonna, ihr Prinz und Michael Jackson, vielleicht etwas weiter oben beginnt, dass sie aber alle auf demselben existenziellen Boden landen werden. Bei dem Prinzen, dessen afrikanischer Adel reine Hochstapelei war, denn er stammt aus Port-au-Prince auf Haiti, fügt der Autor dann das Wortspiel hinzu: „Il n´y a qu´un prince pour naître à Port-au-Prince.“ (S.243)

Es war bei diesem Projekt einer der wenigen Sätze, für den ich den Autor um eine Erklärung gebeten habe. Meine differentielle Fragestellung an ihn lautete:

D´après Walter Benjamin, il me faut trouver ´l´intention signifiante´:
Est-ce que la phrase se réfère simplement au nom de la ville, c´est le Port d´un Prince?
s´agit-il d´un seul Prince?
ou tous ceux qui naissent à Port-au-Prince seraient des princes?
si l´on rencontre quelqu´un de Port-au-Prince, ça doit être un prince?
si l´on voit un prince, il est sûrement né à Port-au-Prince?

Nach Walter Benjamin muss ich „die Art des Meinens“ herausfinden:
Bezieht sich der Satz nur auf den Namen, „Prinzenhafen“?
handelt es sich um einen einzigen Prinzen?
oder wären alle in Port-au-Prince Geborenen Prinzen?
heißt das, wenn man einem aus Port-au-Prince begegnet, dass er ein Prinz ist?
oder wenn man einen Prinzen sieht, dass er bestimmt in Port-au-Prince geboren ist? (S.208)

Dem Autor war es ein wenig peinlich, darauf antworten zu müssen, er habe nur ein Wortspiel gemacht und sich nicht so viel dabei gedacht. Er behauptete, er wollte die Leser nur auf den Namen „Prinzenhafen“ aufmerksam machen, weil er meinte, dies werde immer vergessen, wenn man von der haitianischen Hauptstadt spricht. Wer diesen Autor gelesen hat, weiß aber, dass er sich selbst tatsächlich für einen Prinzen hält.

Manche Ausdrücke wirken durch ihre Wiederholung witzig, durch die Verknüpfung, wie sie zuvor und nun an dieser Stelle verwendet werden, sie sind wie der Ring in der Nase der Leserin, an dem der Autor sie durch den Text führt. Solche Schlüsselwörter sind für das Funktionieren des Gesamttextes entscheidend und in der Übersetzung müssen sie im Deutschen ebenfalls gut funktionieren.
Zum Beispiel ist paumé ein solches Wort, das häufiger vorkommt. Ich übersetze es mit „ohne Plan“, denn ich bilde mir ein, dass das Anfangs-P noch den kleinen Rest Verächtlichkeit mitbringt, der für den Ton wichtig ist,– und sehe bei Proust meinen Eindruck bestätigt:

„C´est la princesse de Guermantes“, dit ma voisine au monsieur qui était avec elle, en ayant soin de mettre devant le mot princesse plusieurs p indiquant que cette appellation était risible.“7

Doch welche Überraschung dann in der deutschen Übersetzung von Proust:

„Das ist die Fürstin von Guermantes“, sagte meine Nachbarin zu dem Herrn, der sie begleitete, sie ließ dabei vor dem Worte Fürstin eigens mehrere f aufklingen, um zu zeigen, dass die Bezeichnung lächerlich sei.“8

Banco! Am wirkungsvollsten drückt im Deutschen wahrscheinlich der Anlaut Pf die Verachtung aus – doch ist er in der französischen Sprache nicht zu finden.


Intertextualität

Dany Laferrière benutzt häufig einen poetischen Text als Folie für seine Romane, bei Rätsel der Rückkehr war es Zurück ins Land der Geburt von Aimé Césaire, bei Ich bin ein japanischer Schriftsteller eine Erzählung von Bashô.

Die Funktionen der Lyrik in Laferrières Prosa sind vielfältig. Als erstes ist sicher seine Liebe zur Poesie zu nennen. Außerdem gibt er seinem mit essayistischen oder dokumentarischen Passagen durchsetzten Roman damit zusätzlich eine andere Atmosphäre, möglicherweise ist es die Rückbesinnung auf Emotionalität bis hin zum Sentiment, was er beides eher ausspart. Daneben erscheinen auch sprachliche, vor allem semantische Wechselwirkungen, wenn der Erzähler Walt Whitmans Verse aufruft, was wiederum für Doppelbödigkeit und Ironie sorgen kann.

In Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand? gibt es zwei Referenzen. Die eine stammt erneut aus Asien, es ist die Kriegskunst des Meisters Sun Tsu9, die über 2000 Jahre alt ist. Das Kompendium militärischer Strategien enthält unzählige alltägliche Situationsbeschreibungen mit Lehrsätzen, die schlicht den gesunden Menschenverstand wiedergeben, wie „Der klügste Krieger ist der, der niemals kämpfen muss.“ In ihrer Lakonie wirken sie doppelbödig und dadurch witzig. An der Aufgabe, die französischen Zitate in einer deutschen Ausgabe der Lehren von Sun Tsu zu finden, musste ich scheitern, zu unterschiedlich sind die Traditionen für solche Texte und ihre Übersetzung in Frankreich und Deutschland, auch stimmte die Zusammenstellung der Fragmente nicht überein. Ich gab klein bei und übersetzte die französischen Zitate selbst.

Ähnlich war es bei der zweiten Dichtung, auf die der Autor sich in Granate oder Granatapfel... bezieht, Walt Whitman´s Leaves of Grass. Selbst nach eingehender Suche konnte ich für die Gedichte, die unter dem Titel Our old Feuillage zusammengefasst sind, keine deutsche Übertragung finden, und übersetzte eine kurze Passage daraus (mit Freuden) selbst.

Walt Whitman war für mich eine Entdeckung, deshalb bat ich den Radiokünstler Andreas Hagelüken, für dieses Journal ein Stück zu Leaves of Grass zu komponieren10, nachdem er zu Melvilles Moby Dick ein bemerkenswertes Hörspiel geschaffen hat11 – Melville und Whitman gehören der gleichen Generation an, sie standen sich politisch nahe und schrieben ihre Bücher während und nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865, gewissermaßen als Antwort auf ihn. Walt Whitman überraschte mich durch seine inklusive Beschreibung aller Hautfarben, Geschlechter und Gesellschaftsschichten in den Vereinigten Staaten von Amerika, ich war beeindruckt von seiner Bemühung um Versöhnung und die Überbrückung einer tiefen Spaltung in der Bevölkerung. Er beruft sich dabei in seinem Werk ziemlich radikal auf die Demokratie und die gleichen Rechte aller Menschen. Eben diese Versöhnung wird heute nach der Trump-Ära so viel beschworen, es war für mich erstaunlich, dass Walt Whitman sie im 19. Jahrhundert schon einmal entworfen hatte. Aus diesem Grund bezog sich wohl auch Amanda Gorman in ihrem Text zur Amtseinführung von Joe Biden ausdrücklich, und darüber hinaus in Ton und Stil, auf diesen großen Gesang von Walt Whitman.

Dany Laferrière schreibt dazu: „Whitman hat schon alles Wichtige geschrieben.“ (S. 39)


Was hält der Autor den afroamerikanischen Aktivisten entgegen?

Ich greife das Thema der Rassenbeziehungen zwischen Schwarz und Weiß heraus, wie auch der reisende Reporter zu Beginn gegenüber seinen Auftraggebern angibt, „dass die Rassenfrage ihm nach wie vor sehr viel bedeutet“ – allerdings, so fügt er hinzu„in sexueller Hinsicht.“ (S.12)

Daneben steht die Aussage des Autors, er habe nur die Kamera „draufhalten wollen“ (ein wiederkehrendes Motiv bei Dany Laferrière), „sans affect“ – ohne Affekt. Gerade bei diesem Thema bemerkt die Leserin an vielen Stellen, dass es bei seinem Erzähler dennoch unter der Oberfläche brodelt.

Betrachten wir also zunächst die variierenden Aussagen zur Rasse und zum Rassenkonflikt im gesamten Roman.
Der Ich-Erzähler will sich nicht ständig mit der Frage der Rasse befassen, denn für sein großes Schreibprojekt braucht er die ganze Kraft und Lebensfreude – dies hält er in dem (fiktiven) Interview auch Spike Lee entgegen. Der bekannte Schwarze Filmregisseur repräsentiert eine kompromisslose Haltung der Afroamerikaner in den USA gegen die Weißen, die mit den ungleichen Machtverhältnissen in der Gegenwart und dem erlittenen Unrecht in der Vergangenheit begründet wird. (Kapitel „Die große Hoffnung der Schwarzen in Amerika“, S.227ff)

