Journale Joséphine Bacon, Nomadin der Tundra & Bewohnerin der Stadt

Sensible Sprache – sensible Sache

Wer beim Übersetzen ständig mit Sprache umgeht, wie wir Literaturübersetzenden, wird automatisch sensibel mit ihr sein, dachte ich lange. Die Herausforderung unserer Tätigkeit besteht ja darin, sprachliche Nuancen empathisch zu erfassen und wiederzugeben. Wir würden per se sensibel und feinfühlig formulieren. Pustekuchen! Per se passiert gar nichts. Wir müssen uns aktiv um Kenntnis zum Stand von Debatten bemühen. Also los, lieber Mainstream, tun wir’s!

Vor allem drei Sprachbereiche haben in den letzten Jahren Dynamik entwickelt, endlich, die uns Übersetzende ganz konkret bei unser täglichen Arbeit betreffen: unsere Sprache zur Beschreibung von Gender, Hautfarbe und Herkunft.

Erfahrungsgemäß sind strukturelle Ungleichbehandlung und Gewalt für ihre Zähigkeit bekannt. Missstände scheinen wie in Sprache betoniert. Inwiefern die Debatten und Bewegungen der letzten Jahre nun tatsächlich etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändern können, am sozioökonomischen Unterbau und wie schnell, steht auf einem anderen Blatt. Im Sprachgebrauch ist ein deutlicher Wandel aber Realität. Schauen wir im Detail darauf.

Hashtag Gender: Vor fünfzehn Jahren hätte ich wahrscheinlich noch ohne das leiseste Gefühl von Unangemessenheit „wir Übersetzer“ geschrieben, generisches Maskulinum, obwohl ich damals schon wusste, dass über 80% der Übersetzenden Frauen sind – falsch, als Frauen von anderen wahrgenommen und behandelt werden. Hier korrigiert mich meine Tochter. Sie hat Recht, Rollenzuschreibungen sind eine mächtige, fiese Sache. Vor drei Jahren hätte ich LiteraturübersetzerInnen geschrieben, vor zwei Jahren Literaturübersetzer*innen, seit einem Jahr bin ich mit Literaturübersetzer·innen sehr froh, erfreue mich am Neuzugang des Middle Dots auf der genderpolitischen Tastatur. Was hat die Entwicklung hin zu einer gendersensibleren Sprache so beschleunigt? Die Sprachsoziologie wird diese Frage genauer beantworten können – ja, vor 15 Jahren wären es noch die Sprachsoziologen gewesen –, aber die Dynamik der Gender-Debatte ist sicher nicht losgelöst von der #MeToo-Bewegung zu sehen, die im Oktober 2017 in der breiten Bevölkerung ankam.

Was aber bedeuten Gender-Debatte und MeToo-Bewegung konkret für unsere Arbeit beim Übersetzen? Zuallererst mal müssen wir klar unterscheiden: Bei der Gender-Debatte geht es um die Vielzahl der Geschlechter und deren möglichst diskriminierungsfreie und differenzierte Darstellung, bei der MeToo-Bewegung geht es um Sexismus.

Wie mit Sexismus in literarischen Texten umgehen? Die Übersetzung sexistischer Texte gar nicht erst annehmen. Zeigt sich der Sexismus erst nach Vertragsschluss bei der Arbeit am Text, im Kreis der Ü-Gemeinschaft und mit dem Lektorat darüber reden, sich Hilfe holen, gemeinsam über das weitere Vorgehen nachdenken, auch hier das Schweigen brechen.