Dem Rapper Ice Cube, den der Erzähler ebenfalls interviewt, wirft er die Abschottung des Ghettos vor. Denn im Unterschied zu Ice Cube sieht der Autor Dany Laferrière das Ghetto nicht als Schutzraum:

Nun war ich im Ghetto, das sind die Viertel, wo sich Leute ähnlicher Lebenssituation zusammenfinden, um der Erniedrigung durch den rassistischen Übergriff zu entgehen. Aber wenn man unter Seinesgleichen lebt, lernt man nichts.12

An anderer Stelle notiert der Erzähler, „sollen doch die Weißen an ihrem Rassismus arbeiten, sie haben ihn erfunden.“

Am Schluss des Interviews mit Spike Lee sind sich die beiden plötzlich einig. Spike Lee wird seinen Flug nach New York verpassen -─ oder würde er wegen ihm, dem prominenten Filmregisseur, vielleicht aufgehalten werden?

„Natürlich nicht“, sagte ich, „aber ich bin sicher, wegen Warren Beatty und Robert De Niro oder jedem drittklassigen Politiker würde der Flieger warten.“

„Siehst du“, sagte Spike Lee mit einem Grinsen, „du verstehst es richtig, wenn du willst.“

Ich schenkte ihm den Ball, ganz einfach, weil das Spiel jetzt auf meinem Feld stattfand. (S.232)

Hier zeigt sich die Haltung, die der Autor einnehmen möchte: Statt „den Weißen“ auf der Grundlage erlittenen Unrechts eine generelle Anklage entgegenzuschleudern, hält er sich mit seiner Kritik an den konkreten Fall und an das Detail.

Freilich bringt der Autor seine Kritik am Rassismus dennoch an, aber er wählt die Ironie, das Staunen (auch wenn es nur rhetorisch ist), über die Doppelmoral, die Lebenslügen, die verschrobene Logik der Weißen in den Südstaaten (z.B. im Kapitel „Die Fahrt in den Süden“, S.60ff). Er verwendet die sprachlichen Mittel des Paradoxes, der Übertreibung13 und häufig die Provokation, um sein Gegenüber (und damit die Leserin) über ihre eigenen Stereotype zu verblüffen, über ihre vorgefertigten Meinungen zum Nachdenken zu bringen. Dies gelingt ihm manchmal auch, indem er die Lacher auf seine Seite zieht.

Etwa wenn er auf die eindringliche Frage eines Franzosen, wo er herkomme, die Gegenfrage stellt:

„Fehlt einer Ihrer Sklaven?“ (S.125)

Der Autor wehrt sich in Granate oder Granatapfel... gegen Verallgemeinerungen und vor allen Dingen gegen moralische Urteile und geheuchelte Emotionen - eben das, was die Ideologie der USA (und des Westens) ausmacht: eine ideale, glatte Fassade, hinter der „es stinkt“, genau wie hinter den Fassaden der Universitäten für die Weiße Mittelschicht (im Kapitel „Die schönen kleinen Universitäten“, S. 71ff) Nach seiner Auffassung, die mehrfach in diesem Roman geäußert wird, hat die Literatur die Aufgabe, solche Heuchelei und Verlogenheit aufzudecken.

Am Ende macht die Emotion alles nur komplizierter. Denn wenn man ganz einfach hinnähme, dass man ohne Bedenken sein Geld mit Rassismus verdienen darf, wäre nichts dagegen einzuwenden. Man hätte in der schlechtesten der Welten ein gutes Leben. Es geht ums Geschäft! Man würde vom Rassismus nur als einer ertragreichen Mine sprechen, die man ausbeuten kann. („Das Geschäft mit der Haut“, S.232ff)

Er will vielleicht gar nicht in einer besseren Welt leben, wenn sie nur um den Preis dieser Lügen zu haben ist.

Und:

Eines Tages sind die Schwarzen an der Reihe. Die Schwarzen werden die schlimmsten Imperialisten sein, denn sie haben zu viel gelitten. Man sollte das Schicksal des Planeten nicht in die Hände derer legen, die durch die Hölle gegangen sind.“ (S.13)

Das befürchtet der Erzähler für den Fall, dass die Schwarzen selbst einmal die Herrschaft übernähmen, wie es die afro-amerikanischen Aktivisten zum Teil herbeisehnen.

Sein Urteil über den Rassismus ist klar, eindeutig, unwiderlegbar: Es geht ums Geld.

Die Weißen haben den Rassismus eingeführt (das weiß ich sicher) und zwar wegen des Geldes. Wegen der Macht, die das Geld verleiht: die Arbeitskraft billig zu kaufen, sie zurechtzuschneiden und auszubeuten, wie man sie braucht … Das ist in den Augen der Weißen der Schwarze. [...]

Die Weißen haben sich an dieser Goldgrube bereichert, die der Rassismus für sie darstellte. Glauben Sie, dass die Schwarzen, die nach so vielen Jahren schlechter Behandlung endlich aus dem Rassismus Profit schlagen können, das Ende des Rassismus zulassen werden, ohne sich dagegen zu wehren? Nachdem sie gerade erst anfangen, davon zu leben? (Kapitel „Das Geschäft mit der Haut“, S.232ff)


Exkurs zu Stilmitteln und Motivik aus der kreolischen oralen Literatur

Ich sehe zwischen der unversöhnlichen Konfrontation in den Rassenbeziehungen, wie sie bei den Afroamerikanern in den USA vorherrscht (mit ihnen hatte übrigens auch Barack Obama zu kämpfen14), und der Auffassung von Dany Laferrière einen grundsätzlichen Unterschied. Möglicherweise ist es der Unterschied zwischen dem Kontinentalen Denken und dem, was der Kulturtheoretiker und Karibische Dichter Edouard Glissant als Archipelisches Denken bezeichnet. Deshalb füge ich diesen kleinen Exkurs ein.

In meinen Ausführungen bin ich schon mehrfach auf die kreolischen Stilmittel, die der oralen Literatur entstammen, eingegangen, ich möchte sie hier noch einmal sammeln und in ihrer Aussage würdigen. Freilich ist Dany Laferrière ein nordamerikanischer Schriftsteller in seinen Themen, in seinen literarischen Mitteln, in seinen Vorbildern und in sehr vielen Aspekten seines Schreibens. Doch er sagt auch von sich, ihm schwebe vor, so einfach zu schreiben, wie haitianische Maler auf ihren Bildern ihre Szenen darstellen. Auch einige seiner literarischen Stilmittel und Motive stammen, wie schon in diesem Journal mehrfach aufgezeigt, von seinem kreolischen Hintergrund.

Nach Glissant bedeutete das Herausgerissenwerden aus der Matrix Afrika für die afrikanischen Sklaven, die in der Neuen Welt ums Überleben kämpften, eine tiefgreifende metaphysische Verunsicherung, die bei ihnen zu einer Skepsis gegenüber allem führte, was absolute Gültigkeit behauptet. In den kreolischen Märchen wurde dies in einer Haltung ausgedrückt, die sich (gezwungenermaßen) stärker zum Anderen (etwa dem Sklavenhalter) und zur Welt in Beziehung setzt. Die Märchenfiguren Gevatter Hase, Gevatter Löwe, Gevatter Tiger versuchen das Leben mit List, Tücke und Witz zu meistern, sie sind die Tiere des Waldes, „die auf den Antillen zwar nicht vorkommen, aber auf der Welt“, wie Glissant bemerkt.

Die typischen Stilmittel des Märchens, die in die karibische Literatur eingehen, sind außerdem die Übertreibung, das Paradox, die Wiederholung und das Wortspiel, daneben Schlüsselwörter, Binnenreime, Assonanzen und Alliterationen (erst kürzlich hörte ich, dass diese im deutschen Satz eigentlich nicht erwünscht seien!). Ich habe schon verschiedentlich analysiert, wie sie bei Laferrière vorkommen und ihre Wirkung entfalten. Die Ironie erweist sich bei ihm im tiefsten Grunde als eine Infragestellung der Realität, auch in ihrer Darstellung (schreibt er nun, oder schreibt er nicht?). Daraus ergibt sich ein Schwebezustand der Erzählung, aber auch der Wahrnehmung, die schlussendlich auch die Lebensweise beeinflusst:

„Eine tastende Herangehensweise wird eingeführt, es wird immer der Fall konkret im Detail beschrieben und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Das betrachtet der Ich-Erzähler im übrigen als Freiheit – die Freiheit von Festlegungen.“  