Erweisen sich Texte nicht als offen sexistisch, sondern beispielsweise als subtil strukturell misogyn, halte ich es für vollkommen gerechtfertigt, dass wir eingreifen: Seit Flandern und die Niederlande Gastland auf der Buchmesse in Frankfurt waren, also seit 2016, gibt es eine kleine Gruppe von Üs, die sich sportlich darin üben, etwa bei allzu plumpen stereotypen Rollenbildern von Figuren in literarischen Texten, deren Geschlecht teilweise zu variieren und umzuverteilen. Am unaufmerksamen oder stillschweigenden Lektorat vorbei. Wo im Original der Arzt und die Pflegerin in der Nebenhandlung ihren jeweils hoch und niedrig angesehenen Aufgaben nachgehen, sind es in der Übersetzung die Ärztin und der Pfleger. Die Verkäuferin wird ein Verkäufer und der Pilot eine Pilotin. Zur Nachahmung empfohlen.

Nun zum Gendern: Wie können wir eine gendergerechte Sprache für unsere Übersetzungen finden? Hilfreich sind bei dieser Frage die Beiträge zum „Gendern in der Belletristik“ aus dem Börsenblatt-Newsletter, etwa von der Übersetzerin Maria Poets. Die Beiträge zeigen die Bandbreite der Haltungen und Möglichkeiten, die wir haben. Ganz konkret sind in Übersetzungen aus dem Englischen an vielen Stellen weibliche beziehungsweise genderoffene Formen anstelle des generischen Maskulinums zu wählen: Vorbei ist die Zeit, in der in zeitgenössischen Texten beispielsweise „the pupils“ oder „the students“ unreflektiert mit „die Schüler“ oder „die Studenten“ übersetzt werden kann. Je nach literarischer Stimme ist zu entscheiden, wie gegendert werden soll, oder – ganz bewusst – auch nicht. Richtschnur dafür kann die Frage sein, wie wohl von dieser Stimme ein deutschsprachiger Originaltext formuliert würde: mit Gender-Sternchen, Middle Dots, generischem Maskulinum, Umgehungsstrategie, Neuwortschöpfungen – so viel ist möglich.

Besonders sensibel ist bei der Übersetzung historischer Texte vorzugehen, wenn sich im Spannungsfeld zwischen historischer Authentizität und heutigen Maßstäben von Angemessenheit die Gender-Frage wieder ganz anders stellt. Bei historischen Texten spielt nochmal mehr die Textsorte und die Rahmung eine große Rolle. Gedankenpause. Lisa Eckhart spricht in punkto Gendern von einem „bunten Bastard aus Dekonstruktion und Essentialismus“ und hat kein Interesse an einem „sprachlichen System“, das uns „in ein Korsett schnürt“, in dem „jeder Angst hat, den anderen zu belästigen“. Nochmal Gedankenpause.

Hashtag Hautfarbe: Wenn die Wiener Sängerin Gustav in ihrem durch und durch provokanten Song „Rettet die Wale“ 2004 noch singt „und sagt nicht Neger und nicht Tschusch“ (im Imperativ), so lautet die Zeile 2011 bei einem Live-Auftritt „und sagt nicht N und sagt nicht Tschusch“. Von den beiden abwertenden Bezeichnungen ist eine in den dazwischenliegenden sieben Jahren unaussprechlich geworden. Die andere nicht. Die Debatte um abwertende Bezeichnungen für Menschen mit dunkler Haut währt also schon lange, die Tötung von George Floyd im Mai 2020 und der darauffolgende weltweite Aufschrei hat die Diskussion um abwertende Begriffe aber in die breite Bevölkerung gebracht und dynamisiert. Gustavs Haltung gegenüber PoCs hat sich über all die Jahre wahrscheinlich nicht verändert, die sprachlichen Gepflogenheiten aber schon. Vor einem Jahr hätte ich „PoCs“ im Onlinewörterbuch nachschauen müssen. Heute führt für viele Textsorten kein Weg an der Bezeichnung vorbei, die zumindest von einem Teil der Menschen mit dunkler Haut als Selbstbezeichnung akzeptiert ist. Im Englischen. Was bedeutet das für Übersetzungen ins Deutsche? Bislang sind Bezeichnungen wie „farbig“ und „schwarz“ geläufig, doch ist denen mit Recht vorzuhalten, dass sie die Norm als „weiß“ definieren, von der „farbig“ und „schwarz“ abweichen. Und wer bestimmt, was die Norm ist? Es kommt Bewegung in die Reihen der strukturell ungleichbehandelnden Begriffe. Wörter, denen ein Kondensat ihrer rassistischen Geschichte anhaftet, sind nur noch gut für die Tonne. Die Recyclingtonne? Wohl kaum. Bedeutungsverschiebungen haben sich auf der Skala von „wertschätzend“ über „neutral“ zu „abwertend“ allzu oft in Richtung „abwertend“ vollzogen. Einmal dort angekommen gibt es keine Aussicht auf Rehabilitation. Und das ist auch gut so, denn sie waren und sind die Vehikel für Leid und Erniedrigung. Doch nun, wie weiter? Es besteht Begriffsbedarf. Nicht dass ich glaube, das Austauschen von ein paar Begrifflichkeiten würde strukturellen Rassismus beenden können. Rassismus springt von einem alten auf ein neues Wort über, schneller als man es tippen kann. Der Bedarf besteht in einem ganz praktischen Sinn: Irgendeinen Begriff müssen wir uns doch geben, um rassismusfrei beispielsweise über die Unterrepräsentation von Menschen mit dunkler Haut in der Übersetzungsbranche debattieren zu können. Das Übernehmen des englischen „PoC“, auch das Großschreiben von Schwarz und Braun ist da ein Versuch. Ein erster. Bemühter. Gedankenpause.