Ich finde dieses Denken, insbesondere über das Thema Rassismus, übrigens auch bei Maryse Condé, die aus Guadeloupe stammt und deren Memoiren15 ich übersetzte. Wahrscheinlich spiegeln sich darin die unterschiedlichen Räume und Gesellschaften: In den USA, einem Kontinentalen Raum, wo sich die Bevölkerungsgruppen kaum mischen, hat dies zu einem Grabenkampf zwischen Schwarz und Weiß geführt, der geradezu metaphysisch anmutet. Auf den Antillen, einem Archipel in der Karibik, ist die Bevölkerung stark durchmischt und es gibt die Erfahrung des Zusammenlebens, und dazu das Créole als Sprache des Kompromisses und der Verständigung. Diese Erfahrung des Zusammenlebens und der Mischung, der „Kreolisierung“, wie Glissant sie bezeichnet, scheint eine menschlichere, vielleicht utopisch wirkende, aber der Zukunft zugewandten Einstellung hervorzubringen.16

Warum sammle ich alle diese Einzelheiten? Dies gehört zu meiner eingehenden Analyse des Originaltextes. Es ist entscheidend, dass gerade die politischen Dimensionen des Buches in der Übersetzung voll zur Geltung kommen. Nach Antoine Berman17 sehe ich meine ethische Aufgabe als Übersetzerin in der Achtung des Originals als künstlerisches Werk in allen seinen Facetten.

Diese Betonung der Verantwortung für ein literarisches Kunstwerk ist im übrigen mein Beitrag zur Diskussion der Frage: „Wer spricht (in der Übersetzung)?“, die derzeit in Deutschland debattiert wird.18

Um noch einmal an das eingangs eingeführte Zitat von Kristeva anzuknüpfen, der Schriftsteller und die Dichterin schreiben ihre Poesie und legen eine Sprachlust hinein, die Leserin empfindet sie beim Lesen individuell über einen undurchschaubaren Vorgang, der Unterbewusstes evoziert. Für mich nimmt die Übersetzerin hier die Rolle einer besonders intensiven Leserin ein, die später diese Erfahrung in ihrer Sprache wiedergibt.

Insofern Sprache der Kommunikation der Menschen dient, und die poetische Sprache zum Anstoßen dieser Vorgänge geeignet ist, bleibt die Gestaltung des sprachlichen Ereignisses (der Sprachlust) allen überlassen, die zu diesem intensiven Lesen und zur Wiedergabe in ihrer Sprache befähigt sind. Es ist die Offenheit der Literatur für jeden, der des Lesens kundig ist. Gerade Laferrière stellt diesen Vorzug der Literatur immer wieder heraus. In der ihr eigenen Weise kann die Literatur zu einer Entgrenzung und Befreiung des Individuums führen – unabhängig, welcher Herkunft es ist. Dieser Gedanke wirkt in unserer Zeit leider immer noch subversiv.  

In die Debatte über „Wer spricht?“ sind aber auch die verschiedenen machtvollen sozialen und ökonomischen Barrieren einzubeziehen, die den Zugang zu dieser Arbeit behindern, und die sich übrigens auch auf Form und Inhalt in der Weitergabe von Literatur und Poesie auswirken.

Hier noch ein Zitat von Antoine Berman, dessen Schriften zum Übersetzen ich unbedingt empfehle:

Das Übersetzen bedeutet „auf der Ebene der Schrift eine gewisse Beziehung zum Anderen zu eröffnen, das Eigene durch die Vermittlung des Fremden zu befruchten - und diese Absicht des Übersetzens trifft frontal auf die ethnozentrische Struktur einer jeden Kultur, in der eine Art Narzissmus bewirkt, daß jede Gesellschaft ein reines Ganzes ohne Vermischung sein möchte."19

Den jungen Schwarzen aus dem Titel erspäht die Leserin nur dreimal kurz, wie er eine der Straßen Nordamerikas entlanggeht, „mit dem wiegenden Schritt des Ghettos“. Vielleicht nehmen ihn außer dem Erzähler auch einige der Passanten wahr und fragen sich, was er vorhat, was er in der Hand hält. Dieser Roman von Laferrière fordert uns dazu auf, nicht der ersten Wahrnehmung (der Furcht) nachzugeben, vielleicht trägt er kein Messer und keine Granate sondern eine Frucht.