Hashtag Herkunft: Sensibler Umgang mit Sprache ist auch bei den Bezeichnungen von Menschen, die kolonialisiert und ihrer kulturellen Identität beraubt wurden, eine Herausforderung für uns Übersetzende. Die Frage, wer die Berechtigung hat, über einstmals kolonialisierte Menschen zu schreiben, und dass die Betroffenen sich im besten Fall natürlich selbst zu ihren Belangen und ihrer Geschichte äußern, spielt natürlich auch in unser Vorgehen beim Übersetzen mit hinein. Was kann gegen latent oder offen diskriminierende Darstellungen in Übersetzungen helfen? Viel Recherche, möglichst viel Austausch mit den Autor·innen, möglichst keine folklorisierenden und damit herabsetzenden Begriffe. Das Wortfeld (im Dornseiffschen Sinn) der Karl May-Romane ist wenig geeignet, den heutigen Lebensrealitäten einst kolonisierter Menschen gerecht zu werden. In Texten über die Erstbevölkerung Kanadas ist heute im Englischen von den „First Nations“, im Französischen von den „Premières Nations“ die Rede. Wie lassen sich diese Begriffe übersetzen? „Nationen“ würde für die Gemeinschaften, die im einzelnen „Mi’kmaq“, „Cree“, „Mohawk“, „Naskapi“, „Innu“ usw. heißen, im Deutschen nicht funktionieren. „Gemeinschaft“ klingt vielleicht ungewohnt, ist aber einer der Begriffe, die ein Karl May-Vokabular ersetzen können, das Vehikel für Erniedrigung war und ist.

Mit den Eigennamen der Gemeinschaften lässt sich in deutschsprachigen Texten ohne Befangenheit formulieren, da sie Selbstbezeichnungen sind. Der Begriff „indigen“ hingegen, der in manchen heutigen Übersetzungen auftaucht, klingt in meinen Ohren nach ethnologischer Fachsprache und lässt den Begriff „eingeboren“ durchscheinen, dessen sprachhistorisches Gepäck ihn auf der Skala von „wertschätzend“ über „neutral“ bis „abwertend“ nach unten zieht. Oder lässt sich ein Begriff durch häufigen wertschätzenden Gebrauch auf der besagten Skala doch nach oben ziehen? Gedankenpause.

Fazit: Seien wir beim Übersetzen sensibel und dennoch frei und kreativ – und in unseren Entscheidungen so vielfältig wie die Originalstimmen!

Andreas Jandl

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