In der Zeit, in der ich Dany Laferrières Roman übersetzte, zwischen Februar und Juni 2021, lief in Deutschland eine breite Debatte über die nicht abgeschlossene Dekolonialisierung sowie über die Weiße Vorherrschaft und es gab noch Nachwehen von der heftigen Diskussion um Achille Mbembe, den aus Kamerun stammenden Intellektuellen, und den vermeintlichen oder tatsächlichen Antisemitismus in seinen Stellungnahmen zur Apartheid. Debatten und Diskussionen über Rassismus, die in Deutschland relativ neu sind, in den USA jedoch seit vielen Jahrzehnten geführt werden und immer wieder aufflammen. Dort haben sie nach einer Zeit der Stagnation zuletzt durch die Black Lives Matter-Bewegung eine neue Dringlichkeit gewonnen. Inzwischen sind viele Menschen unabhängig von ihrer Herkunft (dass man dies noch betonen muss, gehört zu den Problemen in der westlichen Welt) auf die Straße gegangen und haben demonstriert: „Es reicht!“ All dies hat meine Arbeit begleitet, deshalb möchte ich es in meinem Journal erwähnen und mit einem Foto begleiten – es zeigt meine Sammlung von Zeitungsausschnitten zum Thema Rassismus, obenauf ein ikonisches Foto von Rosa Parks.


Diese zweisprachige Leseprobe gibt es ebenfalls als PDF zum Download.

 

Radiostück von Andreas Hagelüken zu Walt Whitmans Leaves of Grass

Nun will ich, dass du ein kühner Schwimmer wirst. 4 Gesänge nach Leaves of grass von Walt Whitman

von Andreas Hagelüken

12:39

mit: Gerrit Walter (engl.) und Magnus, Sara, Yannick, Samantha, Serena u.a.
Synthesizer-Sample von: Dr. Thomas Loop
Gitarre: Ami Amian

Meiner wunderbaren Mutter Erika Hagelüken (1.5.1927-2.8.2020)

Produktion: randfunk 2021
Im Auftrag Beate Thill: TOLEDO-Journale
Originaltext: Walt Whitman: Leaves of Grass, deutsch von Wilhelm Schölermann, Eugen Dietrichs, Leipzig 1904

 

Fotos von Robert Walker. 1916 (Ardmore, Pennsylvania) – 1992 (Tucson, Arizona)

Chère Beate,
Tu as raison les photos sont vraiment intéressantes.
Il y a une force dans cette sobriété.
On voit l’époque, et on voit ce qui est universel.

Dany Laferrière20

Robert Walker lernte ich 1981 auf einer Reise durch die USA persönlich kennen. Schon damals war ich von seinen Arbeiten beeindruckt. Hier möchte ich meinen herzlichen Dank an Bettina Walker ausdrücken, die mit ihrem Einsatz und ihrer Großzügigkeit ermöglicht hat, dass diese Fotos gezeigt werden können.

Die Fotos von Robert Walker stammen aus seinem Nachlass, die ersten beiden im Album wurden wohl schon vor seiner Geburt, um 1910, aufgenommen. Seine eigenen Fotografien aus der Mitte des 20. Jahrhunderts scheinen aus einer verwunschenen Zeit zu uns zu kommen, als die USA in ihrem Selbstbild noch ungebrochener waren. Dany Laferrière zeigt in seinem Roman auf, woran die Risse im Traum von Amerika erkennbar werden.
Verwunschen heißt auch, die Bilder stehen wie unter einem Bann, als wäre die dargestellte Selbstverständlichkeit der Alltagsszenen vordergründig und zerbrechlich.
 

Robert Walker
1916 (Ardmore, Pennsylvania) – 1992 (Tucson, Arizona)

© Robert Walker

© Robert Walker

© Robert Walker

© Robert Walker

© Robert Walker

© Robert Walker

© Robert Walker

© Robert Walker

 

Literaturliste zum TOLEDO-Journal als PDF

 

 

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Leseprobe PDF

©privat

Beate Thill, geboren 1952 in Baden-Baden, studierte Anglistik und Geographie. Seit 1983 ist sie Literarische Übersetzerin der Sprachen Englisch und Französisch, mit dem Schwerpunkt Literatur aus »dem Süden«, v. a. aus Afrika und der Karibik. Daneben arbeitet sie als Dolmetscherin, verfasst Texte zur Übersetzungstheorie und für den Rundfunk. Sie hat den kongolesischen Lyriker Tchicaya U Tam’si, den karibischen Autor Édouard Glissant, den Tunesier Abdelwahab Meddeb und die Algerierin Assia Djebar übersetzt. 2014 erhielt sie den Internationalen Literaturpreis vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin für ihre Übersetzung des Romans Das Rätsel der Rückkehr von Dany Laferrière. Von Dany Laferrière übersetzte sie außerdem die Romane Die Kunst einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden und Ich bin ein japanischer Schriftsteller.
https://beatethill.eu/

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